Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
20.08.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
20.08.1994

Christlich verreisen

Darwin machte eine große Tour - drei Jahre herumgondeln mit Segelboot über alle Meere - und entdeckte die Evolution des Lebens durch Auswahl unter Kuriositäten. Wer heute eine Tour macht - und sei es für drei Tage Wochenend’ - entdeckt die Touristen als Mutation der Menschheit, die von der Ferienindustrie ausgewählt wurde, weil so die Wachstumschancen des Kapitals erhöht werden: eine Evolution des Todes.
Darwins Beweis: mit Stäbchen essende Finken. Heutiger Beweis: mit Händen stopfende Schmutzfinken. Sie schaufeln die Wurstbudenprodukte in sich hinein, als gelte es, gefährliche Löcher im Boden zu stopfen. Sie amüsieren sich panisch, als lebten sie nur noch wenige Tage, in denen sie sich zum alles niederwalzenden Entfaltungsdrang ihrer Bewegung bekennen müssen.
Mitten wir im Ferienleben, sind von Touristen wir umfangen. Damit gewinnt Luthers alte These neue Anschaulichkeit. Er sah den Menschen als Todesgestalt; damals hießen deren Feten noch Totentänze, und die lindwurmartigen Züge durch Fußgängerzonen, Museen, Landschaften und historische Gefilde nannte man Prozessionen von Geißelbrüdern. Deren Schritte erfüllten die Gassen mit frommer Mahnung, die ewige Verdammnis zu fürchten.
Heute dröhnen Lärmschwaden, genannt Musik, durch Flugzeuge, Hotelhallen, Restaurants, Spielplätze, ja sogar Arztpraxen mit dem dreisten Befehl, wem das nicht passe, der könne ja gleich abtreten. Wer protestiert, vergeht sich gegen die political correctness des postmodernen Imperativs: Zerstörung ist unser Geschäft, denn nur am Ende sind alle Menschen tatsächlich gleich.
Auch schöner Trug. Aller Tod ist eitel Touristenveranstaltung in Ferienparadiesen, in Jugoslawien, Kaschmir, Sri Lanka, Haiti, Ruanda - die märchenhaften Strände, der herrliche See, die majestätischen Berge feiern wir massenhaft ab, bis es sie nicht mehr gibt. Denn alles was ist, ist höchstens wert, daß es zugrunde geht. Immerhin mit Musik und im Pauschalpreis inbegriffen, damit wenigstens die Abrechnung leichtfällt.
So weit, so unabänderlich - eben Evolution! Was ist die Frage? Wie man zu dieser Weltgestalt, der touristischen Menschheit, dennoch ja sagen kann ohne alle Vorbehalte, Hintergedanken und dialektischen Verrenkungen. Waren nicht einst die schönsten Tage des Jahres Vorschein des Paradieses, frei von Fron und Sorge des Überlebens; eine Zeit der Einübung in die Zustimmungslehre: Ja, wir leben, wir dürfen leben und können es?
Doch, doch; aber gerade in den verwüstenden Heerzügen der Touristen spürt man einen letzten Triumph des alten Abendlandes: Die Kunst zu leben ist die langsame Gewöhnung an die Notwendigkeit, ohne Bedauern abzutreten. Christliche Heerscharen letztendlich, diese Touristen.
Wer heute verreist, kommt ihnen schon ganz nahe.