Doppeldecker
"Fragen, welche die kollektive Identität berühren, verlangen Antworten aus der Wir-Perspektive der ersten Person Plural." We are not amused über diese Feststellung von Jürgen Habermas vor der Enquetekommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland". Da holt man sich, selten genug, einen Philosophenmeister, um das Meinungshickhack politischer Positionskämpfe zu entwirren und ist am Ende verwirrter als zuvor. Auch wenn man annimmt, Experten seien für die Problemfindung und nicht für die Problemlösung zuständig, läßt uns Habermas im Stich, denn er spricht mit dem Tenor und Gestus dessen, der Bescheid weiß und für den es deshalb keine Probleme gibt - oder nur Pseudoprobleme derer, die nicht Bescheid wissen. "Soweit es um Fakten und um die Deutung von Fakten geht, verlassen wir uns auf das Urteil von Experten, die mit wissenschaftlicher Autorität entscheiden, was als wahr oder falsch gilt", konstatierte Habermas vor der Kommission.
Ist die behauptete kollektive Identität ein Faktum oder eine Deutung von Fakten? Wenn Identität die "von Angehörigen eines Kollektivs gemeinsam erörterten Fragen der ethisch-politischen Selbstverständigung über wichtige Aspekte der von allen geteilten Lebensform" bedeutet, dann fragt sich, ob es das Kollektiv als Faktum überhaupt gibt, denn eine Lebensform, die alle teilen, und die Gemeinsamkeit, in der alle ethisch-politische Selbstverständigung betreiben, sind schwerlich auszumachen. Außer bei Tegtmeier: "Was du nicht selber weißt, das mußt du dir erklären." Oder bei den rechtskonservativen Brüdern: "Was es nicht gibt, das gibt es eben als Behauptung"; oder als sozial-psychologische Maxime: "Was auch immer Menschen für ein Faktum halten, es wird eins durch die Konsequenzen der Behauptung."
Das begründet die normative Kraft des Kontrafaktischen, eine Kraft, wie sie den Behauptungen einer "kollektiven Identität" oder "von allen geteilter Lebensform" oder "gemeinsamer Selbstverständigung" gerade für die von Habermas so reinlich ausgegrenzten Rechten zweifelsfrei zukommt. Und der Beweis ist leicht zu erbringen in Situationen, in denen es ums Ganze, ums Letzte geht, um die erzwungenen Bekenntnisse, pro oder contra, um abgepreßte Loyalität. Bist du Deutscher oder Türke, Linker oder Rechter, Freund oder Feind, gehörst du zu uns oder zu den anderen? Kein Problem für Habermas, denn "für eine politisch belastende Vergangenheit haften alle Beteiligten, sogar die Oppositionellen", also diejenigen, die die ethisch-politische Selbstverständigung mit dem Kollektiv ausdrücklich nicht teilen wollen und damit auch nicht die kollektive Identität. Eine schöne Bescherung durch den Denker!
Gehören die hier lebenden Türken, Italiener und Griechen nun zum Kollektiv und teilen seine Identität? Wenn nicht, dann haben ja alle recht, die behaupten, jene gehörten nicht zu uns. Wenn sie aber eingebürgert, werden und die Wir-Perspektive der von allen geteilten Lebensform akzeptieren, wie soll ihnen dann noch eine eigene kollektive Identität zugestanden werden, ob faktisch oder kontrafaktisch? Wird man sie fragen, ob sie sogar mit ihrer oppositionellen ethisch-politischen Selbstverständigung für die politisch belastende Vergangenheit der Deutschen haften wollen, oder sind alle, die die systematische Ausrottung von Anders-Rassischen und Anders-Gläubigen geschehen lassen müssen oder selber betreiben, damit Deutsche?
Habermas machte seine Aussagen vor der Enquetekommission zwar zur doppelten Vergangenheit der Deutschen; aber die Logik seiner Argumentation kann ja nicht nur für das Verhältnis zu den "ostdeutschen Landsleuten" gelten, auch nicht als Logik der kontrafaktischen Behauptungen. So wird aus "der Last der doppelten Vergangenheit" die einer doppelten Gegenwart; oder handelt es sich doch nur um einen doppelten Denkerboden; um gedoppelte Seelen in einer Brust? In gewisser Hinsicht ist auch eine gespaltene Zunge eine gedoppelte. Phrasen werden jedenfalls nicht wahrer, wenn man sie verdoppelt.