Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
02.05.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
02.05.1994

Meister Anton

Die grauenhafte Bluttat an der enthaupteten Germanistin Dr. Renate N, (40) hätte verhindert werden können, wenn der mutmaßliche Täter Detlef S. (41) ärztlich behandelt worden wäre. Diese Ansicht vertritt mit Nachdruck der Verteidiger von S., der Strafanzeige gegen Ärzte ankündigt - so oder ähnlich berichten die Zeitungen in angstmachender Regelmäßigkeit. Der Bürger ist verständlicherweise empört, so empört, wie über die gleichzeitigen Meldungen, da hätten schon wieder erbgeile Verwandtschaften eine betuchte Tante mit Hilfe psychiatrischer Gutachten und lebensfremder Richter entmündigen lassen und zum seelischen Tod in psychiatrischen Anstalten verurteilen wollen.
Der Strafverteidiger klagt jetzt die Ärzte an, daß sie Herrn S. nicht längst in Gewahrsam genommen hätten, und wir stimmen ihm zu. Genauso haben wir ihm zugestimmt, als er in früheren Verfahren die Ärzte bezichtigte, sie wollten mit psychiatrischer Spitzfindigkeit Herrn S. der Freiheit berauben, obwohl er doch nur in Fälle üblicher Kleinkriminalität verwickelt gewesen sei.
Wie kommt es dazu, daß wir uns ständig in solchen Selbstwidersprüchen verfangen, aus denen wir nur in ein endloses Lamento über die Unfähigkeit von Gesetzgebern und Richtern, von Polizisten und Ärzten, von Lehrern und Lebenspartnern flüchten? Den Lehrern halten wir einerseits vor, die Schüler nicht mehr zu disziplinieren, sie jedoch andererseits mit bornierter Pedanterie zu quälen. Die Politiker, z.B. die in Brüssel, bezichtigen wir, unser Leben mit kleinkarierten bürokratischen Standardisierungen einengen zu wollen, um ihnen postwendend abzuverlangen, sie hätten jetzt endlich für gleiche Rahmenbedingungen in allen EU-Staaten zu sorgen. Von Polizisten verlangen wir Rücksicht auf unsere kleinen verständlichen Kavaliersdelikte, aber wir verlangen auch, daß sie endlich unnachgiebig die Einhaltung der Vorschriften durchsetzen.
Das ist, wie gesagt alltägliche Erfahrung des Zeitungslesers, der entweder solche Verwirrung journalistischer Bedenkenlosigkeit zuschreibt oder in Indifferenz verfällt angesichts der unentwirrbaren Schlußfolgerungen, daß alle zugleich Recht und Unrecht haben und daß man allen Behauptungen ohne weiteres beipflichten, sie aber mit genauso, guten Gründen ablehnen könne. Der Leser als Fall für den Psychiater, dem man prophylaktisch das Abonnement entziehen sollte? Besser wohl der Leser als geforderter Philosoph, denn was die Berufsdenker seit Kant unter dem staubtrockenen Problemnamen "Antinomie" abhandeln, erweis sich mehr und mehr als Denkfalle für alle.
Die postmodernen Profis feiern den normalen Wahnwitz unseres Verstandes in Feuerwerken der Paradoxien. Logik sei eben nur ein Problem für kleinbürgerliche Schwarzseher. Ihr Rezept heißt partielle Amnestie, fröhliche Verabschiedung des Verstandes, freudiges sich Einrichten im beschränkten Systemhorizont. Man darf die Welt nicht mehr verstehen wollen, wenn man sich in ihr stets meinungsstark und positionssicher behaupten will.
"Ich versteh' die Welt nicht mehr!" deklamiert Hebbels Meister Anton. Nur Mut, Mann, das ist ja nicht das Ende, wie du meinst, sondern der Beginn einer schönen Karriere als Philosoph, der nicht mehr denken muß, sondern Zeitung liest.