Zeitung Westdeutsche Zeitung

Erschienen
11.12.2021

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

Seite 19 im Original

Hoffen und Harren hält manchen zum Narren

Warum dann Advent feiern?

Immer noch wird gedankenarm oder leichtsinnig oder mit ruchlosem Optimismus behauptet, wir sollten den Advent feiern, weil wir einen Monat später den Erlöser geschenkt bekämen. Ebenso alltäglich ist aber die Lebensweisheit, man dürfe nicht beim Hoffen verharren, um das Erwünschte auch zu erreichen.
Das adventliche Erwarten ist nun schon fast 2000 Jahre lang als christliche Tugend propagiert worden, aber man hat tatsächlich den Eindruck, als ob das Bekenntnis zur Erwartungsbereitschaft nur noch eine Propagandanarretei der Weihnachtsunternehmer sei. Und das lassen sich die Christen gefallen? Haben sie nicht ambitionierte Thinktanks der Theologen, denen etwas Besseres eingefallen wäre als die jährlich wiederholte Aufforderung, an einen Heiland zu glauben, der sich seit 2000 Jahren in der Verborgenheit offenbar selbst genug ist? Ihm reicht der Verweis auf das jenseitige himmlische Reich. Bestenfalls lässt er sich stellvertreten von anmaßlich ambitionierten menschlichen Heilsbringern.

Bemerkenswert ist, dass die Kirchen ausdrücklich und immer wieder sich gegen diejenigen gewendet haben, die nicht zu Hoffnungsnarren werden wollten und zur Tat schritten. Der bekannteste Fall ist die radikale Gegnerschaft Luthers gegen den Aufstand der bis aufs Blut ausgepressten und gepeinigten Bauern, denen heute die bis auf den letzten Pfennig ausgesaugten Großstadtmietsklaven entsprechen. Luthers Reaktion auf die unerträglichen Zumutungen an die Bauern durch die Willkür von Herrenmenschen war Rückzug in den kleinbürgerlichen Mief der Gemütlichkeitsarenen, heute soziale Plastik des Wohnzimmers genannt. Es kann ja wohl nicht an seiner Dummheit gelegen haben, dass er die Lehre aus den Aufständen der Armen und Entrechteten vollständig missachtete, denn diese Lehre formulierte der Anführer der Bauern Thomas Müntzer: „Geschlagen ziehen wir nach haus. Uns’re Enkel fechten’s besser aus!“ Hoffentlich. Darauf möchte man hoffen. Das ist eine menschenwürdige Erwartung.

Abgesehen davon, dass vor allem im letzten Jahrhundert gerade die nachwachsende Jugend jede Mord- und Totschlagsideologie getragen hat, weil sie fatalerweise glaubte, jung zu sein hieße eben, der altväterlichen Macht- und Mordlüsternheit nicht unterworfen zu sein, gibt es keine andere begründete Hoffnung für vernünftige Menschen, als die, dass doch eines Tages eine neue Generation aus der ewigen Quarktreterei aussteigen wird.
Diese Hoffnung allein reicht nun wirklich aus, um Weihnachten gerade mit kritikfähiger Vernunft vollen Herzens zu feiern: Die Enkel fechten’s besser aus. Auf wen, wenn nicht auf die Neugeborenen als „neue Menschen“ ließe sich hoffen, dennoch hoffen, trotz allem hoffen, unerschütterlich hoffen und eben auch einsatzbereit hoffen?

Gerade in dieser Hinsicht und nicht wegen des universal-kapitalistischen Festmarketings kann Weihnachten tatsächlich ein Weltfest der Geburt der neuen Generationen sein. Das würde nicht nur dem Versicherungskalkül einer überalterten Menschheit aufhelfen – Motto: Weihnachten feiern wir die Erwirtschafter unserer späteren Renten –, sondern auch den Widerstand gegen den bisherigen Jugendkult der alten Säcke bedeuten, die sich ad libidum mal die Pfadfinder, mal die Jugendbewegung, mal die Komsomolzen, mal die Hitlerjugend und mal die Influenzer-Deppen schufen. Wohl verstanden sollten wir jetzt schon als universalen Festtag „Christmas for Future“ feiern.