Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
10.09.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
10.09.1994

Freundschaft

Wer ihn nicht gewählt habe, würde das bald bedauern, erklärte Bundespräsident Herzog nach seiner Wahl. Bereits jetzt ist es soweit, denn er spricht und argumentiert wie sein verehrter Vorgänger und wie alle, die vormals glaubten, ihn nicht wählen zu können, weil er nicht spreche wie sie. Und wie spricht Jedermann, der sich für kritisch, kämpferisch und aufgeklärt hält, ganz im Unterschied zu jenen, die feige, ignorant und anpasserisch nachplappern, was allgemein gilt? Dieser Jedermann glaubt, die Weimarer Republik sei zugrunde gegangen, weil die Justiz die Extremisten, vor allem die von rechts, nicht radikal genug bekämpft habe. Wenn ich mich an historische Quellen richtig erinnere, sind gegen Nationalsozialisten in den Jahren 1923 bis 1933 mindestens 40000 Prozesse geführt worden mit mindestens 18000 Jahren Gefängnisstrafen und 1,3 Millionen Reichsmark Strafgeldern - eine damals doch erhebliche Summe. Belegen diese Tatsachen, daß Staatsanwälte und Richter der Weimarer Republik ihre Pflichten sträflich vernachlässigt hätten, weil sie auf dem rechten Auge blind waren? Wer das immer noch als Argument ins Feld führt mit der Schlußfolgerung, wir müßten unsere Bonner Republik durch unnachsichtige gerichtliche Verfolgung vor Leuten schützen, die wir für Verfassungsfeinde halten, ist auf allen drei Augen blind.
Nein, die Bonner Republik wird um so stärker gefährdet, je mehr wir den Gerichten aufnötigen, uns politische und soziale Fragen vom Halse zu halten. Denn es ist unübersehbar, daß alle diejenigen nach den Richtern rufen, die auf die ihnen gestellten Fragen keine Antworten wissen und das nicht eingestehen wollen, weil sie sonst ihre Machtpositionen gefährdeten.
Die von Bundespräsident Herzog auf die Szene gerufenen mutigen Bürger wären gerade diejenigen, die sich mit dem Mauschelkonsens, mit der Widersprüchlichkeit programmatisch vorgetragener Problemlösungen, mit den Zwecken, die die Mittel heiligen, nicht begnügen wollten. Ihnen per Gericht den Mund und den Beruf verbieten zu lassen, schwächt die Demokratie, anstatt sie zu stärken. Was hat es den Weimarianern genützt, Hitler sogar für alle deutschen Länder Rede- und Auftrittsverbot zu erteilen? Es wird auch uns nichts nützen, die Radikalen aller Couleur gerichtlich kassieren zu lassen, denn wenn ihnen Bürger auf den Leim gehen sollten, anstatt sich unseren Rezepten dankbar zu unterwerfen, dann tun sie es, weil sie insgeheim überzeugt sind, daß wir nur noch leeres Stroh dreschen und uns hinter Richtern verkriechen.
Leider bieten die jetzigen Appelle, unsere Demokratie mutig zu verteidigen, kaum mehr als die Aufforderung, unliebsame Fragen nicht zur Kenntnis zu nehmen und die penetranten radikalen Frager, einzelne wie Gruppen, als Feinde der Verfassung, des Staates und der Gesellschaft nach Sibirien zu schicken wie Giftmüll. Ob solche Inländerfeindschaft legitimer ist als die Ausländerfeindschaft? Ist immer noch mein Feind, wer nicht mein Freund sein will? Achten wir darauf, daß wir uns nicht selbst zum Feinde werden, weil wir vergessen, daß Freund nur ist, vor dem man laut denken darf, was ihm nicht paßt.