Buch Religion, Macht, Kunst: die Nazarener

Religion, Macht, Kunst: die Nazarener, 2005, Bild: Titelblatt.
Religion, Macht, Kunst: die Nazarener, 2005, Bild: Titelblatt.

Katalog anlässlich der Ausstellung "Religion, Macht, Kunst. Die Nazarener", Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 15. April - 24. Juli 2005

Erschienen
2004

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Hollein, Max | Steinle, Christa

Verlag
König

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-88375-940-6

Umfang
286 S. : zahlr. Ill. ; 29 cm

Einband
Paperpback

Seite 67 im Original

Wir wollen Gott und damit Kunst, basta!

Heiliger Humanus poetisiert den Alltag ; zur Modernität der Nazarener aus dem Placeboeffekt

Es ist zwar verständlich, dass seit Jahren all überall von der Rückkehr der Religionen ins soziale, politische und kulturelle Leben des Westens geraunt wird. Aber es ist etwas anderes, unter der heutigen Herausforderung der Christenwelt durch den islamischen Fundamentalismus Säkularisierung zu fordern als in den zurückliegenden vierzig Jahren der New Age Bewegung, der Spiritistenzirkel und der Ritualpraktiken in Performance-Kunststücken. Damals schien es auszureichen, Sektenbeauftragte zum Schutz unmündiger Jugendlicher vor dem Seelenraub durch Hexenkultler, Satansbrüder, Keltenpriester oder Scientologen zu berufen. Aber bereits letztere erzwangen verbindlichere Begründungen der Forderung nach Säkularisierung. Organisationssoziologen, Managementadviser, Kreativitätstrainer und Corporate-Culture-Designer hatten ja gute Gründe, Firmen als Glaubensgemeinschaften zu beschreiben, deren Mitglieder die Kutte durch die Firmenuniform ersetzten, statt des christlichen Kreuzes das Firmenlogo auf Brust und Mützenschirm trugen und das morgendliche gemeinsame Gebet durch kollektive Selbstvergewisserung im »Herunterbeten der firmenspezifischen Geschäftsprinzipien ersetzten. Beispielhaft dafür sind heute etwa die Rituale von Firmen wie WalMart im Westen oder wie die der asiatischen Großindustrien; die Markenartikelimperien firmieren als monotheistische Hochkirchen, die Discounterketten mit hauseigenen Billigprodukten repräsentieren den alternativen Polytheismus. Da reicht es nicht mehr, die Scientologen mit dem Hinweis in die Schranken zu fordern, sie wollten ja nur das Kirchenprivileg für ihre Firma reklamieren, um ihre Steuerpflicht zu reduzieren und damit den wirtschaftlichen Erfolg unbillig zu vergrößern. Spätestens in dem Disput um die Anerkennung der Firma Scientology als Kirche wurde nachdrücklich daran erinnert, dass die Forderung nach Modernität im Sozialen, Politischen oder Künstlerischen gerade nicht darin bestanden hatte, die Religionen und ihre Institutionalisierungen als Überbleibsel finsterer vormoderner Zeiten abzuqualifizieren oder schlicht für wirkungslos, weil veraltet zu erklären.

Der Dynamismus der Moderne entwickelte sich gerade aus der programmatischen Indienstnahme von Rationalität und Mystizismus, von Edelstahlkälte und Ekstase, von Glauben und Wissen, von Blutbodenkult und Waffentechnologie, von Innerlichkeit und Macht, von Bauhaus und Bauhütte, Gemeinschaft und Gesellschaft, von Gnosis und Aufklärung. Um die wechselseitige Radikalisierung dieser vermeintlichen Unvereinbarkeiten planmäßig zu nutzen, konzentrierte sich unsere epochale Moderne (ebenso wie alle historisch früheren) auf die Hervorbringung des Neuen. Die Neophilie, die Neuigkeitssucht, war gerade nicht Ausdruck für das Vergessen, das Obsolet-Werden des Alten, der Traditionen; ganz im Gegenteil, das Insistieren der Moderne auf der Hervorbringung des Neuen erwies sich als so ungeheuer produktiv, weil es durch staunenswerte Reaktivierungen (genannt Renaissancen oder vergegenwärtigende Rückerfindungen oder »Auferstehungen«) die Basis und die Ressourcen der Zukunftsbewältigung enorm verbreiterte. Und das ging so: Wenn etwas tatsächlich neu ist, können wir ihm keine bestimmten Qualitäten zuschreiben. Es irritiert unser Verständnis in einem solchen Maße, dass wir entweder vor dem Neuen die Flucht ergreifen, es zu zerstören versuchen oder es schlicht verleugnen und verdrängen. Wenn man diese drei Reaktionsweisen als unmodern ablehnt (unter entsprechenden gesellschaftlichen Anleitungen und Sanktionen), dann bleibt den Modernen nur die Möglichkeit, das Neue in Bezug auf das Alte zu qualifizieren nach der Prüfregel: »Avantgardistisch neu ist tatsächlich nur das, was uns veranlasst, das vermeintlich hochredundante Alte mit neuen Augen zu sehen; also Traditionen neu zu schaffen.« Diese Prüfung bestand etwa der Avantgardismus von Adolf Loos, durch dessen Postulate der weißen nackten Wand und des Reinheitsgebots der Ornamentlosigkeit die Architekturen von Brunelleschi und Palladio derartig vergegenwärtigt wurden, als seien sie mit den Loos'schen zeitgleich. Die Brückemaler, ab 1912 Expressionisten genannt, erwiesen sich als tatsächliche Schöpfer von neuer Malerei, weil von ihren Bildern her der seit dreihundert Jahren völlig vergessene El Greco so gesehen werden konnte, als sei er ein Zeitgenosse von Schmidt-Rottluff und seinen Vereinsbrüdern. Die Programme der Kubisten bewährten sich als vergegenwärtigende Rückerfindung der bis dato als Primitivismus abqualifizierten Kunst der afrikanischen Völker; von den Fauves, den französischen neuen Wilden her entwickelte sich ein neues Verständnis für die eigenständige Leistung der romanischen Künste, die bis dato nur als Vorübung der gotischen Meisterschaft bewertet worden waren etc., etc., etc.
Wenn man zweihundert Jahre Avantgardekunst entsprechend dieser Prüfprozedur durchgeht, kann man vor den Leistungen der jüngsten Epoche westlicher Modernität nur staunen. Es gelang ihr die vergegenwärtigende Rückerfindung der größeren Zahl unserer kulturellen Vergangenheiten - zur Nutzung als Zukunftsressource präsentiert in unzähligen Museen und Archiven. Darin zeigt sich eine sinnvolle Begründung für den behaupteten Fortschritt durch Modernität: Je mehr Vergangenheiten in einer Gegenwart durch Rückerfindungen präsent gehalten werden, desto zukunftsfähiger sind die Gegenwarten.

Dabei kam dem seit dem 14. Jahrhundert entfalteten Prinzip der Kunst, dass Künstlerindividuen durch ihre Arbeitshypothesen zu Autoritäten werden, die entscheidende Bedeutung zu, weil sich diese Autorität bald auch auf Staatengründer, Wissenschaftler und Erzieher übertrug. Leonardo, Heinrich der Seefahrer, Luther, Descartes, Newton, Rousseau, Pestalozzi, Burke, Montesquieu, James Watt, Napoleon, Proudhon oder Karl Marx wurden zu solchen Autoritäten durch Autorschaft, wie sie seit Dantes, Giottos und Petrarcas Werkschaffen entwickelt worden war. Wer diese lebendige Geschäftigkeit des Entwerfens und Erprobens von Arbeitshypothesen, von Versuch und Irrtum, von Experiment und Falsifikation beobachtet, versteht, dass Aussagenautorität durch Autorschaft die Aussagenautorität durch Kollektivbeglaubigung, wie sie Herrscher, Bischöfe, Standesvertreter oder Bürgermeister abgaben, schon rein zahlenmäßig haushoch überbieten.

Bisher tauchte die Lukas-Brüderschaft der deutsch-römischen Künstler aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Liste der Vergegenwärtigungsleistungen durch die jüngsten Kunstavantgarden nicht auf. Die Lukas-Brüder schienen mit ihrem Spottnamen »die Nazarener« (das hieß soviel wie Urchristen, wie belächelnswerte Sektierer in der alle Glaubensgemeinschaften und Kulturverbände übergreifenden Weltzivilisation oder Weltkultur, wie Goethe formulierte) hinreichend gekennzeichnet, nämlich als Konvertiten, die das relativistische Individuationsprinzip der Kunst für die Verbindlichkeiten der Kollektivbekenntnisse durch Glaubensbruderschaften aufgegeben hatten. Ihre Orientierung an Dürer und Raffael galt als reaktionäre Unterwerfung unter einen sakrosankten Kanon, der längst von den politischen und sozialen Ereignissen wie der französischen Revolution und der Emanzipationsbewegungen von Bauern, Juden und Frauen, respektive durch die Säkularisation und die Säkularisierung, überholt zu sein schienen. Mit Säkularisation war die Enteignung der Klöster durch die Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 und die Auflösung der Verfassung des »Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation« von 1806 gemeint. Mit Säkularisierung war seit der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung 1776, die Befreiung der Wirtschaftsbürger aus der Bevormundung durch Kirchen und Stände zum Programm erhoben - unter dem Schutz der staatlichen Macht. Also bedeutet Säkularisation, dass die klösterlich-mönchischen Lebensformen, wie sie die katholische Kirche seit mehr als tausend Jahren garantierte, und die für die Herausbildung europäischer Identität und Heilsgewissheit, von Kulturvermittlung und sozialer Caritas grundlegend waren, nun mehr in der säkularen Gesellschaft als bürgerliche Lebensformen reaktiviert werden sollten. Das Schaffen des christlichen Schöpfergottes aus dem Nichts durchlief die Säkularisation, wodurch nunmehr jeder einzelne Künstler zum Kreativen wurde. Inzwischen wird Kreativität von jedem gefordert, der produktiv sein will. Das aber zeigt, wie Säkularisation (opus dei wird Kunstwerk - Günther Grass spricht von Künstlern als "Schöpfern von Kunst und Kultur«) und Säkularisierung (Emanzipation des Künstlers aus der Bevormundung durch Auftraggeber wie Hof und Kirche) die Theologie der Kreation und der Autonomie und Omnipotenz nicht als mit modernen Produktionsverfahren und Zwängen der Arbeitsteilung unvereinbar ad acta legt; Säkularisation und Säkularisierung übertragen Spezifika des theologisch-kirchlichen Denkens und Begründens in den profanen und alltäglichen Bereich moderner Produktionsgesellschaften. Von Hegel bis zu Carl Schmitt wurde immer wieder dargestellt, »dass alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind«. In diesem Sinne gibt es nicht nur eine politische Theologie als Lehre von der Souveränität moderner Staaten, sondern eine soziale Theologie des modernen Sozialstaats oder eine ästhetische Theologie als moderne Kunstreligion. Auch die radikal antiklerikalen, religionsfeindlichen Gesellschaftsentwürfe des Leninschen Universalsozialismus oder des Hitlerschen Nationalsozialismus sind »verkappte Religionen«, d.h. säkularisierte Formen sozialer Entsprechung zu religiösen Fundierungen des Lebens. Das wurde bereits in den 1920er Jahren verstanden, als Carl Bry seine Untersuchungen zum Thema »Verkappte Religionen« mit großer Breitenwirkung vorlegte.

Religion meint die Orientierung der Menschen an letzten Gründen, an Axiomen, Dogmen, Weltbildern und Denknotwendigkeiten. Mit dieser Feststellung ist auch das Leben der Menschen in profanen, nicht sakralrechtlich, nicht als Gottesstaaten organisierten Gesellschaften auf Letztbegründungen, also auf Religion angewiesen. Zu Zeiten der Nazarener galten der Aufbau von Nationalstaaten und die Etablierung von Verfassungen als zeitgemäßer Ausdruck solcher unumgänglichen Rückbindungen. Nationalismus und Verfassungspatriotismus waren somit zeitgemäße Erscheinungsformen der Religion des Christenmenschen, weil die Wertschätzung des Einzelnen, also die Würde der Individualität, in der Gotteskindschaft (katholisch) und der Unmittelbarkeit des einzelnen Gläubigen zu seinem Gott (protestantisch) begründet waren. Auch in dem durch die Aufklärer verbreiteten Begriff der Menschheit, dem in den Theologien der Profanität göttliche Legitimationsmacht zugesprochen wurde, konnte man noch die christliche Theologie des katholikos wiedererkennen, also die Gemeinschaft der Gläubigen, inklusive der Toten und Ungeborenen.

Wer solche Auffassungen um 1800 vertrat, war also beileibe kein Antimodernist oder Reaktionär, sondern als katholischer Christ, protestantischer Kalvinist oder Pietist Träger der verschiedensten Aufklärer-Programmatiken. Den Romantikern in toto und den Nazarenern im Besonderen reaktionäre Gesinnungen attestieren zu wollen, kann nur als polemische Attitüde im Wettstreit um Geltungsansprüche akzeptiert werden. Der Sache nach eben nicht. Wer die romantische Poetisierung des Alltags betrieb, indem er etwa eine profane bürgerliche Familie aus Vater, Mutter und Kind so darstellte, wie man das von der Repräsentation der heiligen Familie mit Joseph, Maria und Jesus gewohnt war, unterwarf die Bürger keinem dogmatischen Schema und beging auch keine Blasphemie; vielmehr realisierte er einen Geltungsanspruch der christlichen Theologie, nämlich die uneingeschränkte Achtung vor den individuellen Menschen als Gotteskindern, die sich in Anerkennung und Wertschätzung manifestiert.

Diese Position war bereits von den Libri Carolini bezogen worden, die um das Jahr 800 den vielfachen Schrift- und Bildsinn, also die Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit aller Zeichengefüge begründeten. Damit begegnete die Kulturpolitik Karls des Großen den Zumutungen der byzantinischen »Bilderkriege«, die das oströmische Reich zu zerreißen drohten. Vom heutigen Fundamentalismus aus gesehen, hatten Romantiker, also auch Nazarener, gute Gründe, dogmatische Religionsauffassungen nicht zur Feindin des Lebens werden zu lassen. Mit den Mitteln der Künste die Welt romantisieren, hieß vielmehr, noch die banalsten und alltäglichsten Lebensäußerungen der Menschen als bedeutsam in biographische, historische und entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge einzustellen - parallel zu Heilsgeschichte, Kirchengeschichte und Glaubensgeschichte oder zu Mythos, Epos oder Eidosidea. Gerade das Banale, weil Selbstverständliche wurde durch besondere Aufmerksamkeit und Pflichtentreue gewürdigt.
Die Lukas-Brüderschaft formierte sich ja gerade im gemeinsamen Widerstand gegen die Zumutungen des Wiener Akademismus, will sagen, des Dogmatismus der Form und des Stils. Die Nazarener waren im wahrsten Sinne Sezessionisten, also das Gegenteil einer Gefolgschaftsformation, die sie durch den Freundschaftsbund ersetzten. Auch verpflichteten sie sich gerade nicht dem vermeintlich »mittelalterlichen«, anonymen Kollektivismus zünftiger Auftragserfüllung im Dienste der Kirche, sondern vergegenwärtigten Künstler wie Dürer und Raffael in deren Orientierung an einem entschiedenen Fortschritt in der Geschichte der Kunst. Sah sich Dürer nämlich durchaus selbst noch in der Tradition der imitatio Christi, also wie ein Jünger des Herrn, so leitete er doch schon mit seiner »malerspeis«, den Unterweisungen der neuen Künstlergeneration, die imitatio Düreri ein, also die Orientierung des Künstlers an anderen Künstlern. Raffael hatte diesen Schritt in der Beziehung zu seinem Lehrer Perugino bereits realisiert.

Mit dieser Manifestation von imitatio (in unserer Gegenwart als Kunst aus Kunst bzw. Kunst nach Kunst propagiert) entwickelten die Nazarener ihren wichtigsten Beitrag zur Modernität. Diesen Beitrag können wir erst heute vergegenwärtigend rückerfinden, weil wir uns herausgefordert sehen, zwischen Ayatollah-Herrschaft, also dem Sakralstaat, und dem Banalisierungsterror der McDonalds-Herrschaft, also der fundamentalistischen Säkularisierung, zu vermitteln, damit diese beiden Extreme nicht in ihrer totalitären Erstarrung fixiert bleiben. Zwischen heilige Gefolgschaft Christi (radikalisiert in der Leibeigenschaft) und humanistische Anmaßung von Schöpferautorität (1792 radikalisiert in der terreur) sollte die Kunstreligion treten, so glaubten Nazarener und die Romantiker insgesamt. Das hieß mit Hegel, der den Begriff Kunstreligion zur Verfügung stellte, im Kunstwerk den Glauben zu retten und der Banalisierung durch Säkularisierung eine andere Bedeutung zu geben (in der Rolle des heiligen Humanus, so Hegel). Die andere Bedeutung wurde Poetisierung genannt - Aufladung der Evidenz, des Selbstverständlichen durch künstlerische Transponierung der Glaubensinhalte ins Werk. Beide Tendenzen - Rettung des Glaubens in die Kunst und Poetisierung der Alltagsbanalität - wurden als Musealisierung verbindlich, zum einen durch die Entwicklung der Institution Museum. zum anderen durch die Bestimmung des eigenen Lebensraums zum Museum der Geschichte, die wissenschaftlich rekonstruiert und kulturtouristisch angeeignet werden sollte. Mit diesem Verfahren der vergegenwärtigenden Rückerfindung sah man um sich herum in jedem Steinhaufen, jeder Erdvertiefung oder landsmannschaftlichen Eigentümlichkeit Manifestationen der europäischen-christlichen Vergangenheit als Gegenwart.

Das ist der Kern der Kunstauffassung, den man am besten mit dem Begriff Musealisierung fassen kann. In den Athenäum-Fragmenten beschreibt Friedrich Schlegel dieses Projekt aus der Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zugleich zu idealisieren, zu realisieren, zu ergänzen und teilweise in sich auszuführen; also mussten auch und vor allem die Werke der Nazarener als Summa und Einheit von wissenschaftlicher Rekonstruktion, theologisch-philosophischer Systematisierung und lebenspraktischer Aneignung ausgeführt werden. Das ist den Nazarenern mit ihrem Kunstschaffen gelungen: Ihr neuer Blick auf den Dürerdeutschen, den Raffaeldeutschen (später ergänzt durch den Rembrandtdeutschen und den van-Goghdeutschen) entfaltete den mehrfachen Bildsinn ihrer Werke mindestens auf den Ebenen Heilsgeschichte, Weltgeschichte und Artefaktgeschichte. Jede ihrer Werkpositionen musste auf der Ebene der Anagogie, also der Anschlüsse des irdischen Daseins an die Auferstehung in Christi zur ewigen Glorie Gottes ausgelegt werden - das entsprach dem Verfahren der Sakralisierung. Auf der allegorischen Ebene wird den abstrakten Begriffen der Theologie oder Philosophie in konkreten weltgeschichtlichen Ereignissen entsprochen - dieser Übertragung der religiösen Weitsicht auf das Alltagsgeschehen entspricht der Begriff der Säkularisierung. Auf der symbolischen Ebene der vielschichtigen Zeichenbedeutung wurde die Bestimmung der Artefakte als Kunstwerke ermöglicht, indem sie durch das Verfahren der Musealisierung definiert wurden (heute nennt man das Kontextkunst). Dass man glaubte, die Nazarener gerade wegen ihrer exemplarischen Musealisierungsleistungen nicht in die neu geschaffene Tradition, genannt Geschichte der Moderne, aufnehmen zu müssen, liegt an dem weit verbreiteten Missverständnis von Musealisierung als Ablage von verstaubtem, überständigem Kulturbestand. Allzu gerne will man mit museal das nicht mehr Aktuelle, nicht mehr Interessante brandmarken. Aber aus solchen Brandmarkungen entstehen sehr häufig Unterscheidungsmuster, die unter Konfrontationsdruck mit dem unbestimmten Neuen plötzlich zu brandings werden. So ergeht es gegenwärtig dem Begriffsgebrauch der Musealisierung. Er gewinnt die neue Bedeutung von containment, also von Schutzummantelung. Im Zeitalter von permanenten Glaubenskriegen und blutigen Kulturkämpfen, die sich im Multikulti-Iaissez-faire aus der Toleranz der Gleichgültigen speisen, heißt das, Einhegung durch Beschränkung auf Bühnen, Archive, Hörsäle, Ateliers und Museumsräume; denn die symbolischen Bomben, die Surrogat-Bomben, sind in jedem Fall den echten vorzuziehen.

Es ist hier nicht der Ort, an den einzelnen Werkkonzepten diese Bestimmungen auszuarbeiten. Generell sei dazu nur auf die bisher diskriminierte Vorgehensweise der Nazarener hingewiesen. Man empfand ihre Malereien als angekränkelt von des Begriffes Blässe und selbst Baudelaire schmähte sie als Gedankenkünstler. Später hießen die Deutschrömer i begriffi und selbst Klingemann/Bonaventura mokierten sich, dass unsere moderne Kunstreligion nur in Kritiken betet und die Andacht nur in Köpfen hat, wie echt religiöse Menschen sie im Herzen haben. Aber diese Gedankenarbeit war eben unerlässlich für das nazarenische Werkverständnis. Auch bespöttelte man ihre Auffassung von wissenschaftlicher Rekonstruktion - obwohl doch in der Manie der Nazarener, mit klassizistischen Mitteln die Ereignisfolge des Neuen Testaments darzustellen, historische Richtigkeit steckt, da die römisch-imperiale Besetzung des Heiligen Landes historische Voraussetzung der Wirkungsgeschichte des Jesus als Christus ist. Dergleichen gelang sonst kaum Zeitgenossen: Ein David beschränkte sich im Neoklassizismus auf die vorchristliche Antike, wie sich etwa Casper David Friedrich auf das christliche Mittelalter beschränkte; ein Schinkel hat Neoklassizismus und christliche Gotik stilistisch stets sauber getrennt, wenn auch gleichzeitig hervorgebracht. Mit anderen Worten:

Friedrich konnte seine Aversion gegen die Nazarener aus seiner Beschränkung auf den christlichen Horizont, die Neoklassizisten aus der Beschränkung auf die römische Antike zwischen Gracchenzeit und imperialer Pax Romana entwickeln. Zudem stellten sich David, Schinkel und ihresgleichen als Künstler nie in soziale Formationen ein, so sehr sie auch ihr Wirken auf die inszenierende Gestaltung sozialer Ereignisse ausrichteten. Ihnen fehlte die aufklärertypische Positionierung in der Sozialformation Freundschaftsbund, den selbst Hegel am Schluss seiner Phänomenologie mit Schillers Worten beschwört: Erst aus dem Kelche dieses Geisterreiches (der Freundschaft) schäumt ihm die Unendlichkeit - und eben nicht aus dem Artefakteschaffen, den Ämtern oder dem Markterfolg. Eine Positionierung in der sozialen Formation bringt einerseits brauchbare Informationen für die Bewältigung der Lebensanstrengung und verknüpft andererseits Leben, Werk und Zukunftserwartung - Kunst, Politik und Religion. Eine solche Verknüpfung ist zwischen Routine und Lust an der Wiederholung angesiedelt, sie ist eine Ritualisierung, die Erfahrung von Ewigkeit ermöglicht oder als Garantie der Dauer im Museum nachprüfbar wird. Das wissen erst heutige Performancekünstler wieder zu schätzen, die die Routinen des Alltags durch Ritualisierung zur Werkstrategie werden lassen. Sie ficht es ebenso wenig an wie die Nazarener, dass man sie als Surrogat-Süchtige glaubt belächeln zu können. Wer in Mengen alkoholfreies Bier oder kalorienfreie Nahrung konsumiert, ist eben doch auf andere Weise süchtig als Alkoholiker oder Fatties. Diese positive Bewertung von Surrogat beruht auf jenen Formen unserer Hirntätigkeiten, die als Placeboeffekte beschrieben sind. Von unseren zeitgenössischen Erfahrungen mit dem Ernst der Kunst, mit fundamentalistischer Begriffsgläubigkeit und ihrer totalitären buchstäblichen Übersetzung ins Leben, wissen wir die Placebokunst erst richtig zu schätzen, Sie zieht sich - zivilisiert und aufgeklärt - auf den Status von Aussagen im Konjunktiv oder als gelungener Verweis auf unseren Möglichkeitssinn zurück. Das praktiziert gegenwärtig ein Künstler wie Luc Tuymans mit seiner Malerei der Möglichkeitsform oder von Bild im Konjunktiv. Von solchen heutigen Beispielen aus bewerten wir die Leistungen der Nazarener, zumal wir alle die Erfahrung gemacht haben, wie gerade Atheisten die Museen zu Tempeln der Kunstreligion werden lassen. Dafür gibt es vielerorts einladende Konstellationen. Etwa in Köln nutzen Architekten und Kuratoren höchst aufschlussreich die unmittelbare Nachbarschaft von Dom und Museum: eine nazarenische Beziehung. Der Dom wurde zur kulturtouristischen Attraktion und das Museum Ludwig zum Pilgertempel der Kunstverehrung. Und wieder wird einerseits die Resakralisierung des Doms gefordert (dies ist ein Gotteshaus und kein Traumschiff der Erlebnisgesellschaft), und empfindet man andererseits die Äußerung von Ehrfurcht, Erschütterung und Erhabenheitsschauder vor Reinheitsminimalisten und konzeptuellen Monochromen als lächerliches Getue. Da wäre eine nazarenische Sicht höchst angebracht, um endlich zu kapieren, dass die Werke von Rothko oder Barnett Newman eben nicht zeitgemäße Anbetungsikonen des Kulturkommerzes sind, sondern Musealisierungen des sakralrechtlich verhängten Bilderverbots des Judentums, des Islams und der Naturwissenschaften, für die Carnap 1927 in Wien ein entsprechendes Diktum erließ. Nazarenisch heißt, mit Bildern des Bilderverbots zwischen Bilderverbot und naiver Kunstbildsuhlerei zu vermitteln. Denn nur im musealisierten Kunstwerk lassen sich ganz vernünftig, also ohne fundamentalistische Setzungen und totalitäre Übersetzungen, die wechselseitige Unterscheidung und erhellende Konfrontation von Ausschließlichkeitspositionen der Säkularisierung wie der Sakralisierung erkennen.