Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
09.04.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
09.04.1994

Germaniacs

Jugoslawien wieder aufbauen? Na klar, das machen wir; Koschnik an die Front als Generalgouverneur! Somalia pazifizieren? - aber bitte sehr und sofort. Europa integrieren, Rußland retten, die UN stabilisieren, die Türken zur Rechtsstaatlichkeit zwingen, die Völkerwanderung ins traute Heim führen - für uns kein Problem, weil wir keine Probleme sehen wollen. Störte etwa Hempels das bißchen Unrat unter ihrem Sofa? Im Gegenteil, gemeinsame Leichen im Keller stärken den Zusammenhalt. Gemeinsam haben wir wiedergutgemacht, das Stillhalten aller Feinde erkauft und Vergangenheit bewältigt. Führers Geburtstag ist ein Tag wie jeder andere, also so ein Tag wie heute, der nie vergehen darf - ein Fußballtag!
Wie haben wir uns abgestrampelt, in die Normalität zurückzukehren, und nun verweist uns das perfide Albion vom Platze - mit Schlagzeilen, die Gott sei Dank nicht übersetzbar sind. Wie sollen wir armen Waisenkinder der Geschichte ("Deutschland ist Hamlet") verstehen, daß uns die englische Öffentlichkeit peinigender attackiert als zu Zeiten der V2? Wie können wir verkraften, daß uns die Kurden für ihr Schicksal verantwortlich machen; die griechische Presse uns als Teufel des Nationalismus bezichtigt, die hellenische Kultur zertrümmern zu wollen; die Holländer sich vor den fiesen Deutschen in Ekel schütteln; die russischen, Volktribünen uns anklagen, das Sowjet-Imperium zerschlagen zu haben, um die slawische Rasse erneut auszulöschen?
Wie? Ich wage eine ganz einfache Empfehlung an die allgewaltigen Weltenretter von links und die allgewaltigen Großmachtphantasten von rechts, denn in schöner deutscher Wahnhaftigkeit sind sie längst ununterscheidbar: Wie wär's, wenn man sich der Einsicht näherte, die Wirklichkeit, die geschichtliche, die soziale, die ökonomische, die politische, gerade deswegen nicht hintergehen und überbieten zu wollen; weil Wirklichkeit nur das ist, was sich unseren Ideen und Idealen, unseren Plänen und Planungen gerade nicht fügt. Eine Wirklichkeit, die sich jeder nach eigenen Wünschen zurechtschustern könnte, wäre keine. Wirklich ist nur das, worauf wir keinen Einfluß haben, egal, ob wir es als Weltenlenkergott beschwören, als Geschichte rekonstruieren oder als Evolution der Natur beschreiben.
Erst in der Anerkennung solcher Wirklichkeit werden unsere Haltungen und Entscheidungen qualifizierbar - leider zumeist als Flucht aus der Wirklichkeit ins Wolkenkuckucksheim der abstrakten Ideen, z.B., daß Sport die Völkerfreundschaft fördere, Multikulturalität das friedliche Zusammenleben garantiere, Wirtschaft nur apolitisches Gewinnstreben sei und Rechtsstaatlichkeit durch entsprechende Gesetze ausgewiesen werde.
Was uns gegenwärtig vom Rest der Welt so knüppeldick ins Kreuz getrommelt wird, sollten wir als schmerzende Aufforderung verstehen, uns der Wirklichkeit zu stellen; endlich dafür ein Bewußtsein zu entwickeln, daß alle tatsächlich großen Probleme prinzipiell unlösbar sind. Erst in dieser Einsicht haben sich Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Gemeinschaft zu bewähren - nicht nur an Hitlers Geburtstag im Olympia-Stadion und am D-Day in der Normandie. Der Wirklichkeit der Geschichte begegnen wir jeden Tag, wenn wir es nur wollen. Aber wir wollen es ja nicht. So werden wir weiterhin Prügel beziehen und sie in sado-masochistischem Schauder als Beweis dafür verbuchen, arme Opfer von Neid und Rachsucht zu sein, obwohl wir es ja so gut mit der ganzen Welt meinen: mit Jugoslawien, Somalia, den Türken... siehe oben und von vorne.