Buch Einblicke in das Gesamtwerk von Ernst Volland

Bazon Brock. Einblicke in das Gesamtwerk von Ernst Volland. Berlin 2021
Bazon Brock. Einblicke in das Gesamtwerk von Ernst Volland. Berlin 2021

Galerie Rambow, Domplatz 16, D-18273 Güstrow, 2. Okt. 2018

Titelgestaltung: Ernst Volland und Peter Großhaus

Gestaltung: Peter Großhaus

Redaktion: Marina Sawall

Ernst Volland ist ein künstlerisches Multitalent und sein Werk ist von aktueller Wirkmächtigkeit. Der Künstler schrieb gefakte Kinderbriefe an Politiker und Geistliche. Von ihm stammt der Spruch: »Ich trinke Jägermeister, weil mein Dealer zur Zeit im Knast sitzt«. 1987 gründete er mit Heinz Krimmer die Fotoagentur »Voller Ernst«, nur für komische und ungewöhnliche Fotos. 1989 veröffentlicht er »Dies Buch ist pure Fäschung« - Fakes.« Dieses Buch führt in der Folge zu einigen Fake Beiträgen für das Fernsehen. Bazon Brock bezeichnet Ernst Volland als einen der herausragenden Einzelgänger in der zeitgenössischen Kunst, der durch die »kabarettistische Vernunft« (Brock) mit Fake und Witz aufklärend wirkt. Brock: »Ich kann das Volland’sche Werk mit seinem unendlich reichhaltigen Äußerungspotential und Expressionsvermögen nur empfehlen.«

Erschienen
01.10.2021

Autor
Brock, Bazon

Verlag
Edition Domplatz/Büchse der Pandora

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
978-3-00-070330-0

Umfang
86 S.; farbig illustriert

Einband
Broschiert

Seite 5-83 im Original

Einblicke in das Gesamtwerk von Ernst Volland

Galerie Rambow, Domplatz 16, 18273 Güstrow, 2.10.2018, 20 Uhr

Wir haben hier einen Mann vor uns, der Ihnen als Westdeutscher vielleicht etwas fremd erscheint. Aber Sie können sich vorstellen, daß er in Westdeutschland ungefähr die Position einnimmt, die insgesamt die Ostdeutschen im heutigen Deutschland einnehmen, die immer schon von der Untreuegesellschaft distinguiert, vielleicht diskriminiert, nicht beachtet wurden, obwohl sie scheinbar Erfolge hatten, die ziemlich einsam blieben, selbst dann, wenn man sie in Ämter berief. Es gibt eine ganze Reihe solcher Einzelfälle von nicht Einpaßbaren, nicht Angepaßten, die weder einer Partei angehören, noch in irgendwelchen Vereinsmeiereien befangen sind. Zu ihnen gehört Rambow, der von 1963 an eine zentrale Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen ist, soweit es um diese merkwürdige Verbindung der alten deutschen angewandten Theorie der Künste ging. Das begann etwa um 1870, als der Begriff der angewandten Kunst entwickelt wurde. Vorher gab es schon die englische Arts and Crafts-Bewegung. Von ungefähr 1870 an entsteht mit dem Begriff des „Design“ eine völlig neue Haltung gegenüber den Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten der Künste. Der Begriff Design wurde von Darwin entwickelt und hat eine solche Brisanz bekommen, weil seine Feststellung des survival of the fittest das to fit in als ein Einpassen bestimmte. Das ist genau das, was mit dem Design-Begriff gemeint war: Der fittest ist nicht der Stärkste, sondern der in bestimmter Weise auf die Umweltbedingungen am besten Reagierende. Das wurde dann umgekehrt: Wir reagieren nicht nur passiv, sondern wir können selber aktiv die Umwelt darstellen und von uns aus diese Einpassungsvorgänge entwickeln. Und zwar nicht, indem wir zunächst annehmen, daß es da Formen des Sozialen gibt, in die man sich hineinflüchten kann, eingepaßt werden kann wie der Kleinbürger, der sich anpaßt. Einpassung ist etwas ganz anderes als Anpassung. Mit dem Design war nun die Aufgabe gegeben, durch Gestaltung der materiell-physischen wie der ideellen Lebensbedingungen von Menschen dafür zu sorgen, daß diese Gestaltung das soziale Verhalten, die mentale Aktivität und Prägung der Menschen verändert und zwar in dem allgemein gewünschten Sinne, den man damals noch mit dem Begriff des sozialen Fortschritts verband.

Das waren vornehmlich Vorgänge, die sich unter dem Stichwort Lebensreform subsummieren ließen. Das betraf den Entwurf von hygienischen wie vom Tragekomfort her sinnvollen Kleidungsstücken oder von Möbeln, aber auch die Zubereitung der täglichen Nahrung. Es gab die großen Auslagerungsbewegungen, die man z.B. in Berlin kennt, als von der Großstadt aus im Umfeld große Plantagen für den Anbau von Obst angelegt wurden, das dann von den Erzeugern direkt in der Stadt an diejenigen verkauft wurde, die Wert darauf legten, Frischware zu beziehen. Es gab ja die heutigen Kühlsysteme noch nicht, es gab keine Möglichkeit, etwas längerfristig von irgendwoher anliefern zu lassen, wie es heute üblich ist. Alles mußte hier angebaut werden und zwar auch unter Bedingungen, die den gesteigerten Ansprüchen der Design-affinen Bürger entsprachen.

Die Forderung nach Design kam von kaiserlicher Stelle. In diesem Fall war es der Kaiser von Österreich, der sagte: Wenn die Menschheit jenseits dessen befähigt werden soll, was die Franzosen und die Engländer im Bereich der industriellen Produktion schon geleistet haben, ist das für die deutschsprachigen Länder – zu denen Deutschland, Österreich und die Schweiz in den verschiedensten Formationen gehörten – nur möglich, indem man das Publikum erzieht, also die Nachfrage stimuliert. Die Konkurrenzbemühungen Deutschlands wurden mit dem Begriff „made in Germany“ diskreditiert. Er sollte zeigen, daß die Ware mit diesem Siegel aus einem Land kam, das industriell zurückgeblieben war und mit französischen und englischen Methoden nicht mithalten konnte. Aber ab 1890 kam es plötzlich zum Umkehreffekt: „made in Germany“ wurde zu einem Qualitätssiegel. Warum? Weil eben nicht nur von der industriellen Fertigungsweise, sondern auch von der Nachfrageseite her das Niveau gesteigert wurde. D.h. der Kaiser bestimmte: Gründet Schulen für angewandte Kunst, damit das Publikum zur Entwicklung von so hohen Qualitätsstandards befähigt wird, daß die englischen und französischen Produkte dem nicht mehr genügen. Es mußten also Produkte geschaffen werden, die dem erhöhten Nachfragestandard für Qualität entsprachen. Das war die Revolution, die aus der Entfaltung im deutschsprachigen Raum, vornehmlich in Deutschland, resultierte und innerhalb von dreißig Jahren die weit zurückgebliebenen deutschsprachigen Länder zur führenden Produktionskraft in Europa stilisierte. D.h. die Nachfrage, das Qualitätsurteil der Bürger, ihre Fähigkeit, Urteile über Produkte in ihrer sinnfälligen Verwendung zu entwickeln und entsprechend einzufordern, war der eigentliche Motor der industriellen Entwicklung; nicht die Technologien, sondern die Erziehungs- und Bildungserfolge waren entscheidend für die Prägung der Konsumenten im Hinblick auf ihr Recht, sich möglichst hochwertige Waren zu günstigen Preisen leisten zu können.

In dieser Bewegung spielten die Designer auf allen Ebenen eine Rolle. Sie kennen das wahrscheinlich aus dem Bereich der Anzeigen, damals noch Reklame genannt, wenn Sie sich erinnern, daß z.B. Frankreich, das ja zu den führenden Industrienationen gehört hatte, aber ab den 1880er Jahren weit hinter der deutschen Industrie zurückblieb, mit Künstlern wie Toulouse Lautrec propagandistisch für Geschmacksbildung eintrat. Den Begriff taste hatten allerdings die Engländer schon früher entwickelt. Die gesamte Aufklärung des 18. Jahrhunderts, von 1710/11 an, als die ersten Zeitungen erschienen, bis in die Goethe-Zeit, war der Bildung des Geschmacks von Menschen gewidmet. Aber damals galt sie der Oberschicht, im wesentlichen der adligen Klasse, vornehmlich deren jungem Nachwuchs, der die Grand tour machte und sich geschmacklich bildete. Sie haben Europa geprägt hinsichtlich der Geschmacksanforderungen an Intellektuelle, an Künstler und an Großbürger, aber nicht an die breite Masse. Die Deutschen übernahmen das dann für die Konsumenten. Das war eine völlig neu geschaffene Klasse von fähigen Verbrauchern, die durch ihre Anforderungen an das Produkt die Entwicklung vorangetragen haben. Das meint der Begriff Design: Wir haben jetzt die Aufgabe, den Erwartungen der Menschen Ausdruck zu geben. Damals nannte man das Bildungsgeschehen – betrieben von Arbeiterbildungsvereinen und Volkshochschulen, großen Institutionen, die es heute noch in den meisten Städten gibt. Übrigens waren das alles Gründungen von deutschen Professoren – wie beispielsweise der geniale Kunsthistoriker von Rintelen – in den 1860er, 1870er und 1880er Jahren, hier im Osten besonders virulent. Rostock und Greifswald waren Zentren dieser Bewegungen.

Man hat aus der Entwicklung dieser Tendenzen generelle Schlußfolgerungen gezogen, die mit dem Begriff der Moderne, mit der Modernisierung verbunden waren. Wenn also das Volk bereit war, als neue Klasse der Konsumenten durch höhere Anforderungsniveaus geschmacklicher Bildung die Produktion zu steigern, würde von dieser neuen Klasse auch der soziale Fortschritt getragen, nicht mehr einfach nur von Arbeitern, sondern von gebildeten Arbeitern. Weswegen alle Arbeitervereine darauf ausgerichtet waren, den Arbeiter zu befähigen, urteils- und anspruchsfähiger zu werden, sodaß er ernst genommen werden mußte – nicht weil er Arbeiter war, sondern weil er gebildet war. Das ist in der Tat etwa in den 1920er Jahren in der Agitprop-Bewegung (Agitation – Propaganda) auf entscheidende Weise gefördert worden.

Man kann sagen: Die größte Bildungsinvasion aller Zeiten war die Arbeiterbildungsbewegung der 1920er Jahre, die wirklich alles erfaßt hat. Sie orientierte sich an der bürgerlichen Lebensreformbewegung, die von den 1880er Jahren an Modedesign, Nahrungsmittelproduktion, Häuserbau – denken Sie an das Bauhausprogramm „Luft, Licht und Hygiene“ – propagierte, um die Produktivkraft zu stärken.

Auch das deutsche Theater ist im Wesentlichen aus der Arbeiterbildungsbewegung hervorgegangen. Hauptmann intendierte nicht, irgendwelche Großbürger anzusprechen, sondern es gab von der Bühne herunter Kohlküchengeruch. Damit war klar, daß man es hier mit einer bestimmten Gruppe von Menschen zu tun hatte: eben mit denen, die in Mietskasernen lebten. Das war eine Bewegung, die sich an diejenigen richtete, die bereit waren, etwas zu lernen, weil sie selber ihren Zustand verändern wollten.

Das hat enorme Bedeutung bekommen, als sich dieser Bewegung auch politische Organisationen annahmen – Faschismus, Nationalsozialismus, die gesamte Sowjetbewegung weit vor 1917 –, die dann in den Konflikt kamen, entscheiden zu müssen, ob sie diese bestehenden Bewegungen der Modernitätsfortschrittsvorstellungen aufnehmen und in ihrem Namen weiterbearbeiten wollten, oder ob sie sich gezwungen sahen, dies einzuschränken. Denn die zu erwartende Konsequenz, die sich aus der Urteilsfähigkeit des gebildeten Publikums ergab, waren unendlich viele alternierende Meinungen und Vorstellungen, die nicht mehr unter einen Hut zu bringen waren. Also mußten alle großen politischen Bewegungen selbst gegen die Moderne antreten, um sich zu behaupten. Zensur einführen, Parteipropaganda durchsetzen, bestimmte Sprachregelungen für obligatorisch erklären, das waren alles Bestrebungen, die gegen diese Modernitätsvorstellungen eingesetzt wurden.

Selbst jetzt, nach hundert Jahren, kommt man wieder auf Aspekte dieser Art zurück. Die Bewegung ist nie gänzlich zum Erliegen gekommen, aber sie wurde nicht mehr von Vorstellungen allgemein anerkannter Modernitätsdynamik getragen, sondern von Einzelnen, von künstlerisch oder wissenschaftlich befähigten Individuen. Viele Wissenschaftler haben sich als Träger solcher Bildungsideen historische Namen gemacht. Im 19. Jahrhundert gab es mehr Wissenschaftler als Künstler, die die Arbeiterbildungsbewegung getragen haben. Es waren alles deutsche Ordinarien wie der besagte von Rintelen, die in Rostock, Greifswald, dann im ganzen Deutschen Reich, vor allem im Ruhrgebiet, diese Kampagnen entwickelten. Übrig geblieben sind dann eigentlich nur Künstler, warum? Weil Wissenschaftler für ihre Produktion Mittel brauchten, die sie selbst als Individuen niemals aufbringen konnten. D.h. die Wissenschaftler mußten sich dem kulturellen Diktat von Parteien, von Kommissionen, die Gelder vergeben, von Spendengebern unterwerfen. Nur den Künstlern, die nichts als Papier und ein bißchen Kohle, Bleistift und Farbe brauchten, gelang es, sich in dieser individuellen Autonomie zu behaupten. Sie bekamen schließlich im Grundgesetz, Art. 5,3, von Carlo Schmid und den fünf wesentlich daran beteiligten Frauen, darunter Louise Schroeder, die Oberbürgermeisterin von Berlin als die bekannteste, durchgesetzt, die Lizenz zur Freiheit. Art. 5,3 GG heißt: Wissenschaft und Kunst sind frei. Nicht Unternehmer sind frei, nicht Zahnärzte sind frei, nicht Politiker sind frei, sondern Wissenschaft und Kunst sind frei.

In diese Tradition gehören u.a. solche Figuren, wie sie Gunter Rambow selber darstellt oder Klaus Staeck oder der hier präsentierte Ernst Volland, der in dieser Kraft der Selbständigkeit und Unbeeindruckbarkeit durch äußere Versuche der Einwirkung, wie beispielsweise Zensur, lebt und wirkt. Der hier ausgelegte Band über sein Werk, den ich Ihnen ganz dringend empfehle, zeigt von der ersten bis zur letzten Seite das Prinzip seiner Arbeit. (1) [Abb. 1] Sie sehen hier auf dem Einbanddeckel an der Freiheitsstatue die wirkliche Bedeutung der Flamme der Freiheit, die alles verzehrende Macht des Feuers der Kriegsmaschinerie beispielsweise oder der Schwerindustrie, die Ihnen erkennbar macht, was das Prinzip der Arbeit dieser Einzelgänger ist.

Jeder fragt sich ja: Was hat uns ein Individuum zu sagen, wenn wir doch die Parteien haben, die Kommissionen, die wissenschaftlichen Beiräte, die Parteiprogramme? Was kann ein Einzelner als Künstler oder Wissenschaftler überhaupt ausrichten wollen? Wieso trauen wir ihm überhaupt zu, daß er in irgendeiner für uns bedeutenden Weise auf unser Weltverhältnis einwirken kann? Das ist schließlich nicht so einfach. Wenn der Fürst spricht und man lacht, wird man hinausgeworfen oder ist ein für allemal aus der Gruppe derer ausgeschlossen, die beim Fürsten reüssieren können. Wenn man beim Auftritt des Ministerpräsidenten oder des Polizeipräsidenten lacht, hat man es mit ähnlichen Sanktionen zu tun. In der Presse ist das heute nicht anders; wer bei irgendwelchen Vorträgen an der falschen Stelle lacht, z.B. beim Bundespräsidenten, gilt sofort entweder als rechts- oder als linksradikal. Etwas anderes fällt der Gesellschaft heute nicht mehr ein.

Das ist die Kümmerlichkeit der Verhältnisse, in denen wir leben. Es gibt keine qualifizierten Urteile über das, was Einzelkämpfer leisten, weil den Kollektiven entweder die Konkurrenz dieser Einzelnen durch ihre Wirksamkeit unangenehm wird, denn offensichtlich sind sie wahrheitsfähiger als die Kollektive, oder auf der anderen Seite, weil sie die Autorität des Verbandes untergraben, z.B. in der Vorstellung über die Gemeinschaft der Einzelgänger, die in sich natürlich ein Widerspruch ist, aber der ist relativ harmlos. Es ist bisher noch nie anerkannt worden, daß diese scheinbaren Einzelgänger, diese zur Asozialität tendierenden Menschen in Wahrheit diejenigen sind, die in höchster Form bindungsfähig sind. Sie werden von einem einzigen Gedanken angetrieben, den es seit der Antike gibt, seit 2.500 Jahren, und das ist der Gedanke, daß das, was eine Gesellschaft im Grunde trägt, mit dem Begriff der Gerechtigkeit abgedeckt wird.

Warum konnten diese einzelnen Menschen überhaupt den Anspruch erheben, gehört zu werden? Weil die westliche Entwicklung seit dem 14. Jahrhundert, seit Petrarcas Zeiten, die Bedeutung der Individuen als Aussagenurheber begründet hat. Vorher gab es keine Künstler und keine Wissenschaftler, weil man niemandem als Einzelnem zugestand, Aussagenautorität für sich in Anspruch nehmen zu können. Autoritäten, das waren die Stände, die Bischöfe, die Päpste usw., vor allem aber die Adligen in ihrer politischen Funktion. Der Name Bürger stammt ja daher, daß Menschen im Schutze einer Burg lebten, und natürlich war klar, daß, wer im Schutz einer Burg lebt, abhängig vom Burgherrn ist.

Wie kam es dazu, daß Individuen so etwas zugetraut wurde? Daß schließlich Europa 600 Jahre lang die Welt beherrschen konnte? Die Antwort lautet: Weil Individuen auftraten, die als Künstler und Wissenschaftler Autorität durch Autorschaft gewonnen haben, indem sie in ihren Urteilen auf Eigenständigkeit beharrten.

Was trägt denn diese Aussagenautorität, die Autorität durch Autorschaft? Was ist eigentlich der Hintergrund der Wirkungsabsicht? Das kann man leicht erkennen. Jedes Mitglied einer Gesellschaft, das nicht zur Führungsschicht gehört, hat die natürliche Neigung, die eigene Position im Hinblick auf das soziale Bedingungsfeld zu sehen, also zu fragen: Bin ich in meiner Position als Arbeiter, Sklave oder was immer festgehalten durch die politischen oder durch die schicksalhaften Verhältnisse und ist das akzeptabel, herrscht hier, auf den Bedingungen der gesellschaftlichen Ordnung aufbauend, der Begriff der Gerechtigkeit?

Ein Mann wie Volland ist genau so jemand, der Gerechtigkeit einklagt als das, was eine Gesellschaft trägt. Dahinter steckt keine allgemein christliche oder buddhistische Vorstellung oder sonstwie hervorgebrachte Ideologie des wohlmeinenden Patriarchen oder des großmütigen Fürsten, sondern es ist seit der Antike der einfache Gedanke: Eine Gesellschaft können Sie mit nichts anderem als der Orientierung auf Gerechtigkeit aufbauen. Aber was ist Gerechtigkeit? Das wird schon seit langem nicht mehr von Parteien und auch nicht mehr von Wissenschaftlern im Generellen abgehandelt. Wenn Sie heute in dieser Hinsicht etwas wissen wollen, müssen Sie zu Herrn Pispers ins Kabarett gehen und nicht zu Herrn Habermas in die Vorlesung.

Von Habermas erfahren Sie nichts über die heutigen gesellschaftlichen Zustände, bei Pispers werden Sie in einer Abendsitzung von zwei Stunden unmittelbar mit so gut wie allen brennenden Problemen des sozialen Zusammenlebens konfrontiert.

Und damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt. Menschen wie Volland oder Rambow oder Staeck folgen einer anderen und neuen Figur, die in gewisser Weise schon seit Sokrates bekannt ist, nämlich der überragenden Macht der ironischen Distanzierung, der Souveränität, die nicht ins Klagen verfällt, sondern in Anklage übergeht. Die Klagenden unterwerfen sich, weil sie denken, sie seien schwach, sie könnten sowieso nichts anderes tun, als sich zu beklagen und zu jammern. Die anderen gehen in den Konfrontationsmodus über. Das sind die Figuren, die oft karikiert und lächerlich gemacht werden wegen der tragischen Disproportion zwischen der Macht des Einzelnen und dem Konflikt, dem sie ausgesetzt sind. Aber insgesamt hat sich doch seit 1900 in Europa gezeigt, daß der Fortschritt im Sinne dieser Modernitätsbewegung ausschließlich durch die kabarettistische Vernunft getragen wird. Seit den Romantikern gibt es den Begriff der romantischen Ironie, also Aussagen zu entwickeln mit dem Hinweis darauf: Wir erproben mal experi-mentell, was herauskommt, wenn wir so denken oder uns so orientieren und uns nicht pathetisch distanzieren als diejenigen, die die Wahrheit wollten, aber nicht durchsetzen konnten, sondern wir widerrufen! – Damit sind wir bei einer ent-scheidenden Leistung der kabarettistischen Vernunft, die u.a. in eine Großaktion von Ernst Volland eingegangen ist. (2) [Abb. 2]

Wenn Sie da das große Pseudogemälde „Blaise Vincent, Sprung von der Siegessäule“ sehen, so ist das ein Beispiel für die Strategie der kabarettistischen Vernunft, die auf den Begriff der wahren Falschheit eingeht. Kabarettistische Vernunft heißt: Ich habe etwas als wahr erkannt, wenn ich weiß, daß es falsch ist, denn die Aussage „Dies ist falsch“ ist ja wahr. Wenn aber ein Großmufti oder Parteihengst behauptet, daß dies die Wahrheit sei, lachen alle. Woher weiß der das? Jeder kann das beliebig widerlegen. Wenn er aber sagt, das ist falsch, dann ist das die Wahrheit.

Diese zentrale Figur der kabarettistischen Vernunft wird heute mit dem Begriff des fake verbunden. Orson Welles hat 1973 mit F for Fake ein berühmtes Werk dazu geschaffen, einen der besten Filme aller Zeiten, den Sie unbedingt ansehen sollten, an dem alle großen Gestalten dieser individuellen Trägerschaften der neuen Bewegung teilnahmen. Auch Picasso hat mitgespielt.

Faker sind Leute, die bekennen, daß das, was sie tun, falsch ist. Aber das als falsch Erkannte ist ja wahr. So daß wahr nur noch das ist, was als Falsches erkannt wurde. Das ist die zentrale Form der Kritik, die die Wissenschaft betreibt. Karl Popper, ein Standardphilosoph, der in den 1950er Jahren von England aus Weltrevolution machte, sagte, Wissenschaftler seien verpflichtet, das, was sie behaupten, die sogenannte Hypothese, als falsch zu beweisen. Wenn ein Wissenschaftler beweist, daß das, was er sagt, falsch ist, dann hat er objektiv einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte geleistet. Die Wissenschaftler, die behaupten, sie hätten die Wahrheit gefunden, sind Narren, denn es könnte ja nur ein Zufallstreffer gewesen sein. Systematisch Wissenschaft zu betreiben, heißt, Aussagenbehauptungen, Hypothesen zu widerlegen.

So hat Volland in Berlin mit der Ausstellung des erfundenen Künstlers Blaise Vincent ein berühmtes fake gestartet. Es gibt andere Künstler wie etwa Peter Weibel, die fiktive Künstlerbiografien ausstellten und damit vorgeführt haben, wie die gesamte Gesellschaft, vornehmlich die Presse – die ist immer die Dümmste und Professoren sind die Zweitdümmsten – darauf hereinfällt. Diese Aktionen waren bewußt darauf angelegt, das Attitüdentheater der Presse, von Galerien, von Biographieschreibern, von Lohnsklaven aller Art als Erzeugung von Falschheit darzustellen und damit zu zeigen, daß sie die Wahrheit sagen. Davon lebt ja der ganze Kunstbetrieb. Wenn er überhaupt lebt, sonst ist er ja längst in den Markt übergegangen. Es gibt keine Kunst mehr, es gibt nur noch Markterfolge. Es bleibt nur noch, wie die Wissenschaftler zu sagen: Was wir tun – als hypothetische Behauptung –, ist wahr, soweit wir nachweisen können, daß es falsch ist. Es gilt nur: Was als falsch erkannt wird, bezeugt als solches den Wahrheitsanspruch.

Volland hat in vielerlei Hinsicht solche Attitüden der kabarettistischen Vernunft übernommen. Sie sehen da schemenhafte Darstellungen der sogenannten Poetik der Unschärfe. [Abb. 3-5] Von dem am Weltmarkt erfolgreichsten Künstler Gerhard Richter kennen Sie das als ein Verfahren aus den 1960er Jahren. Richter stammt aus der DDR, wie die zehn großen, in Westdeutschland erfolgreichsten Künstler auch. Er hat dieses Verfahren der Unschärfe im Hinblick auf ein ganz anderes Problem angesprochen: nämlich, daß es in der Malerei Unschärfe erst gibt, seit es die Foto- und Filmoptiken gibt.

Denn erst die Filmoptik erzeugte das Phänomen der Unschärfe! In der Malerei gibt es keine Unschärfen. Das sfumato bei Leonardo da Vinci, also der vernebelte, verrauchende Horizont war eine ganz andere, abgeleitete Technik der Begrenzung eines Wahrnehmungsfeldes. Das hatte mit Unschärfe nichts zu tun.

Der Effekt, den Sie hier sehen, ist, daß wir auf kabarettistische Vernunft, auf eine bestimmte Art der Selbstreflexion als Selbstbefragung oder Selbstthematisierung der Schauenden angewiesen sind, nämlich auf den Zusammenhang der kognitiven Verfahren der Vernunft und des Verstandes mit Verweis auf das, was wir tatsächlich wahrnehmen. Was wir wahrnehmen, nennen wir evident. Evidere heißt: Wir sehen nach eigenem Augenschein: Das Bild dort hinten in der Mitte scheint so auszusehen wie das Porträt von Anne Frank. Das Bild rechts daneben sieht so aus wie die Hängeaktion beim Einmarsch in Polen, und die Gesellschaft unten wie die berühmten Lynchjustizszenen aus dem Süden der Vereinigten Staaten. Wenn Sie sich diese Bilder ansehen, kommt es zum Konflikt zwischen dem, was Sie begrifflich fassen können, nämlich Selbstjustiz des Mobs im Süden der USA, und dem, was Sie namentlich fixieren; während andererseits der Augenschein, die visuelle Bestätigung für dieses Begriffsbild, nur unscharf gegeben, nur eine Annäherung sein kann. Die Frage ist: Ist das eigentlich der Erfolg der Begriffsbildung, daß die Wahrnehmung so weit zurückgedrängt wird, daß sie nur noch auf eine Art von Anschein reduziert wird, oder ist es umgekehrt, brauchen wir den Anschein, um endlich dazu angehalten zu werden, Begriffe zu bilden? In diesem Fall ist es klar: Uns werden zuerst tausendfach in allen Zeitungen Anne Frank und die Erhängungsszenen von Polen bis hin zu den Südstaaten vorgeführt. Das prägt sich uns ein, brennt sich uns ein, wie Volland sagt. Das sind in unser kollektives Gedächtnis eingebrannte Bilder, die dann in eine Ebene zurückversetzt werden, die das Denken und Begriffsbilden dazu herausfordert, sich klar zu machen, was man da eigentlich sieht, wenn man so eine Szene vor sich hat.

Gerhard Richter hat 1977 damit angefangen, indem er die Stammheim-Gefangenen in Bildform in eben dieser Poetik der Unschärfe, ausgerechnet für die Vorstandsräume der Deutschen Bank, reproduziert hat. Das ist die Sozialperversion erster Klasse, das nennt man Pornographie.

Es ist nicht berichtet worden, daß irgendeinem Banker aufgefallen wäre, welche kognitiven Dissonanzen zwischen dem, was er sieht, und dem, was er weiß, was er begrifflich gebildet hat, ihm zugemutet werden. Das können Sie leicht verstehen, wenn Sie bedenken, daß das Schicksal der Deutschen Bank in einem immerwährenden Abstieg besteht, aus der Unfähigkeit heraus, das eigene Sehen, Wahrnehmen mit der eigenen Begriffsbildung in Übereinstimmung zu bringen.

Die Banker waren völlig abgekoppelt von der sozialen Realität, der Natur, den ökonomischen Prozessen, haben sich auf abstrakte Begriffsschemata kapriziert und schließlich den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Die Weltfinanzkrise war nichts anderes als die Abkoppelung der Denkprozesse von der Wahrnehmung für das Betreiben der Spekulationsvorgänge in Millisekunden, erzwungen durch die neue Computertechnik. Wer abgekoppelt von der Wirklichkeit denkt, muß notwendigerweise in seinem Weltbezug zusammenbrechen.

Das gilt für Deutsche allgemein, warum? Weil das Bewußtsein der eigenen Macht und Stärke, die Verpflichtung auf die Evidenz, auf das, was man sieht, was vor Augen steht, was jedermann erkennt, aufgehoben wird. Das Denken verselbständigt sich, was wiederum zu solchen katastrophalen Hyperkritiken oder Abstraktionsakrobatiken führt, die am Ende nichts bringen.

Wer dagegen Gerechtigkeit fordert im Hinblick auf die Einheit von Evidenz, also auf die Einheit dessen, was ich mit eigenem Augenschein bestätigen kann, und dem, was begrifflich zugeordnet wird, und dann erfährt, daß da eine Dissonanz ist, daß das nicht übereinstimmt, wird sich fragen: Warum ist das so? Werden wir belogen durch die Bilder oder ist die Denkbewegung des Begriffs falsch? Dann kommt man etwa mit der Forderung, auf Gerechtigkeit und auf Wahrheit orientiert zu sein, schnell ins Schleudern. Die Folge sind Ohnmachtserfahrungen. Diese Diskrepanz zwischen Verpflichtung auf Wahrheit oder Gerechtigkeit – griechisch ist das eine Einheit – und andererseits Erfahrung der Ohnmacht stellt das Handlungsprojekt dieser Einzelkämpfer dar. Sie sehen sich gezwungen, über die verlorene Ehre nachzudenken. Diesen Begriff hat Schiller geprägt: der Täter aus verlorener Ehre, dem absolut nicht mehr die Möglichkeit gegeben ist, seinem Gerechtigkeitssinn zu entsprechen und der deswegen als Asozialer oder Krimineller stigmatisiert wird.

In Vollands „Eingebrannten Bildern“ wird der Begriff der Unschärfe in diesem Zusammenhang des Widerspruchs zwischen Erfahrung der Ohnmacht und großer Verpflichtung auf Gerechtigkeit und Wahrheit besonders gut dargestellt. Wenn Sie den Band zum Lebenswerk Vollands (3)  erwerben, empfehle ich Ihnen die Seite 90, wo Christian Metz, ein Literaturwissenschaftler aus dem Umfeld der Kleistforschung, in geradezu genialer Weise darstellt, wie ein solches Verfahren erschließbar ist, z.B. in Kleists Novelle „Verlobung in St. Domingo“.

In einer Notsituation kommt dort ein junger weißer Mann, der noch nicht vollkommen von der imperialistischen Allmachtsphantasie verseucht ist, mit Haitianern zusammen. Er verliebt sich jenseits der normalen historischen Ordnung – Weiße hie, Schwarze da – in eine Haitianerin. Nun kommen die schwarzen Widerständler zurück, die den weißen Liebhaber sicherlich malträtieren und die Verlobte wegen ihrer Bindung an einen Weißen bestrafen würden. Sie kann die Haitianer überzeugen, daß sie auf ihrer Seite steht und den Weißen in ihrem Bett bereits gefesselt habe. Das akzeptieren die Aufständischen. Sie hat durch die Fesselung sich und ihn gerettet.

Was wir von Volland gezeigt bekommen, ist nicht eine bloße Illustration der Vorgänge, sondern ein Verweis darauf, daß eine anscheinend sträfliche Tat der Rettung von Wahrheit und Gerechtigkeit dienen kann.

Welches sind denn nun, wenn man sie belastet, die Kriterien der Wahrheit und Gerechtigkeit? Das ist sozusagen das wesentliche Motiv dieser Einzelkämpfer: Sie müssen für sich selbst entscheiden. Sie können sich weder auf die Gesellschaft noch auf die Wissenschaft verlassen, die ihnen schon sagen wird, welche Kriterien richtig sind und welche falsch. Das ist einerseits eine hohe Anmaßung und andererseits eine unglaubliche Selbstverpflichtungsleistung; und es ist andererseits der Konflikt zwischen der Ethik im Sinne der Orientierung auf Wahrheits- und Gerechtigkeitsansprüche und der Ästhetik, die alle diese Phänomene der Sinnhaftigkeit repräsentiert und ins Werk setzt.

Das geschieht auf die unterschiedlichsten Weisen. Volland ist kein Künstler, der seine eigenen künstlerischen Interessen in die Öffentlichkeit bringt, damit alle sagen: Oh, ein großer Künstler!, sondern er will sich als Künstler beweisen, indem er glaubhaft macht, daß das, was er sagt, für die Gesellschaft, also Menschen seiner Art, wichtig sein kann, obwohl diese Aussagen von einem kleinen schwachen Individuum stammen und obwohl die Großkollektive die Meinungsführerschaft haben.

Wie kann man das verstehen? In der Evolution gibt es für die Säugetiere eine bemerkenswerte Entwicklung, die davor in den Sozietäten der Natur nicht vorkam. Bei den Termiten z.B. sind die Individuen dumm. Sie können nur zwei Befehlen gehorchen: Mach, was dein Nebenmann macht und mach es in einer bestimmten Taktfolge, gelenkt von olfaktorischen Kommandos. Aber das Kollektiv der staatenbauenden Termiten, das keinen obersten Führer kennt, ist unglaublich intelligent, so intelligent, daß es etwa im Hinblick auf Klimatisierung von Räumen alles übertrifft, was die westliche Welt mit aller Wissenschaft bis heute als Klimatisierungserfolg erreicht hat.

Bei den Säugetieren ist es genau umgekehrt, bei ihnen sind die Individuen extrem intelligent. Man hat das 1964 mit einem berühmten Experiment der amerikanischen Armee bewiesen. Ein Mann wurde aus dem Urwald geholt, der mit 15 Jahren noch keinen Weißen, kein elektrisches Licht gesehen hatte. Er kannte nichts und konnte doch innerhalb von wenigen Jahren zum Jetpiloten ausgebildet werden.

Das heißt, die Individuen sind ihrer Potenz nach extrem intelligent. Sie repräsentieren alles Wissen der Menschheit überhaupt, wenn man sie entsprechend einsetzt. Aber die Kollektive sind dumm. Ob Parteitagsbeschluß, Stammtischordnung, Berufungskommission oder Ministerialausschuß, herauskommt immer nur, was jedes Mitglied als Individuum als völlig absurd ansehen und sich fragen muß: Ist das das klägliche Resultat eures Nachdenkens? So gut wie jedermann fragt sich, warum bei allen Kollektivbeschlüssen so viel weniger herauskommt, als alle die klugen Mitglieder des Ausschusses für richtig halten.

Dieser Konflikt ist dem künstlerischen Arbeiten sowieso inhärent. D.h. wenn ein Einzelgänger sagt, „Ich bestehe darauf, daß meine Erkenntnisse sinnvoll für alle als Autorität durch Autorschaft eingesetzt werden können“, dann hat er das backing, die Unterstützung der Evolution selbst. Denn er weiß, auch in der restlichen Gesellschaft gibt es nur intelligente Individuen und dumme Kollektive. Es gibt keine andere Möglichkeit. Selbst eine Konferenz z.B. von Nobelpreisentscheidern – das sahen wir jetzt im Hinblick auf den Nobelpreis für Literatur, der 2018 „wegen der Krise in der Schwedischen Akademie“ ausgesetzt wurde (4)  – ist recht dumm. Das ist der Konflikt, dem ein Ernst Volland oder ein Klaus Staeck oder ein Gunter Rambow ohnehin immer ausgesetzt sind. Insofern sind sie dann doch gedeckt durch die Evolution der menschlichen Intelligenz, da sie ja für sich in Anspruch nehmen, das, was allen zukommt, nämlich individuelle Intelligenz, tatsächlich mit Autorität, also Autorität durch Autorschaft zu belegen.

Das ist die Geschichte des westlichen Erfolges, denn in der chinesischen – einer der westlichen Welt bis 1200 haushoch überlegenen – Kultur gab es den Begriff der Individuation nicht. Es gab auch keine Machtstellung des Individuums. Diese wurde nämlich erst von der christlichen Theologie entwickelt. Die Unmittelbarkeit jedes Individuums in seiner Beziehung zu Gott ist eine Vorstellung, die es nur im europäischen Raum gibt, vornehmlich durch die mit der Luther’schen Reformation protestantisch durchgesetzte christliche Ethik. Dieses Alleinstellungsmerkmal ist der Grund dafür, daß Europa, obwohl bis 1200 weit hinter China, sogar weit hinter indischen Pascha- oder moslemischen Staaten zurückliegend, plötzlich die Welt beherrschte, weil alles, was wir als Fortschritt der Moderne kennen, nichts anderes ist als die Durchsetzung von Autorität durch Autorschaft. Diese Individuen haben die Kraft, ihr Wissen durchzusetzen, indem es ihnen gelingt, dem, was sie über die Natur, über das Soziale, über die Metaphysik oder über die Poesie herausgefunden haben, tatsächlich Geltung zu verschaffen.

Wir sehen, wie Volland das umsetzt. Da hinten liegen sechzig seiner Publikationen aus. Er ist Herausgeber von Künstlerbiographien, etwa zu Heartfield, einem seiner Vorgänger in Deutschland, und hat eine der besten Editionen von Heartfields Propagandablättern in einer Weise ediert (5), daß diese geniale Leistung jedermann klar wird und nicht erst durch Kommissionsbeschluß preisverleihender Herren aus dem Grafikmilieu verdeutlicht werden muß. 

Das gleiche Prinzip findet sich im Hinblick auf die Kunstgeschichte: Volland gibt das Werk der österreichischen Zeichnerin Elisabeth Kmölniger heraus, bewußt in Anlehnung an seine eigene reichhaltige Arbeit als Karikaturist, denn Karikatur ist ja der Höhepunkt der kabarettistischen Vernunft. (6) In der Karikatur zeigt sich durch Überzeichnung erst, was überhaupt in einer Sache steckt. Volland hat dann die Kraft, das so zu edieren, daß mit einem Schlag die individuelle Begründung der Autorität durch Autorschaft klar wird.

Sie sehen hier [Abb. 6], wie ein armer Idiot an einem kleinen Lagerfeuer sitzt. Hinter ihm steht der große Repräsentant einer mächtigen Organisation und sagt: „Ich schenke dir ein Fernsehgerät.“ Der Angesprochene sieht interessiert auf das Gerät, es brennt ja viel heller als sein Feuerchen! Und der Anbieter sagt: „Das Gerät habe ich dir geschenkt und jetzt kaufst du Strom!“ Das kennen wir vom Internet: Erst wird das Netz als kostenloses Kommunikationsmittel eingeführt und dann wird über die Gebühren, die erhoben werden, abkassiert – und in viel schlimmerem Maße noch über die Überwachungsinstrumente, die darin liegen. Schließlich ist das wieder Versklavung und Unterwerfung unter die Interessen der Leute, die diese Angebote machen. Und das Angebot kann ja niemand ablehnen. Die große Formulierung aus dem „Paten“ heißt: Wir machen den Menschen Angebote, die sie partout nicht ablehnen können; wenn sie ablehnen, spielen sie keine Rolle mehr, sind sozial ausgegliedert und verlieren ihre Überlebensfähigkeit. Das ist der Kern. Das macht diese Karikaturistin mit drei Strichzeichnungen klar. Zuerst wird ihm das Fernsehgerät geschenkt; im zweiten Bild fordert der Schenkende den Kauf von Strom; und im dritten ist er mit dem Urteil desjenigen konfrontiert, der sich seinem Feuer wieder zuwendet. In drei Zeichnungen ist klipp und klar gesagt, was je mit „Schweinesystem“ gemeint sein kann.

Da brauchen Sie keinen Habermas und keine kantische oder sonstige Grundausbildung Ihres Denkvermögens. Das ist es, was die Arbeit der Bildungsvereine meinte. Gebildet ist nicht, wer ein bestimmtes Wissen hat; gebildet ist, leider doch wieder eine Kant-Formulierung, wer sich seines Verstandes bedienen kann ohne Anleitung Dritter. Und das ist das Verfahren der kabarettistischen Vernunft. Ohne Hinweis auf Bildung, Vermögen oder Fremdsprachenkenntnisse ist man in der Lage, allein durch eigenes denkerisches Vermögen, dessen man sich zu bedienen wagt, schärfere Urteile über gegebene Zustände zu fällen als alle Experten zusammen. Denn die Experten haben ja bei jedem Urteil einen Vorbehalt, was ja ziemlich absurd ist. Sie sagen zum Beispiel: Das gilt natürlich nur im Speziellen, nur hier und nicht da; das gilt heute Morgen, aber um 17 Uhr schon nicht mehr... In die Geistesgeschichte ist der Vorbehalt der Experten eingeführt worden, indem man sagte: „Das ist alles richtig und wahr und ich verpflichte mich darauf, so wahr mir Gott helfe.“ Und da sehen Sie den Budenzauber dieser kollektiven Vernunft: Der Minister sagt zwar bei der Angelobung, er wolle dem deutschen Volk oder der Gruppe, die er vertritt, dienen, aber wenn er einen Fehler macht, trägt er die Verantwortung dafür nicht. Schließlich war es Gott, der ihm nicht geholfen hat, und so ist er entlastet.

In dieser Hinsicht hat sich über die 2.500 Jahre, in denen das schriftlich – wir sprechen jetzt nur von schriftlicher Tradition – vermittelt worden ist, nichts geändert. So können gerade Individuen, Einzelgänger, verdächtigbare Aussagenurheber das Allgemeinwohl besser repräsentieren als die großen Kollektive, die immer erst herausfinden wollen, was denn nun das Allgemeinwohl ist. Das Allgemeinwohl ist nichts anderes als das, was herauskommt, wenn alle Beteiligten sich auf gleiche Weise dafür einsetzen, daß Gerechtigkeit, Wahrheit, Angemessenheit usw. gelten.

Der Grundtenor aller dieser Überlegungen ist, daß wir in Westeuropa so lange etwas in der Welt zu sagen hatten – gekoppelt an die Begriffe Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat –, wie die Autorität der Individuen als Wissenschaftler und Künstler oder als Bürger galt. Bürger war ja bis ins 19. Jahrhundert nur jemand, der mehr vertrat als das, was er selber ist. Es war niemand Bürger, der nur seine eigenen Interessen als Bewohner dieser Stadt vertrat. Sondern derjenige war Bürger, der für die Angelegenheiten der Stadt eintrat, sich an der Stadtplanung, also der Entwicklung der Stadt beteiligte. Die Durchsetzung des Anspruchs, im einzelnen, individuellen Wirken etwas universal Geltendes zu vertreten, macht die Würde und, das kann man so sagen, die Basis der Anerkennung für solche Tätertypen aus, die auf nichts anderes bauen als auf ihre Individualität. Und das gilt in erster Linie für Volland, der tatsächlich unter all diesen Individualisten das umfangreichste Einzelwerk vorzuweisen hat. Er ist nach den Sachfeldern sogar der absolut umfassendste und vielfältigste Individualist, der zeigt, daß er sich nicht nur für seine eigenen künstlerischen Belange interessiert, sondern tatsächlich auf das orientiert ist, was das Allgemeinwohl ist: also auf die Gerechtigkeit. Das tut er, indem er sich auf allen Feldern einsetzt, sei es das Edieren von Werken anderer, sei es Propaganda für die Durchsetzung von Rechten bisher rechtlich nicht Gehörter.

Wenn wir heute wissen wollen, was in der Gesellschaft los ist, können wir uns nicht mehr an irgendeinem Beschluß einer Partei oder einer wissenschaftlichen Gruppierung, und sei es der Club of Rome, orientieren. Wir können uns ausschließlich an Individuen orientieren, von denen wir wissen, daß sie dieser Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit folgen und zwar unabhängig von jeder Art von gesellschaftlicher Zuordenbarkeit. Denn sie gehören ja zu niemandem! Und sie repräsentieren niemanden, sie sprechen für niemanden. Sie allein sind die für das Gemeinwohl Glaubwürdigen. Nur wer sich keiner Bindung unterwirft, ist dazu in der Lage, tatsächlich aus eigener Kraft heraus beispielhaft zu wirken, auch bei aller Beschränktheit der individuellen Fähigkeiten. Es geht hier wirklich um die Darstellbarkeit dessen, was Beispielhaftigkeit meint: exemplum, das, was uns ein Beispiel gibt. Denn wir können nur lernen, indem wir uns an Beispielen orientieren und sie nachmachen. Das ist die einzige Form, in der Lernen überhaupt möglich und effektiv ist. Die Beispielgeber für solche Lernprozesse hießen früher Vorbilder. Man weiß natürlich, daß es nicht mehr Vorbilder im Sinne des Aufgefordertwerdens sind, es so zu machen. Individuen sind Vorbilder im Sinne von „Ich gebe ein Beispiel für …“. Sie sagen nicht – wie die Parteiangehörigen – „Macht mich nach!“ , sondern, „Ich gebe euch ein Beispiel dafür, wie ein Individuum in dieser Zeit unter diesen Bedingungen dem großen Druck und der Dummheit der Kollektive Widerstand leisten kann.“

Wie kann ein solches Individuum in aller Labilität der Selbsteinschätzung – man weiß, wie schrecklich alles ist; man weiß, Bestechlichkeit ist eine Frage der Höhe des Angebots; man weiß, wie gefährdet man ist in dieser Behauptung der Selbständigkeit – sich tatsächlich auf sich selbst verlassen? Schließlich könnte man leicht sagen: Das lohnt sich für mich nicht. Aber es ist keine Überredung, keine Dogmatik. Es ergibt sich kein Schaden daraus, daß man diesen Beispielen folgt.

Woraus beziehen diese Individuen dann aber ihre Autorität? Es gibt eine einzige Antwort: So wie im Hinblick auf den Bereich des Gesellschaftlichen Wahrheit und Gerechtigkeit, Angemessenheit usw. entscheidend sind, ist es hier der Begriff der Würde, der bereits in der Präambel des Grundgesetzes genannt wird. Im Bereich von Wissenschaft und Kunst ist das Entscheidende bei der Würdigung jedoch, daß man nicht bloß Würde hat, weil man mit Farbe auf einer Leinwand herumhantiert. Wieso soll das als künstlerisch anerkannt werden? Es geht darum zu zeigen, daß man etwas kann. Das kann man im Hinblick auf sein eigenes Vermögen nur dadurch, daß man die Leistung anderer anerkennt. Bei den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war das ganz eindeutig und klar – ich habe ja noch bei Carlo Schmid studiert und habe es von ihm gehört: Würde hat nur, wer zu würdigen weiß. Mit anderen Worten, wenn man sich im Grafikdesign, in der Politpropaganda, in Film und Foto in diesem Sinne kritisch auf etwas einläßt – zur Durchsetzung eines generellen Interesses einer großen Gemeinschaft, also in Orientierung auf Wahrheit und Gerechtigkeit –, dann erreicht man das nur durch Würdigung der Leistungen anderer.

Darum steht es eben nicht im Belieben, John Heartfield herauszugeben, weil man Kunsthistoriker ist; sondern das heißt, der Mann, der ein solches Werk zustande bringt, hat selber Würde, weil er einen Großkünstler wie Heartfield, der in seiner Zeit dieselbe Position einnahm wie Staeck oder Volland oder Rambow heute, gewürdigt hat und wußte ihn zu würdigen. Alles, was Volland tut, sind Formen der Würdigung. Beim Faken etwa ist es die Würdigung derer, die nicht auf den Begründungsautomatismus der Presse und der Gewerkschaften oder der Vertreter des Kunstmarktes hereinfallen. Das ist die Grundlage für das, was man als eigene Autorität entwickeln kann: Das Faken oder – nach Popper – das Falsifikationssystem, das eigene Tun als falsch zu erweisen, ist der einzige Weg zur Wahrheit. Dieser Weg heißt in der Wissenschaft Kritik. Sie ist also für die Wissenschaft die Grundlage des Erfolges. Kritik ist hier zu verstehen im Hinblick auf das, was man selber sagt oder tut. Die kabarettistische Vernunft ist deswegen so wichtig, weil sie in einem Akt sowohl die Behauptung wie die kritische Fragestellung enthält. Hier wird in ein und demselben Augenblick die Behauptung aufgestellt und als Kritik produktiv gemacht. Und Wissenschaft ist nichts anderes als produktiv gewordene Kritik.

Soweit es Spiritualität und religiöse Behauptungen anbelangt, ist religiöse Überzeugung, Glauben nichts anderes als produktiv gewordener Zweifel. Es ist dasselbe Verfahren wie in der Wissenschaft, weswegen die christlichen Theologen die Gründerväter aller Wissenschaft überhaupt sind. Die Theologen des 4. Jahrhunderts haben die Naturwissenschaften begründet.

Theologie ist die Mutter, mater studiorum, aller Wissenschaft, gerade im Hinblick darauf, daß es Glauben nur durch Zweifel an der Glaubwürdigkeit, an der Glaubensfähigkeit gibt. Zweifel ist die entscheidende Funktion des religiösen Wirkens. Wenn also jemand Propaganda macht zur Unterwerfung der Gläubigen unter das, was er selber behauptet, ist er kein Gläubiger. Er hat nicht gezweifelt. Ein Gläubiger ist nur dann Autorität als Einzelner wie auch im Sinn der Gemeinschaft der Gläubigen, wenn er die eigenen Vorgaben entsprechend bezweifeln kann. Und das Bestehen des Zweifels ist der Erfolg des Glaubens.

In der Wissenschaft entspricht das, wie gesagt, der Kritik, die produktiv gemacht werden muß in der Widerlegung der eigenen Ansprüche.

Die kabarettistische Vernunft ist bisher die einzige Form, in der man zugleich einen Anspruch erhebt und ihn sofort im Hinblick auf die Kritik, auf das Widerlegen, auf das Faken, auf die Falschheit im Sinne der positiven Wissenschaften beglaubigt.

Diese Darstellung hier ist offensichtlich falsch [Abb. 7]. Niemand wird behaupten, daß der karikierte Politiker, sei es Strauß, Kohl oder Schmidt oder wer auch immer, der ist, den wir kennen, sondern es ist der, dessen Wirkung auf uns in dieser Weise uns von der Würde oder Freiheit oder dem Wahrheitsanspruch und Gerechtigkeitsanspruch entfernt.

Sie müßten sich einmal überlegen, warum alle Zeitungen und Wissenschaftsmagazine, die auf ihre Wahrheitsansprüche so stolz sind, auf die erste Seite gerne eine Karikatur setzen. Die besten Ausgaben sind die, die dort die treffendsten Karikaturen zeigen. Weil alle wissen, daß das die einzige Form der Wahrheit der Behauptung ist, denn was da sonst in den Schlagzeilen verkündet wird, ist per se ja nichts anderes als bezweifel- und kritisierbar, sonst hat es keinen Wert. Wenn die Karikatur greift, ist sofort klar, daß diejenigen, die die Aussage erheben, sich selbst kritisch in Frage stellen können.

Das macht die Beispielhaftigkeit der Karikaturisten, der Grafikdesigner aus den verschiedensten Genres so wichtig. Man kann sagen, insofern alles jenseits der positiven Wissenschaften Bedeutung hat, hat es sie, weil es uns die Möglichkeit der kritischen Distanzierung, des Zweifels zur Verfügung stellt. Die Karikatur ist der Höhepunkt dieser Einheit einer Behauptung eines Sachverhalts und seiner Bezweiflung. Man entstellt bis zur Wahrnehmbarkeit, heißt es. Der Wahrheitsanspruch kann tatsächlich erst in seiner Darstellung als entstellter, verzerrter oder, im Brecht’schen Sinne, als entfremdeter oder verfremdeter deutlich werden.

Und das heißt, man muß eine solche Ausstellung nicht als bloße Äußerung eines individuellen Künstlers sehen, sondern als die objektive Verhandlung dessen, was heute den Gesellschaftsmitgliedern abverlangt wird an produktivem Zweifel, d.h. der Fähigkeit zu glauben, und andererseits an Kritik, d.h. der Fähigkeit, Aussagen zu begründen. Ob das nun Techniken wie hier die Buntstiftbilder aus Vollands neuester Serie der Bundespräsidenten sind, der bisherigen Herren der Welt, die sie inzwischen wieder sind im Hinblick darauf, was man ihnen sozusagen als Faxenmacher auf der Ebene der Kindergläubigkeit noch zugestehen kann. [Abb. 8] Oder ob es auf der Ebene der schnell hingeworfenen genialen Formulierung ein Bildgedanke ist, wie z.B. einen Maler zu karikieren, indem man seinen Umriß und einfach einen Pinsel zeichnet und zwei Punkte hineinsetzt. Das macht Volland im Minutentakt. Das sind sozusagen Minutenbilder, so wie wir manchmal gezwungen sind, in wenigen Minuten zu denken, wenn wir bestimmte Herausforderungen erfüllen wollen.

Es ist in der Tat für alle Systeme der Moderne grundlegend: Wir haben nur insofern Würde, als wir A) andere in ihren Leistungen würdigen können, das ist für uns das Beispielhafte, B) soweit wir kritikfähig sind und zwar im Hinblick auf unsere eigene Aussage – die Aussagen anderer zu kritisieren, ist Kinderkram. Wenn man z.B. etwas über Faschismus sagt, muß man über den Faschisten in einem selbst etwas sagen, sonst hat es potentiell keinen Wert. Kein Faschist ist nur derjenige, der weiß, daß er jederzeit einer hätte sein können, wenn die Umstände entsprechend gewesen wären.

Volland bietet die entscheidenden Leistungen, wie Kritik oder Zweifel eingesetzt werden können. Das sind heute die Herausforderungen für jeden Bürger.

Niemand kann sich mehr in Parteiobhut begeben, niemand kann mehr der Regierung einfach glauben, daß da irgendwer einen Wahrheitsanspruch intendiert. Das haben nun wirklich alle mitgekriegt, spätestens in den Finanz- und Dieselaffären. Die einzige Anleitung, wie man sich heute schützen kann, heißt Reflexivität. Man muß Selbstbezüglichkeit des Denkens üben, d.h. sich auf die Karikatur, die kabarettistische Vernunft einlassen und sich selbst als Karikatur darstellen.

Das ist der Grund, warum Künstler so outriert sein müssen, warum sie provozieren müssen, warum sie herausfordernd wirken müssen, warum sie stigmatisiert werden als Narren, als Idioten, als geile Selbstdarsteller. Aber es gehört dazu, diesen Anspruch so weit durchzusetzen, daß Widerstand von der anderen Seite her erzeugt wird.

Bedeutsam ist das im Hinblick darauf, was wir von Darwin gelernt haben. Alle Anstrengungen, die wir vollziehen, haben nur einen einzigen sinnvollen Zweck. Es geht nicht darum, der Wahrheit zu dienen. Primärer Zweck ist zu helfen, wo gerade die Gerechtigkeit nicht durchgesetzt werden kann, wo die Wahrheit nicht gilt. Der alte Zweck bestimmte schon den Kampf der Sophisten, der Fraktion der öffentlichen Redner, im Interesse ihrer Klienten gegen die Wahrheitsfanatiker. Die Platon-Anhänger sagten: Wir gewinnen Erkenntnis, um die Wahrheit herauszufinden. Die Sophisten antworteten: Was soll das nützen? Wir betreiben Erkenntnisarbeit, damit wir helfen können, wenn jemand Zahnschmerzen hat oder nicht genug zu essen bekommt oder Mord und Totschlag unterworfen wird. Das ist die einzig sinnvolle Art zu denken. Das zieht sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte und ist heute bedeutender denn je. Denn allen stehen ja die Mittel zur Verfügung, z.B. grafisch zu gestalten oder Texte zu layouten, weil jeder die Möglichkeit hat, über seinen PC zu kommunizieren, als Sender aufzutreten. Aber was ist die Konsequenz? Statt bei Layoutern und Schriftexperten etc. zu lernen, wie man denn das Lesen durch Gestaltung des Textes erleichtert, machen sie genau das Gegenteil. Nichts ist so unlesbar wie das, was heute im Internet produziert wird. Texte kann man überhaupt nicht lesen, sie sind völlig ungestaltet dargestellt als ein Salat von beliebigen Schriften, von ununterscheidbaren Ansprüchen. Mit anderen Worten, in der Entwicklung sind wir weit zurückgefallen und müssen uns jetzt wieder am Beispiel derer orientieren, die sich nie auf dieses vermeintlich großartige demokratische Verfahren eingelassen haben, nämlich jetzt Dummheit allen gleichermaßen als Recht zuzugestehen. Das Einzige, was das System heute hervorbringt, ist die Aussage: Wir haben ein demokratisches Recht auf Dummheit, wir haben ein demokratisches Recht auf Schwindel, wir haben ein demokratisches Recht auf Egoismus. In der Tat, das ist alles demokratisch legitimiert. Denn Demokratie ist dazu da, meinen die Leute, um unsere Ansprüche zu erfüllen. Wie herrlich weit sind wir mit dem Recht auf Dummheit gekommen!

Es gibt aber zum Glück immer noch Einzelne, die sich dagegen wehren. Einen von ihnen hat uns heute Rambow vorgestellt. Das unendlich reichhaltige Äußerungspotential, Expressionsvermögen dieses Menschen wird hier vorgeführt. Ich kann das Volland’sche Werkverzeichnis nur empfehlen. Das ist ein Band, der Sie entschädigt für sechzig Jahre Unaufmerksamkeit, um nachzubilden, was Sie verpaßt haben an Selbstkritik, an Reflexionsfähigkeit und am Ende an Selbstwürdigung. Wer diesen Band durcharbeitet, hat endlich die Würdeformel gefunden. Würde hat nur, wer andere würdigt. Ich bin ein anderer, also würdige ich mich selbst im Lesen dieses Bandes. Ich habe alle Bücher gekauft und bezahlt, Rambow auch. Folgen Sie unserem Beispiel, denn diese Menschen beziehen kein Honorar als Professoren, haben keine Stellung als Lehrer o.ä. Einzelkämpfer sind Leute, die von der Hand in den Mund leben müssen und sich nicht auf reiche Zahnarztwitwen, die ihnen gütig gestimmt sind, verlassen können. Also denken Sie daran, Sie sind es sich selbst schuldig, die Arbeitsleistung dieser Leute zu würdigen, indem Sie Ihre Euro ausgeben, um sich eine solche Gelegenheit zur Selbstwürdigung nicht entgehen zu lassen.

Volland lebe hoch, hoch und höher!

(1) Ernst Volland. Eingebrannte Bilder. Plakate. Cartoons, Buntstiftbilder. Fakes. Dokumente. Berlin: Hirnkost, 2018.

(2) Anfang 1982 malte Ernst Volland neun großformatige Bilder für eine kleine Kreuzberger Szene Galerie, die Galerie am Chamissoplatz. Neun Bilder aus dem einfachen Grund, die Galerie verfügte über neun Wände. Volland malte die Bilder innerhalb von zwei Tagen in einem Hinterraum der Galerie, einer ehemaligen Bäckerei, der hin und wieder für Veranstaltungen benutzt wurde. Die Aktion war mit dem Galeristen Werner Tammen abgesprochen. Als Material benutzte er Packpapier, Fensterrollläden, Nessel. Stilistisch hielt er sich an die gerade äußerst erfolgreiche „Junge Wilde Malerei“, die es aus dem Stand von Berlin nach New York schaffte. Zur Eröffnung waren einige Bilder noch nicht trocken. Sie hatten rasch erfundene Titel wie „Der Weg nach Fontainebleau“, ein buntes Panorama, das auf die eine Wand im Raum getackert wurde, und „Der Weg zurück von Fontainebleau“, spiegelverkehrt auf die gegenüberliegende Wand. Auf einem Schildchen stand: Im Besitz der Stadt Paris. Der Name des Fake-Künstlers hieß Blaise Vincent, der Titel der Ausstellung „Frische Malerei“. Blaise klang schön französisch und Vincent stand für Vincent van Gogh. Zur Eröffnung spielte ein junger Mann Kontrabaß, dieser wurde auch eingesetzt, wenn der Künstler Blaise Vincent in Erscheinung treten musste, z.B. für einen Atelierbesuch. Blaise Vincent schaffte es bis in die Nationalgalerie. Dort befindet sich das Bild „La duce nuit Kreuzberg“, 1981, 200 x 180 cm. Eine ausführliche Darstellung der Aktion ist zu nachzulesen in: Ernst Volland, Eingebrannte Bilder, a.a.O., S. 262.

(3) Ernst Volland, Eingebrannte Bilder, a.a.O., S. 90.

(4) So berichtete z.B. der Spiegel: „Nach Missbrauchsvorwürfen: Nobelpreis für Literatur wird dieses Jahr nicht vergeben“, 4.05.2018, https://www.spiegel.de/kultur/literatur/literaturnobelpreis-schwedische-akademie-verkuendet-pause-a-1206158.html

(5) David King & Ernst Volland: John Heartfield: Laughter is a Devastating Wea-pon. His original photomontages and printed matter from Akademie der Künste Berlin and the David King Collection at Tate Modern. London: Tate Publishing, 2015.

(6) Elisabeth Kmölniger. Zeichnungen. Hrsg. von Ernst Volland. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1987.

© Bazon Brock 2018/2019

Ernst Volland. Eingebrannte Bilder. Plakate. Cartoons, Buntstiftbilder. Fakes. Dokumente. Berlin: Hirnkost, 2018
Ernst Volland. Eingebrannte Bilder. Plakate. Cartoons, Buntstiftbilder. Fakes. Dokumente. Berlin: Hirnkost, 2018
Titelmotiv Prospekt „Sprung von der Siegessäule“. Blaise Vincent
Titelmotiv Prospekt „Sprung von der Siegessäule“. Blaise Vincent
Ernst Volland, E9, 1997, Bild: Fotografie, 140 x 100 cm.
Ernst Volland, E9, 1997, Bild: Fotografie, 140 x 100 cm.
Ernst Volland, Nigger, 2001, Bild: zweiteilig, je 177 x 127 cm.
Ernst Volland, Nigger, 2001, Bild: zweiteilig, je 177 x 127 cm.
Ernst Volland, L2, 1996, Bild: 140 x 100 cm.
Ernst Volland, L2, 1996, Bild: 140 x 100 cm.
Elisabeth Kmölniger, Bildgeschichte, 1983
Elisabeth Kmölniger, Bildgeschichte, 1983
Ernst Volland: Mr Trump speaking. Fotomontage, 2016
Ernst Volland: Mr Trump speaking. Fotomontage, 2016
Ernst Volland, Bundespräsident Carstens, Buntstift auf Papier, 2015. Aus der Serie „Bundespräsidenten“
Ernst Volland, Bundespräsident Carstens, Buntstift auf Papier, 2015. Aus der Serie „Bundespräsidenten“

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