Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
03.12.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
03.12.1994

Glaubensfreiheit

Sie sitzen an den Betten in den Hospitälern, um die Ärzte daran zu hindern, ihren kranken Brüdern und Schwestern Blut zu transfundieren. Denn das widerspricht ihren religiösen Überzeugungen. Eine lebensrettende Bluttransfusion zu unterlassen, widerspricht den Geboten der ärztlichen Pflicht. Was tun?
Das Verwaltungsgericht Berlin stellt förmlich einen Rechtsanspruch der Zeugen Jehovas auf Gleichstellung mit anderen Kirchen in Deutschland fest; eine probate Strategie, jede beliebige Meinung in den Rang eines geschützten Glaubensgutes zu erheben.
Wenn das so weiter geht, und es wird so weiter gehen, wird bei uns demnächst auch die Überzeugung sanktioniert, die Welt sei vor 3500 Jahren von Gott geschaffen, und jede anders lautende Auskunft eines Geografielehrers stelle eine strafrechtlich relevante Verhöhnung religiöser Überzeugungen dar.
Es gibt schätzungsweise drei Dutzend Glaubensgemeinschaften in der Welt, deren Mitglieder in der Bundesrepublik die Gleichstellung mit hiesigen Kirchen formalrechtlich erzwingen könnten - darunter auch einige besonders erfolgreiche, weil sie wie Wirtschaftsunternehmen geführt werden.
Sie als Kirchen anzuerkennen, brächte ihnen den erheblichen Wettbewerbsvorteil, keine Steuern zahlen zu müssen. Eine schöne Aussicht, denn der Handel mit Glaubensgewißheiten gehört zur boomenden Branche der Sicherheitstechnik. Wäre das nicht die Lösung, Kirchen nur noch als Unternehmen zu betrachten und den Glauben als Wirtschaftsgut - was in Teilbereichen wie der Werbung selbstverständlich ist?
Nun versuchen ja auch Wirtschaftsunternehmen, Einfluß auf Gesetzgebung und Regierung geltend zu machen, auf Forschung und Ausbildung. Aber ihnen gegenüber gibt es Instrumentarien der Kontrolle, die sich recht und schlecht bewährt haben. Gegenüber Kirchen als Repräsentanten religiöser Überzeugungen solche Kontrolle auszuüben, fällt bei der gegebenen Rechtslage außerordentlich schwer.
Jeder Versuch führt sogleich zur radikalen Konfrontation, die mit Rechtsgüterabwägungen im Einzelfalle nicht mehr zu schlichten ist, denn die Zahl dieser Einzelfälle wird mit der Anerkennung weiterer drei Dutzend Kirchen derart zunehmen, daß die gerichtliche Klärung auf den doom's day verschoben werden müßte. Bis dahin spielte jede Glaubensgemeinschaft Richter in eigener Sache. Im Namen rechtsstaatlicher Garantie der Glaubensfreiheit würde durch deren Institutionalisierung als Kirchen der Rechtsstaat erledigt.
Der Glaube versetzt Berge, allemal aber den papiernen Rechtsstaat. Vergessen wurde - und damit rechnen die Kirchen, die sich auf ihn scheinheilig berufen -, daß der Rechtsstaat mühsam errungen wurde, um die Bürger vor den Machtkämpfen dogmatisierter Überzeugungen zu schützen. Hat sich der Rechtsstaat durch den Einfluß der Parteien und Kirchen bereits so weit desavouiert, daß die Bürger sich von seinen Feinden wirksamen Schutz versprechen? Eine trügerische Hoffnung, die liberalistische Blindgänger erfahrungsgemäß erst durchschauen, wenn es zu spät ist. Aber dann starten sie eine Spendenkampagne für die Opfer ihrer eigenen Bedenkenlosigkeit und sind entlastet.