Buch KE Carius: Maieutisches Stöhnen

Über ästhetische Bildung. Ein Fall von Design-Poetik

KE Carius: Maieutisches Stöhnen. Ein ATHENA-Titel bei wbv Publikation, Bielefeld 2022, Bild: Karl-Eckhard Carius unter Verwendung einer Studienarbeit von Jörg Kirschke,  JENES BIST DU, 1998.
KE Carius: Maieutisches Stöhnen. Ein ATHENA-Titel bei wbv Publikation, Bielefeld 2022, Bild: Karl-Eckhard Carius unter Verwendung einer Studienarbeit von Jörg Kirschke, JENES BIST DU, 1998.

Mit einem Essay von Bazon Brock und einem Epilog von Ralf Schnell. Ein ATHENA-Titel bei wbv Publikation

Erschienen
01.01.2022

Autor
Brock, Bazon | Carius, Karl-Eckhard | Schnell, Ralf

Verlag
wbv Publikation

Erscheinungsort
Bielefeld, Deutschland

ISBN
978-3-7639-7240-1

Seite 20 im Original

Ästhetische Bildung

Die sinnträchtigste Fassung gab Hegel dem Bildungsbegriff: Gebildet sei, wer „mit anderen mitgehen“ könne – das heißt also, wer sich für die Andersartigkeit der Anderen gerade deshalb interessiert, weil er sich von ihnen als Gleicher unterscheiden will. Das Prinzip der Individuation beruht auf der Anerkennung der Gleichheit aller Menschen, die von jedem einzelnen Menschen in seiner Vereinzelung zum Individuum repräsentiert werden muss.

Aber das geforderte „Mitgehenkönnen“, sich Einlassenkönnen oder sich interessieren, also sich ins Mitspiel bringen, erweist sich als äußerst problematisch. Wer einem anderen mitteilen will, was er glaubt, sagen zu sollen, macht die Erfahrung, dass die sprachliche Formulierung des Gedankens den Gedanken verändert (allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Sprechen nannte das Kleist).

Der Ausdruck modifiziert das Ausgedrückte. Der Ausdruck beherrscht das Ausgedrückte. Das gilt auch für den Adressaten der Botschaft, der vom Wort-, Bild-, Musik- oder mimisch-gestischen Ausdruck darauf schließen muss, was ihm gedanklich mitgeteilt werden sollte. Sprecher und Adressat haben stets mit der ästhetischen oder poetischen Differenz zwischen Sprache und Denken zu rechnen. Wie wird man damit fertig, zumal das Verhältnis von Denken und Sprechen absichtsvoll, also lügnerisch manipuliert werden kann? Die ethische Differenz zwischen Denken und absichtsvoller Irreführung im sprachlichen Ausdruck wird ganz erheblich verstärkt durch die natürliche Kommunikation zwischen Lebewesen, denn Tarnen und Täuschen (Mimikry) sind fundamentale Formen der Kommunikation, des Einlassens, des Mitgehenkönnens, des Verstehens durch Nachvollzug (epistemische Differenz). Der griechische Begriff episteme enthält raffinierterweise die Anleitung, wie man Differenzen produktiv macht. Wenn die Schönheit aus dem Verhältnis von Denken und Ausdruck bestimmt wird, die Gutheit aus der erklärten oder erkannten Lüge (verum falsum – heute richtigerweise Fake zu nennen), dann, so sagt es der Begriff episteme, entsteht die Gewissheit als Wissen aus dem Bekenntnis zum Glauben (pistes). Denn man muss ja wissen, was man glaubt, um so als Gläubiger Wissen zu erlangen.

Bildung in Fragen der Schönheit, Gutheit und Wahrheit (Ästhetik, Ethik und Epistemologie) ist Zielsetzung aller Pädagogik. Aber Achtung: Den Anspruch, junge Menschen zu führen, müssen die Lehrenden begründen können. Pädagogik bezieht sich nicht auf das Eintrichtern von Wissen, sondern auf die Rechtfertigung des Lehrens. Alte Volksweisheit: Der Fisch stinkt vom Kopfe her. Wer heute, wie ehemals, die Bildungsmisere beklagt, müsste rechtens die Bildungslosigkeit der Lehrenden beklagen und nicht die der Schüler. Zwar ist über lange Zeit die Ausbildung in Bodegen und Kunstakademien als Anleitung zu künstlerischer Befähigung/Kunstlehre propagiert worden, aber seit gut 150 Jahren kann man sie nur als Lehrkunst rechtfertigen. Jede Reform der Bildung – ob ästhetische, ethische oder epistemologische – gilt den Lehrenden, Kuratierenden, Publizierenden und nicht dem mangelnden Interesse der Adressaten.