Fernsehbeitrag Von Salatköpfen und Neutönern

Avantgarde-Kunst der 60er Jahre

Von Salatköpfen und Neutönern. WDR-Fernsehbeitrag 1986
Von Salatköpfen und Neutönern. WDR-Fernsehbeitrag 1986

Fernsehproduktion mit Mary Bauermeister, Bazon Brock, John Cage, Arthus C. Caspari, Vinko Globukar, Hans G Helms, Jörg Immendorff, Allan Kaprow, Nam June Paik, William Pearson, Tomas Schmit, Wolf Vostell u.a.
Gestaltung: Arthus C. Caspari, Idee und Mitarbeit: Walter Smerling, Knut Fischer, Bühnenbild: Daniel Spoerri, Länge: 122 min

WDR Fernsehen, 1986

Die unten angeführten drei transkribierten Passagen sind abgedruckt in: Hans G Helms: Vokale Strukturen. Hrsg. von Peter Weibel. Ein Projekt des ZKM. Köln: Verlag der Buchhandlung Franz und Walther König, 2024, S. 190-193

Erschienen
01.01.1986

Station
WDR

Length
122 min

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

Transkription von drei Passagen

BAZON BROCK: Also, wenn wir jetzt mal die zwei Dinge zusammen-fassen: Das, was in den 1960er-Jahren für Leute wie uns entschei-dend war, fand eigentlich zwischen 1957 und 1963 statt, ist also nur die ersten drei Jahre der 60er-Jahre: Ob nun die Musik betreffend, die Malerei betreffend, die Happenings betreffend, was immer. Das Zweite ist: Der amerikanische Kulturimperialismus war damals jedenfalls nicht am Werke und hat auch nicht als Kraft oder Gegenkraft gewirkt. So, Alan, als eine Art Zusammenfassung von heute aus betrachtet rückwärts gerichtet: Was ist der wichtigste Aspekt für Dich an diesem Zeitraum von 1957/58 bis 1963/64?

ALLAN KAPROW*: The question for me was and is: What can I learn from this freedom that we had? Just as examples, we had permission to do body art, we had permission to do mathematical playing, we had permission to do media art, we had permission to do installations, we had permission to go into the streets. It was an astonishing range of permissions to explore experiences, which had not been permitted except through translation in the arts before that time and which are no longer attractive. They are permissions which lie here for us. The question again is: What can I learn from this?
Now my answer would be probably different from other people's but it is: What can I learn as a human being? How to live wisely? ... is of sentimental terms but they are very difficult in practice. To have the freedom to explore my body. I remember, I did Tomas' Cycle piece many times with my students to explore the tedium of organized duration, to find out, what this kind of attention does to me and how much I struggle against paying attention.

[*Kaprows Beitrag wurde deutsch untertitelt: »Für mich ist das Entscheidende damals wie heute: Was kann ich aus der Freiheit, die wir hatten, lernen? Es war uns erlaubt, Körperkunst zu machen, mit Mathematischem zu spielen, Kunst mit den Kommunikationsmedien zu veranstalten, Installationen einzurichten, auf die Straßen zu gehen. Auf einer erstaunlichen Bandbreite ließ man uns Erfahrungen explorieren, die zuvor nur als Übersetzungen in Kunst erlaubt waren. Diese vor uns liegenden Freiräume sind nicht mehr attraktiv. Die Frage ist: Was kann ich daraus lernen? Meine Antwort mag sich von der anderer unterscheiden. Als Mensch kann ich lernen, weise zu leben. Das klingt sentimental, ist in der Praxis aber schwierig: Die Freiheit zu haben, meinen Körper zu erkunden. Mit den Studenten habe ich öfter Tomas' Zyklus-Stück gespielt, um die Langeweile organisierter Dauern zu ergründen, um herauszufinden, wie ich mich gegen Aufmerksamkeit wehre, wie sehr ich's vorziehe, mich ablenken zu lassen.«]

BROCK: Mary, könntest Du auch von Deiner Seite aus so eine Art von Gewichtung dieser Zeit von heute aus geben?

MARY BAUERMEISTER: Da müsste ich eigentlich mit Immendorf gleichstimmen. Dass man nicht so tut, als ob, sondern dass man immer im kreativen Prozess ehrlich ist und bleibt. Und da habe ich selber die Gefahren erlebt. Ich habe in Amerika dann lange gelebt.
Dieses Sich-selber-auf-den-Leim-Gehen sozusagen oder Sich-Wiederholen oder Dinge tun, weil sie noch nicht verstanden werden, obwohl sie eigentlich ja gar nicht verständlich sind. Und all diese Prozesse zu beobachten und dann Abstand zu nehmen. Ich habe das immer wieder in meinem Leben, ich habe immer wieder ganz bewusst gebrochen und Abstand genommen, weil ich merkte, ich komme in einen Sog hinein, der nicht von mir innen bestimmt ist, auch nicht von meiner inneren Intuition, sondern ich werde von außen bestimmt – von Galerien oder dem ganzen Betrieb oder von dem, was man von mir erwartet oder was man nicht erwartet. Ich habe immer wieder gemerkt, ich bin mir nicht mehr verfügbar und bin dann gegangen und habe eine andere Periode in meinem Leben angefangen. Ich habe also keine Ressentiments, mich stört es überhaupt nicht, dass ich nicht im Museum Ludwig hänge. Ich habe auch überhaupt kein Bedauern über irgend etwas, was mir vielleicht zustände. Ich finde es manchmal seltsam, wenn man 25 Jahre aus der Vergangenheit, so wie ein Stück Kunstgeschichte betrachtet wird – und man wird ja heute manchmal wie so 'ne alte Oma befragt – und ich merke das gar nicht. Ich bin doch heute ... ich tue doch heute was, und merke aber, dass eigentlich die Sachen, die ich früher gemacht habe, immer verstanden werden, doch was ich heute mache, nie verstanden wird. Damit habe ich mich längst abgefunden und ich mache weiter. Ich mache heute zum Beispiel Gärten.
Was ich früher mit Bildhauerei oder Malerei gemacht habe, mache ich heute im Garten mit Blumen, mit Kristallen, mit Prismen, mit Regenbögen. Mache wunderschöne Meditationsoasen, wo viele Menschen d'ran teilnehmen können. Ob das Kunst ist oder nicht, interessiert mich überhaupt nicht. Mein künstlerisches Tun und das, was ich kann, kann ich da einbringen. Ich habe zwischen zehn Jahre Meditation und Esoterik getrieben, Ackerbau und Viehzucht, Kompost gemacht und Kinder gekriegt und alles das ist in meinem Lebensablauf stimmig.

BROCK: Das ist eine dritte wesentliche Position der 60er-Jahre zu sagen: »ob etwas Kunst ist oder nicht, interessiert mich nicht«.

BAUERMEISTER: Es interessiert mich nicht. Es muss innen stimmen und es muss im inneren Auftrag gemäß sein und ich mache immer noch was und es erfreuen sich viele Menschen daran und ich mache immer noch keinen Kompromiss.

BROCK: Hans, kannst Du uns noch zu einem anderen Aspekt der Wertigkeit dieser Zeit verhelfen?

HANS G HELMS: Tja, das ist gar nicht so einfach. Also, wenn man die damalige Zeit mit der heutigen vergleicht, ist ja das Auffälligste, dass man eigentlich alles, was Künstler heute machen können oder wollen oder tatsächlich machen, viel leichter mit der Mikroelektronik erzeugen kann. Es gibt keinen Künstler, den man nicht auf dem Graphikterminal imitieren könnte, und wahrscheinlich verbessern.
Wenn es nur um die technischen, optischen, visuellen Dinge geht oder auch um die akustischen in der Musik geht, da sind die Massenmedien, also die Mikroelektronik und alles, was von den Chips her geleistet wird, natürlich so unendlich überlegen.

BROCK: Entschuldige, in welcher Hinsicht überlegen?

HELMS: Natürlich in technischer Hinsicht sind diese Medien überlegen.

BROCK: Die können schneller 2 mal 2 als wir rechnen, ok, gut.

HELMS: Wenn man sich ansieht, wie zum Beispiel in Amerika heute Hochhäuser entworfen werden.

BAUERMEISTER: Die Architektur, die Perspektiven, die werden heute vom Computer gemacht.

HELMS: Da hat irgendein berühmter Architekt für Times Square in New York eine bestimmte Bebauung entworfen, die gefiel dem Publikum nicht. Am nächsten Tag war sie ganz anders – beim gleichen Volumen und bei einer richtig berechneten Statik. Das geht natürlich nur mit diesen Geräten. Nun, hat das noch etwas mit Kunst zu tun? Ich glaube nicht. Wenn man sich dann also überlegt, was sollten Künstler tun? – dann, meine ich, liegt es auf der Hand, dass sie vor allem darauf zurückkommen müssten, das zu tun, was in der Kunst eigentlich immer gemacht worden ist, nämlich Zusammenhänge zu stiften.
BROCK: Und was war der Zusammenhang, den die 60er-Jahre gestiftet haben?

HELMS: Ich glaube, damals sind wirklich sehr relevante Zusammenhänge gestiftet worden. Egal, ob das in der Musik eine Chance-Operation war, die für den Zusammenhang verantwortlich war, also Cage, oder ob das eine serielle Komposition war wie bei Boulez mit dem Verbot der Oktave. Diese technischen Aspekte sind, glaube ich, gar nicht so relevant. Die sollten wir vergessen. Wir sollten uns wirklich die Kunst der damaligen Zeit daraufhin ansehen, was sie wirklich an Zusammenhängen gestiftet hat, und sie hat enorme Zusammenhänge gestiftet und damit Einblicke vermittelt.
Brock: Tomas, kannst du auch einen Aspekt hinzufügen? Wenn nicht, gehen wir zu einem anderen Thema über.

TOMAS SCHMIT: Mehrere wenn's geht.

BROCK: Was ist Dir das Wichtigste von Dir aus gesehen? Du, der heute noch am Schreibtisch sitzt und arbeitet jeden Tag?

SCHMIT: Wir haben wenig über wichtige Dinge geredet. Für das Wichtigste in den 60er-Jahren halte ich selber eigentlich drei Dinge:
Paiks Exposition of Music damals in Wuppertal und mindestens eines der Fluxus-Festivals. Ich würde da das Düsseldorfer nehmen [Fluxus 4, Februar 19631, das Kopenhagener war vielleicht ähnlich gut, da war ich nur noch nicht dabei. Und die Herausgabe des Manuskripts von Addie Køpcke, was sehr unbekannt ist, aber wo sehr, sehr fulminante Dinge drin sind. Das sind nur drei Punkte, aber eine Sache, Allan: [Folgender Satz im Original in Englisch] Ich stimme komplett mit Dir darin überein, was die Freiheit der 60er betrifft. Das ist zwar ein dummer Kalauer, aber die Freiheit lag ja gerade, ich will nicht sagen am Widerstand, aber eben doch auch am Gegenwind, der herrschte. Ich meine, heute herrschen allerlei flaue, laue oder auch heftige Winde, aber du kannst heute alles machen. Jeder Storch weiß, dass man in den Gegenwind startet, und wenn er es mit dem Wind macht, wird es gar nichts. Das weiß auch ein Flugkapitän. Das, glaube ich, war die Situation in den 60ern.

BROCK: Woher kommt aber dieser Satz oder dieses Denken, heute könne man alles machen? Ich kann beispielsweise mit dem Fernsehen fast gar nichts mehr machen. [...]

BAUERMEISTER: Den Faden habe ich dann zusammengebracht, dass ich sagte: So, jetzt müssen wir die Musiker mit den bildenden Künstlern zusammenbringen. Der Topf fand dann bei mir statt und dann waren die bildenden Künstler auch daran gewöhnt, zusammenzuarbeiten – weil wir merkten, wir arbeiten eigentlich auch besser zusammen. Und dann kam Paik mit den ganzen Happenings.
Es war das Hauptjahr für Paik, bis wir dann alle nach Amerika zogen.

BROCK: Warum von Köln weg nach Amerika? Viele sind ja dann doch hiergeblieben.

BAUERMEISTER: Ja, das war in meinem Falle eine ganz persönliche Sache. Paik, dem habe ich eine Galerie drüben besorgt. Der ist einfach nachgekommen. Wir waren sehr befreundet. Piene hat, glaube ich, einen Ruf nach Massachusetts bekommen. Dann ergab sich das irgendwie so. Dann zogen die Amerikaner drüben los und dann konnte man drüben auch leben. Wir gingen arm rüber. Wir gingen nicht rüber, weil wir drüben Geld verdienen konnten, sondern weil wir drüben Kollegen hatten, die Ähnliches machten. Dann lernte ich Allan Kaprow kennen, durch Cage die ganze Avantgarde der Malerei drüben, und dann waren wir natürlich alle da, weil wir da plötzlich wieder ein Pflaster fanden, wo es weiterging. Und dann wieder zurück. Im Grunde pendelte das dann. Die Türen waren einmal aufgemacht und auch zwischen den Künsten waren die Türen offen. Die Konzerte, die wir bei uns gemacht hatten, das waren alles intermediale Sachen. Dann las er, während ein anderer spielte, dann sägte der Paik am Klavier. Es war eben nicht Sägen, Chaos machen, sondern es war ein Bewusstseinserweiterungsprozess. Hier ist es ein ästhetischer Prozess, bei dem man sich an den Bewusstseinsprozess erinnert. Wir erinnern uns an Armand, wir erinnern uns an das, was Spoerri gemacht hat, also bedeutet uns das etwas. Aber damals entstand es und brach das Bewusstsein im Moment, wo es geschah.
Wann hört ein Konzert auf, was ist überhaupt eine Zeit, was ist überhaupt ein Stück Musik. Wenn Paik in die Glasscheibe haut und sich verletzt und dann rausgeht und das Publikum weiß nicht, hat er sich jetzt verletzt und was ist los? Dann geht er und telefoniert – das Konzert ist jetzt vorbei. Das heißt, plötzlich wird uns bewusst, was ist das Ende eines Konzertes. Das sind alles Dinge, die wir dann besprachen. Das waren eigentlich nie Dinge, die so fertig schon in unserem Bewusstsein waren, sondern es waren immer Prozesse, die ein Bewusstsein erweiterten. Es ging uns auch nicht darum, neue Objekte zu machen, sondern neue Bewusstseinseinstellungen zu provozieren, etwas Neues zu machen. Man hat ja schon alles ausprobiert. Es war ja nun wirklich nichts Neues mehr zu machen.