Zeitung Putin siegt so oder so

Alles Wissen bewährt sich nur in der Kraft zur Prognose – zum 9. Mai

Ach, Lale Andersen, auf jeden November folgt tatsächlich ein Mai. Und erst recht auf jeden 9. November ein 9. Mai. Auf den Bankrott der deutschen Großsprecherei am 9. November 1918 und Hitlers Racheputsch am 9. November 1923 folgte die Auferstehung der Toten an jedem 9. November im Dritten Reich in München. Diese Zombies stürmten schließlich am 9. November 1938 die jüdischen Tempel.

Aber dann, aber dann das endgültige Gericht am 9. Mai 1945: Stalins Triumph über den Höllenfürsten. Leider, so meint Putin als Weltgeist, schlossen sich die demokratischen Weststaaten dem russischen Triumph nicht an. Sie hinderten durch den Kalten Krieg Stalin und den großrussischen Daimon daran, dem wohlerkämpften Sieg über den von Hitler repräsentierten Eroberungswillen des Westens dauerhaft Geltung zu verschaffen. Nach Meinung des historisch legitimierten Russlands, so Putins heutige Zusammenfassung, setzten die Westmächte Hitlersche Machtpositionen im Kampf gegen Russland fort. Deshalb gelte es jetzt, den Zweiten Weltkrieg zu Ende zu führen und den Faschismus im Glanz technologischer und konsumeristischer Macht endgültig zu besiegen. So berief sich Putin zum Missionar der Vollendung der Geschichte, die vom Westen unter dem Vorwand des Hitlerschen Endes gnadenlos abgewürgt worden sei: Geschichte, so meint er, verpflichtet den wahren Sieger des Zweiten Weltkriegs zur Befreiung der Menschen vom Terror der Wahrheit und aus dem Würgegriff der als „Freiheit“ getarnten Machtgier des Kapitals.

Wie kann, wie wird Putin am Weltoffenbarungstag 9. Mai sein „Mission completed“ verkünden – gesegnet von allen Patriarchen und russischen Stellvertretern Gottes?

Wenn Putin tatsächlich über jene Intelligenz verfügt, die sowohl allen großen Kriminellen und asozialen Zerstörern wie auch den Menschheitsrettern zugeschrieben werden muss, dann wird er am 9. Mai einseitig den Waffenstillstand erklären. Damit käme er seinem Ziel näher als je gedacht, den „faschistischen“/kapitalistischen Westen so niederzuwerfen wie die Rote Armee einst den deutschen Nationalsozialismus, denn es ist zwangsläufig zu erwarten, dass mindestens die Hälfte westlicher selbstgefälliger Nutznießer demokratischer Grundrechte Putin zum Friedensfürsten ausrufen wird. Wer auch immer dann den Kampf gegen die Unterwerfung der Ukraine fortsetzen wolle, würde von diesen Selbstgerechten als Kriegstreiber verurteilt. Endlich hätten sie einen Beweis für die immer schon ins Spiel gebrachte Vermutung, dass der Krieg in der Ukraine von den Amerikanern angezettelt worden sei, um Russland in die Knie zu zwingen. Gegen diese Macht der demokratisch als rechtens legitimierten Dummheit hülfe alle mögliche Argumentation nichts, wie man in den letzten drei Wochen im Gespräch mit verehrten Kolleginnen und Kollegen, besten Freunden und Freundinnen erfahren musste. Alle auf Tatsachen gestützten Argumente werteten sie nur als Verpflichtung, sich in humanistischer Gesinnung über platte Fakten hinwegsetzen zu müssen.
Der ruhmlose Abzug der Amerikaner aus Afghanistan oder Syrien war doch wohl kein Beweis für ihren Willen, sich die Welt zu unterwerfen, gab man zu bedenken. Sie antworteten gnadenlos erleuchtet, das alles sei Tarnung, um die Russen zu provozieren und, wie der jetzige Krieg beweise, Russland endgültig zu besiegen. So hätten sogar schon diverse deutsche Armeen den Westmächten im Frühjahr 1945 vorgeschlagen, sich in vereinter Front gegen Russland zu wenden.

Sollte Putin diese Ideologie durch Verkündigung eines einseitigen Waffenstillstands noch verstärken, dann würde die vielbeschworene Einheitsfront der Demokratien gegen die Autokratien einbrechen. Dann würde dem Allmachtswillen Putins nichts mehr entgegenstehen außer ein paar osteuropäische Partisanen, denn die Positionen des von Putin als „satanisch“ bezeichneten Liberalismus würden bedenkenlos von den verwöhnten Nutznießern der demokratischen Freiheiten aufgegeben. Kirchen und Golfclubs, gottgefällige Banker und Bezieher von Friedensdividenden gieren doch schon lange nach Monotheismus, Monogamie, Monozentrismus, Monopolen und ähnlichen Phantasien von Ordnungsgarantie. Die Zumutungen der Demokratien und des Liberalismus an die Selbstkontrolle, Bildungswilligkeit und Verpflichtung aufs Allgemeininteresse der Einzelnen werden im Westen schon seit 20 Jahren mindestens als so überfordernd empfunden wie im Osten. Putins antidemokratische fundamentalistische Haltung beherrscht ohnehin längst mindestens ein Drittel der Bevölkerung der westlichen Länder und sogar einen der amerikanischen Präsidenten.

Das wird vor allem sichtbar, wenn diese Helden der bestenfalls naiven Selbstüberschätzung ihr alles zermalmendes Zentralargument des Eurozentrismus Parade laufen lassen. Demokratische Grundverfassung, Rechtsstaat, Sozialstaat – das seien eurozentristische Ideen, die eben keinen universalen Geltungsanspruch erheben könnten. Auf die Entgegnung, wie etwas eurozentristisch sein könne, das in Europa selber 250 Jahre lang mit unendlichen Opfern gegen Europäer erkämpft worden sei, zuckt man die Schultern: „Zurückgucken darf man nicht. Wir sehen in die Zukunft, wir sehen voraus.“ Was sie voraussehen, ist eine Gloriole des von ihnen als Faschismus stigmatisierten Konservativismus, nach dem sie sich eigentlich sehnen.

Der gesamte öffentliche Konflikt ist keine Debatte um bessere Argumente, sondern läuft nach der Logik der natürlichen Dummheit: „Du bist mein Feind, ich bin Demokrat, also bist Du Antidemokrat.“ Oder: „Ich bin Humanist, Du bist mein Gegner, also kannst Du Dich nicht als Humanist ausgeben.“
Putin würde siegen, weil er im Westen längst gesiegt hat.

Kann Putin am 9. Mai auch ohne die einseitige Erklärung des Waffenstillstands die Eroberung von fünf ukrainischen Großstädten verkünden, mit deren Zerstörung er den endgültigen Abfall der Ostprovinzen von der Ukraine garantieren will? Dazu müsste er die Generalmobilmachung in Russland anordnen und damit die innerrussische Einheit gefährden. Auch Hitler brachte das Volk zunächst hinter sich durch den Anschluss Österreichs und durch die militärischen Erfolge in Polen und Frankreich. Putin hat seinen Stalinpakt mit Chinas Xi erreicht, die Ostprovinzen der Ukraine der Vision Großrussland angeschlossen, aber die überzeugenden militärischen Erfolge bleiben aus. Hitler hatte die ideologische Vorherrschaft abgesichert, weil er die einzelnen Machtgruppen SA, SS, NSDAP, Wehrmacht etc. sich gegenseitig in Schach halten ließ, sodass er keinen inneren Widerstand zu fürchten hatte. Putin hingegen unterwarf die Oligarchen, die regionalen Machthaber und Militärchefs einer einheitlichen Verpflichtung auf Treue zu ihm und seiner russischen Weltrettungsmission. Das erhöht erheblich das Risiko, aus dem Inneren der Zentralmacht heraus liquidiert zu werden.

Die Fortsetzung des Krieges würde zwangsläufig in die totale Niederlage führen, nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch in der Wirtschaft. Der intelligente Putin wird also den einseitigen Waffenstillstand wählen, weil dieser allein ihm ohne weitere Risiken und russische Opfer den Sieg über den Westen in Aussicht stellt. Der intelligente Putin! Was aber ist mit dem offensichtlich machtdummen Putin?
Als Hitler am Ende war, dekreditierte er: „Wenn wir untergehen, reißen wir eine ganze Welt mit uns.“
Als Diktator Franko im Sterben lag, verbrachte er Wochen des Wartens mit täglich stundenlangem Ansehen von Weltuntergangsfilmen.

Wenn garantiert wäre, dass durch Einsatz aller ABC-Waffen die Menschen tatsächlich komplett ausgerottet werden könnten, verlangte die Logik der natürlichen Dummheit strikten Vollzug. Die Evolution entwickelte solche Logiken und davon wirken seit 60.000 Jahren diejenigen, die sich als hilfreich erwiesen haben. Das sind die deswegen so erfolgreichen Vorurteile, weil sie sich bewährt haben. Allen voran die Fremdenfeindlichkeit, die Xenophobie.
Aber die Allmachtsverpflichtung zur totalen Vernichtung von Freund und Feind ist das stärkste unter allen Vorurteilen, wie die Berichte über mythische Kämpfer aller Völker aller Zeiten beweisen. Auch die westliche Bevölkerung hat schon vor 40 Jahren einer Umfrage gemäß bekundet, dass für sie das denkbar erregendste Ereignis sein könnte, am Fernsehen zuhause dem Weltuntergang zuzuschauen. Unter den Eliten Europas gilt es als das erhebendste „Kulturerlebnis“, in Bayreuth einer Inszenierung der Götterdämmerung beizuwohnen. Die Logik des Verfahrens zwingt alle Beteiligten zur äußersten Radikalität, wie sie beispielsweise Märtyrer als gepriesene Vorbilder praktizieren. Kabarettistisch sprichwörtlich ist, aus Angst vor dem Tode Selbstmord zu begehen oder aus Gottesfurcht den eigenen Sohn umzubringen – wie es Abraham, Stammvater der Juden, Christen und Moslems, als potentiell erster Faschist demonstriert hätte, wäre er nicht von der wunderbaren Vernunft in engelhafter Vision davon abgehalten worden.
Kann Putin mit göttlicher Intervention rechnen? Vielleicht hoffte er darauf, als er vor dem Patriarchen Kyrill die Osterkerze weihevoll wie das heilige Schwert hielt.

Ihre Götterdämmerung haben die Kulturen nie überlebt. Wird die Menschheit die Menschheitsdämmerung überleben? Diese Frage bietet eine angemessene Vorlage, den 9. Mai 2022 zu begehen.

Erschienen
09.05.2022

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

Issue
Westdeutsche Zeitung