Buch Christoph Grau. Spaziergang mit Steinstock

Passagen in Kunst und Unterricht

Christoph Grau. Spaziergang mit Steinstock. Passagen in Kunst und Unterricht, Bild: Hamburg 2022.
Christoph Grau. Spaziergang mit Steinstock. Passagen in Kunst und Unterricht, Bild: Hamburg 2022.

Der Künstler Christoph Grau, dessen Lebenswerk in dieser Anthologie entfaltet wird, verstand seine Realisationen als Autor, Betreiber einer Agentur für zeitgenössische Kunst, als freier Kurator, Sammlungsberater und Pädagoge als: »Vermittlungs-Werke«.
Seine künstlerische Haltung, die sich im Horizont der Paradigmenwechsel in Kunst und Gesellschaft der 60er und 70er Jahre konstituierte, erneuerte sich fortwährend im schöpferischen »Werden« seiner Projekte. Denn es ging ihm um weit mehr als um die Entwicklung eines Künstler_innensubjekts oder künstlerischer Prozesse; was ihn beschäftigte, war die Unabschließbarkeit der sogenannten Werke selbst, die Intensivierung universeller
Figuren, die Konzeption von Subsystemen, die Unterwanderung von Konstanten – eine Anarchie, die im System der Kunst und dem der Lehre wirksam werden sollte.

Inhalt
Mia Grau, Die Poesie im Banalen
Laszlo Glozer, Kaktus im Bus. Mutmaßungen über die Grau-Zone
Ursula Panhans-Bühler, Nekropole Norchia, und – Schnitt auf Pfannkuchen
Achim Hoops, Norchia
Veronika Schöne, Neun Möglichkeiten, eine Mandarine zu pellen
Roberto Ohrt, Laminator in medias res
Harald Falckenberg, Christoph Grau. Pfad der Tugend
Nora Sdun, Christoph Grau, Galerist
Bazon Brock, Bekennen heißt Veröffentlichen. Was bekennt der Lehrer?
Andreas Wigand, Christoph Grau und die Zeltschule
Interview mit Andreas Wigand
Nicola Torke, Das Drehmoment der Tür zwischen zwei Rahmen. Die Schulen des Christoph Grau
Daniel Wolff, Bruch des Bruchs – Quelle von Bildung
Schulprojekt Tela
Schulprojekt Fu Rin Maru

Erschienen
01.01.2022

Herausgeber
Grau, Anna Lena | Torke, Nicola

Verlag
TEXTEM

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

ISBN
978-3-86485-282-4

Umfang
294 Seiten

Seite 149-155 im Original

Bekennen heißt Veröffentlichen

Was bekennt der Lehrer?

Graue Theorie?

Christoph Grau gehörte zu der großen Gruppe der sprechenden Künstler oder gar der Raffaels ohne Hände. Von Alberti über Lessing bis Duchamp, von Luther bis in die Postmoderne, von der aristotelischen Werkdramaturgie bis zur Konzeptkunst interessierte ihn die Frage, in welchem Zusammenhang das Entstehen eines Werkes mit dessen Begründung und Wirkung steht. Unbelehrbar gilt immer noch: „Male, Künstler, rede nicht!“, der Empörungsschrei der Kleinbürger vor Kunstwerken. Mit diesem pseudoweisheitlichen Pathos sichern sie sich ihre Hoheit über die Werke. Sie wollen nichts lernen, sie wollen nichts wissen jenseits ihrer Selbstbestätigung. Sie wollen triumphieren mit der Behauptung, dass alles Geschmackssache sei; das heißt für sie, nichts anerkennen zu müssen, was sie nicht ohnehin schon für verbindlich halten.

Zwar ist richtig, dass alles Sache des Geschmacks ist – vorausgesetzt, man hat einen –, wer aber Geschmack hat, also eine Reihe von Unterscheidungskriterien kennt, anerkennt damit, dass Geschmack immer nur eine Frage der Unterscheidungsfähigkeit ist. Rassehundezüchter, Kleidermacher, Köche wie alle anderen tätig Urteilenden besitzen und benutzen zwar unterschiedliche Kriterien für das Unterscheiden, aber das Verfahren, ihre Geschmacksurteile zu fällen, ist immer das gleiche.

Die Behauptung, alles Urteil sei Geschmackssache, sagt damit das Gegenteil der allgemein angenommenen Bedeutung aus: Es kommt bei Geschmacksurteilen darauf an, das Set der Kriterien der Unterscheidung zu nennen und zu bekennen. Geschmacksurteile sind gerade nicht dem Belieben oder der Willkür des Meinens überlassen. Erziehung, Ausbildung und Bildung haben ein gemeinsames Ziel, nämlich Kriterien des Unterscheidens und damit der Bedeutung der unterschiedenen Dinge, Sachverhalte oder Aussagen zur Verfügung zu stellen; denn für Menschen entsteht die Bedeutung der Dinge in und durch ihre Fähigkeit, die Dinge zu unterscheiden, selbst wenn sie einander sehr ähnlich zu sein scheinen. Höhepunkt der Bildung ist schließlich die Fähigkeit, im vermeintlich Ununterscheidbaren doch zu unterscheiden. Für das Metier, das Christoph Grau – wie ich – vertritt, heißt das zum Beispiel, noch in der künstlerischen Präsentation von weißmonochromen Bildwerken zu differenzieren: das Weiß der Galeriewand, auf der das Bild hängt, das Weiß der Rahmungspartien, das Weiß des Passepartouts, das Weiß des bearbeiteten Papiers und das Weiß, das etwa der Künstler Ryman auf das Papier aufgetragen hat. (Na, nun sagen Sie mal was! Sie sehen, wo Sie nix sehen, Donnerwetter!) Die Bedeutung steckt eben nicht in den Dingen wie der Keks in der Schachtel, sondern muss jederzeit als aktuelle Unterscheidungsleistung gewonnen werden. Höhepunkt dieser Herausforderung ist eben die Unterscheidung im vermeintlich Ununterscheidbaren (nichts als Weiß), weswegen monochrome Malerei nur von außerordentlich befähigten Sehern geschätzt werden kann.

Auch die ebenso haltlose Abwehrgeste, gerade moderne Kunst konfrontiere den Betrachter mit dem Unvorstellbaren, Undarstellbaren, ja Undenkbaren, überdeckt die Tatsache, dass das Undarstellbare ja eben als undarstellbar dargestellt werden muss, sonst hat man nichts dargestellt. Analog muss das Unvorstellbare als Unvorstellbares vorgestellt werden, sonst hat man keine Vorstellung vom Unvorstellbaren. Und das Undenkbare muss als das gedacht werden, was undenkbar ist, sonst hat man nichts gedacht. Im übrigen sind das etwa in den Religionswissenschaften so gut wie in der Kunstphilosophie mit dem Begriff „apophatisch“ belegte Positionen, denn Apophasie hieß immer schon das Sagen des Unsagbaren.

Erinnern wir uns an die Stufenfolge der erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten bei Handwerksmeistern, vornehmlich in den Zeiten der Zunftordnungen. Lehrlinge erwarben die Fähigkeit zur Nachahmung, Gesellen hatten die Vielfalt ihrer erworbenen Fähigkeiten auszuweisen und den Meistern wurde die Lizenz verbrieft, sich auf das einzulassen, was bisher keiner wusste oder zu tun vermochte. Bis heute steckt darin die Definition von Meisterschaft: Meister ist, wer nach Regeln, „state of the art“, etwas Neues schafft, für dessen Beurteilung es noch keine Kriterien gibt. Es gilt, nach allen Regeln der Kunst sich auf das Jenseits des schon Geregelten einzulassen. Das schafft man nur, wenn man nicht allein im Geheimnis bleibt; akzeptabel ist dieser Akt der regelgemäßen Überschreitung der Regeln nur, wenn er öffentlich geschieht oder, in heutigen terms, transparent. Wo früher das Auge Gottes die Verfahrensgerechtigkeit garantierte, ist es zwischen 1400 und 1700 zunächst die Kennerschaft der Auftraggeber und Konkurrenten und seither die Öffentlichkeit (siehe etwa die Habilschrift von Jürgen Habermas über die Entstehung der Öffentlichkeit, 1964). Und Öffentlichkeit entsteht primär aus der Notwendigkeit und dem Verfahren der Bekenntnisse, der Glaubensbekenntnisse, der Wissensbekenntnisse, der Amtsbekenntnisse, der Grundrechtsbekenntnisse und der Liebesbekenntnisse.

Das ist alles andere als banal, wenn man sich klar macht, dass Bekenntnisse nur gelten, wenn sie auf andere Menschen hin wahrnehmbar, also laut abgelegt werden. Bis heute spricht die Glaubensgemeinde ihr Bekenntnis kollektiv laut aus. Die Bestallung von Amtsträgern und Funktionseliten der sozialen Dienste ist erst vollzogen, wenn die Beteiligten die Verpflichtungsformel einzeln, aber gemeinsam hörbar wiederholt haben. Alle Liturgien und Rituale, wann und wo immer sie aufgerufen werden, basieren auf dem Moment der öffentlichen Verkündigung, man möchte sagen, lauthals, wofür schließlich ab 1600 die Oper als Liturgie der Psychodynamik das Grundmuster bietet. Christoph Grau verstand das sehr, sehr gut und inszenierte die Kunstunterrichtsstunden als formidable Schulopern – inklusive des unüberhörbar lauten Schweigens der pubertierenden Kommunikationsverweigerer. So ergab sich nicht nur eine projektangemessene Kooperation mit dem Musikunterricht oder mit der außerschulischen Popszene, sondern vielmehr mit den damals geübten Protestliturgien, deren volle Lautstärke nicht nur der Steigerung der Stimmreichweite galt, sondern die Gewalt der eigenen Stimme nutzte, um die Selbstüberzeugung der ihr Bekenntnis abgebenden Zeitgenossen zu stärken.

Wie singt und spricht man Grau?

Gern konstatiert man in vermeintlicher, von wissendem Lächeln begleiteter Eingeweihtheit, dass Lehrer für Kunst wird, wer es in der freien Kunst zu nichts brachte. Dem widerspricht alleine schon die Tatsache, dass sich seit Entstehung der Institution Kunstakademie Mitte des 17. Jahrhunderts gerade große, also in öffentlicher Geltung stehende Künstler dem Lehramt verpflichteten – und das lange, bevor mit der Verleihung des Professorentitels ein Hauch der wissenschaftlichen Anerkennungsrituale auf die Kunstlehrenden überging. Das war eine Fortentwicklung des Ausbildungsregimes in der Renaissance, wo in den Werkstätten von Künstlern Lehrlinge zur Nachahmung befähigt wurden in der sicheren Erkenntnis, dass hinreichend lange geübte Nachahmung notwendigerweise zur Abweichung, also zu etwas Neuem, aber als bloße Erweiterung führt. Der entscheidende Unterschied des Lehrens und Lernens in Akademien sowie in Werkstätten war die Verpflichtung auf die Öffentlichkeit der Lehre (wie der Wissenschaften insgesamt). Die Werkmeister vermittelten ihre Werkstattgeheimnisse nur an Mitarbeiter, die als Angehörige der Werkstatt kenntlich blieben. Die Akademien eröffneten und veröffentlichten das Wissen ohne jede Geheimnistuerei für jedermann, der sich dafür interessieren wollte und konnte. Bis heute legen selbst inzwischen international avancierte Künstler wenigstens in den frühen Perioden ihres Erfolgsstrebens größten Wert darauf, zu Akademieprofessoren berufen worden zu sein.

Für die Generation Grau war der Unterschied zwischen Lehren an der Kunstakademie und Lehren im Fach Kunst der Gymnasien unerheblich geworden – in gewisser Weise hatte sich sogar die Geltungshierarchie umgedreht, weil die künstlerische Erziehung und Bildung in der Schulzeit die Grundlage für alle spätere Spezialisierung schafft. Denn die bis dato als Orchideenfach beraunte Kunsterziehung gewann Beispielhaftigkeit für die MINT-Fächer – auch verfahrenstechnisch und nicht nur über den allseits verwendeten Appell zur Kreativität, weil schließlich bis Mitte der 1960er Jahre den Künstlern dieses Pathos der abweichenden Neuigkeit zugeschrieben worden war.

Auch hatte Grau während seiner Studien an der Hamburger Hochschule für bildende Künste in Kooperation mit seinem Studienkollegen Achim Lipp gelernt, Aus-und Fortbildungspraktiken der Volkshochschulen in den Schulunterricht zurückzuführen. In den von Lipp initiierten und geleiteten Zeltschulen wurde der damals noch hoch attraktive Begriff der Projektarbeit auch für die Schulbildung erprobt. Und das meinte (mit Joseph Beuys‘ überzeugenden Beispielen) jede alltägliche berufliche oder häusliche Tätigkeit entsprechend der Romantischen Schule in Deutschland als künstlerische Herausforderung anzugehen. Für den Schulunterricht hieß das, im Fach Kunst nicht nur Fertigkeiten zu vermitteln, sondern die Einübung in Lebenspraxis als Projektarbeit zu verstehen. Diese Rückwirkung des künstlerischen Arbeitens auf die Entwicklung neuer Vorstellungen vom Lebenslauf und seinen Stationen vermochte das Interesse der Schüler am Kunstunterricht zum Interesse an ihrem eigenen Leben zu erweitern. In gewisser Weise war das die Wirkung der seit zweihundert Jahren vorherrschenden literarischen Forderung, so leben zu lernen, wie es die Abenteuerromane, die Liebesromane, die Bildungsromane dem Leser eröffneten. Man wollte leben, wie man liest, man wollte die erworbenen künstlerischen Fertigkeiten nicht mehr nur zur Produktion von Kunstwerken verwenden, sondern zur Erweiterung und Optimierung des eigenen Lebens. Das florierte damals in der Vostellschen Formulierung „Kunst und Leben eine Einheit“. Die logische Entwicklung legte dann nahe, auf die Kunst ganz zu verzichten zugunsten der Kunst des Lebens – eine beachtliche Variante der seit antiken Zeiten vermittelten ars vivendi und ars moriendi; schließlich war ja auch die Betrachtung von Bildern oder das Lesen von Büchern nur als Akt des Lebens realisierbar und die Wirkungen dieser Tätigkeiten sollten sich in der Veränderung der Selbstwahrnehmung der Rezipienten als bedeutsam erweisen. Das Bekenntnis der Lehrer in formaler Hinsicht, also das Bekenntnis zur Pädagogik, galt der Selbstvergewisserung der Lehrenden, ihre Aussagen gegenüber den Schülern gut begründet vertreten zu können. Dem Fach gegenüber bekannten die Lehrenden mit ihrem eigenen Beispiel der Lebensführung die Wirksamkeit und Bedeutung der künstlerischen Positionen für die Lernenden.

Statt der Anleitung zur Fabrikation von Werken wurde den Schülern nahegelegt, ihre Gestaltungsresultate als Werkzeuge der Erkenntnis zur Erweiterung der eigenen Lebenspraxis zu verstehen. Werk war nämlich, wie ich selbst Beuys gegenüber vernünftig begründen konnte, abgelegtes Werkzeug. Deswegen wurde etwa sein berühmtes Straßenbahnhaltestelle-Monument an seinem musealen Aufbewahrungsort, dem Museum Hamburger Bahnhof in Berlin, nicht re-installiert, sondern als Sammlung der Einzelteile auf dem Boden deponiert.

Auch Graus künstlerische Arbeiten, so weit sie noch vorhanden sind, sollen als solche cognitive tools gewertet und genutzt werden. Er entwickelte sie durchaus in Parallele zu den Arbeiten anderer Künstler. So hat er beispielsweise die auf meinen Exkursionen nach Rom für den Unterricht genutzten tools in Darstellung und Sichtweise benutzt, um daraus eine eigene „Reise nach Rom“ zu entwickeln. Das Resultat ist als Buch präsent gehalten und bietet zum Beispiel mir noch die Chance zu überprüfen, welche Wirkung meine Exkursionsakrobatiken auf die mitreisenden Kunststudenten hatten. Für Grau zählte dabei seine Fertigkeit, mit romantischer Ironie, ja mit offenem Zynismus die Verzweiflung über die geringfügig wirkenden Resultate gegenüber dem großen Wollen gleichsam spielerisch zu überdecken – so wie etwa ein Witz die empörende Überforderung des Witzeerzählers durch die im Witz angesprochenen Herausforderungen brillant kaschiert. Häufig wurde seine Distanzierung durch betonten Humor oder durch kabarettistische Zyne so deutlich übertrieben, dass ihm die gesamte Aussagekonstruktion in bits and pieces zerfiel; er gewann dann aber schnell wieder die Kontrolle, indem er mit heiterer Souveränität den durch Überforderung produzierten Müllhaufen auf die Schippe nahm und entsorgte. Und damit sich entsorgte. Dann hörte man den Tränenstrom, der immer durch sein Gemüt zog, und der die demonstrierte Unbeirrbarkeit und radikale Heiterkeit als Maskerade erkennen ließ. Denn nichts ist gefährlicher für die erwartete Omnipotenzphantastik der Künstler als das Eingeständnis, dass es nichts zu lachen gibt.