Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
29.10.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
29.10.1994

Dennoch

Es mehren sich von Tag zu Tag jene Meldungen, die den Volksmund als philosophischen Goldmund erscheinen lassen. Was sagt er? "Hat es auch Methode, so ist es doch Wahnsinn." Mit den methodischen Argumenten zur Arbeitsplatzsicherung kann man zwar begründen, warum Garzweiler II, die gigantische Ausweitung der Braunkohlegewinnung im Tagebau Nordrhein-Westfalens, genehmigt werden muß; dennoch bleibt es Wahnsinn, ganze Landstriche mit Siedlungen und Verkehrswegen zu verwüsten, um deren ökologische Rekultivierung als Beweis fortschrittlicher Wirtschaftspolitik abzufeiern.
Die Methode der Friedensstiftung, der die UN in Bosnien folgt, muß man schon deshalb akzeptieren, weil es keine bessere gibt; dennoch scheint es wahnsinnig zu sein, den bosnischen Serben die Hälfte aller Versorgungsgüter für die Erlaubnis zu überlassen, die andere Hälfte ihren Kriegsgegnern zuführen zu dürfen, damit die jene Angriffe überstehen, für die die Serben den ihnen abgetretenen Teil der Versorgungsgüter dringend brauchen.
Methodisch zwingend ist der Beschluß des israelischen Kabinetts, 19 000 Gastarbeiter aus Asien ins Land zu holen, wenn man die Arbeiter aus dem Gazastreifen und den autonomen Gebieten des Westjordanlands wegen Sicherheitsbedenken aussperren muß; dennoch wirkt es ziemlich wahnhaft zu glauben, mit diesem Vorgehen die wirtschaftliche Basis der Palästinenser zu stärken, denn auf dieser wirtschaftlichen Stabilisierung beruht ja die Hoffnung, den Friedensprozeß erfolgreich fortführen zu können.
Was kennzeichnet eigentlich, auch volksmundlich-umgangssprachlich, solche Wahnhaftigkeit? Sicherlich die Tatsache, daß Logik und Methodik eines, die Vernunft aber ein ganz anderes ist.
Ist es auch Wahnsinn, so ist es nicht weniger wirklich, denn was Menschen für wirklich halten, wird wirklich durch die Konsequenzen, die die Wirklichkeitsannahme nach sich zieht. Und um diese Konsequenzen schert sich die Logik nicht, und die Vernunft drückt sich um sie herum. Zwar hat die FDP mit bisherigen Konzepten vollständig abgewirtschaftet, aber, so hört man, "in einer Stimmung des Dennoch" sollen diese Konzepte zur Basis der Koalitionsverhandlungen gemacht werden.
Zwar sind unsere Visionen von Sozialismus und Multikultur, von heterogener Nationalstaatlichkeit oder vom vereinten Europa der 25 gleichberechtigten Mitglieder nicht einmal logisch überzeugend - zwar ist unbestreitbar, so Peter Glotz, daß ein europäischer Bundesstaat, der über 500 Millionen Menschen und über 25 Staatssprachen verfügen würde, eine unrealistische Utopie ist, aber die FDP, der gute Peter Glotz und wir alle glauben, unserer humanistischen Vision nur verpflichtet bleiben zu können, wenn wir den Einsprüchen der erfahrungsgestützten Vernunft ein bekenntnishaftes Dennoch entgegenhalten; Dennoch-Künstler, Dennoch-Kommunist/Sozialist; oder jetzt erst recht Multikulti (so Bruder Leggewie); jetzt erst recht Deutscher, bibelfrommer Christ oder Kettenraucher.
Es scheint, daß uns nur dieses Dennoch vereint, egal ob wir zu spekulieren lernten mit Schopenhauers Trotzköpfchen oder Else Urys Die Welt als Wille und Vorstellung. Oder mit Charles Darwin: 99 Prozent Affe, dennoch ganz Mensch.
Indem dieses Dennoch in Liebe, Glaube, Hoffnung alle Erfahrung überbieten will, sabotiert es die Vernunft. Aber auch das faßt die Volksweisheit klarer und bestimmter als die methodisch ausgewiesenen Denker: Hoffen und Harren hält manchen zum Narren.