Buch Claus Peter Dietrich: Zeichnungen

 Gestaltung: Büro QART, Hamburg

Erschienen
01.01.2020

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Umfang
88 S., farbig illustriert

Seite 11 im Original

Zeichnen als Zeigen und Zeigen als Verweisen

Noch vor nicht allzu langer Zeit subsumierte man Schriftsteller, die auch zeichneten oder malten, Musiker, die auch bildhauerten oder Künstler, die zugleich Wissenschaftler waren, als Doppelbegabungen. Das war ein Notname zu Zeiten, als man das menschliche Expressionsvermögen noch nach künstlerischen Gattungen unterschied. Das hat sich Gott sei Dank geändert: Peter Handke ist nicht auch bildender Künstler, bloß weil in seinen Manuskripten einzelne, im Durchschnitt 6 x 8 cm große Zeichnungen vorkommen. Claus-Peter Dietrich ist nicht Grafiker im Neben- und Psychotherapeut im Hauptberuf.

Die Zeichnung ist ein retardierendes, konzentrierendes Element im dynamischen Fließen der Worte, nicht nur eine Notiz, denn die Zeichnung ist kein Medium für spontan momentane Fixierung einer Wahrnehmung. Dazu benutzte und benutzt man die Fotooptik sehr viel angemessener. Für einen Psychotherapeuten kann auch das die Aktionsdynamik hemmende Zeichnen schon deshalb eine Rolle spielen, weil die therapeutische Bemühung ihrerseits Aufschluss durch anhaltende Konzentration zu erreichen versucht, durch Wiederholung und das Wahrnehmen minimalistischer Abweichungen. Handkes gerade eben bei Schirmer/Mosel, München, veröffentlichte Zeichnungen sind Tattoos der laufenden Texte. Sie wirken wie brands oder Logos der Ideen, die die Texte hervorzubringen versuchen. Sie sind nicht Skizzen für die Umsetzung der Beobachtung in eine Schilderung; aneinandergefügt oder nebeneinandergesetzt ergeben sie so etwas wie eine Produktpräsentation in den Regalen der Warenanbieter. Ihrer Auffälligkeit im Textbild nach sind sie eye-catchers, denen man einen zweiten, dritten und vierten Blick widmet, bis man der Selbsthypnose verfällt. Schließlich offenbart sich ja in der Zeichnung nicht die Meinung des Autors, sondern der Verweis auf Beobachtung der Welt außerhalb des Autors. Der Adressat wird durch sie veranlasst, seine eigene Wahrnehmung zum Thema zu machen, ohne in Konkurrenz zum Autor treten zu müssen. Der Adressat beschwichtigt seine unglückliche Sprachlosigkeit mit Beispielen des Autors für die Selbstbewegung in der überwältigenden Wahrnehmung der Außenwelt.

Der Therapeut Dietrich zeichnet, weil er es gelernt hat und es ihm geläufig ist. Aber genau das wird zum Problem, denn der Grad der Professionalisierung überlagert stark die Individualität des Zeichnenden. Er muss sich aus dem Sog des bloß Gekonnten retten ins Stottern, in den Abbruch, in die Fragmentierung, ins Amateurhafte, aber von vornherein durch Enthusiasmus Verlebendigte. Das entspricht weitgehend den Verfahren des Therapeuten, der die gleichsam professionalisierte Falschheit, erstarrte Fassade und routinierte Lüge des unglücklich wunschlosen Klienten wieder ins lebendige, dynamische und Widerstand schenkende Gefühl für Wirklichkeit überführen soll. Wie einer, der bewusst lügt und das auch bekennt, ein glaubwürdiger Retter der Wahrheit ist, so wird Dietrich mit seinen Vereinzelungstechniken fragmentierter Welt zum glaubwürdigen Repräsentanten der Sehnsucht nach dem Ganzen, heute Ganzheitlichkeit genannt; Sehnsucht sogar nach dem „Mehr als dem Ganzen“, mit welcher Formulierung sich zahllose Geschäftsideen gegenwärtig ausweisen. Und in der Tat entspricht das genau dem Ausdruck von Zeitgemäßheit in Haltung und Wahrnehmung. Wir konzentrieren uns auf das jeweils Einzelne, um von ihm her das Mehr als das Ganze, ja den Weltzustand zu erfahren. Dietrich verweist mit jeder seiner Zeichnungen auf das Mehr jenseits dessen, was die Zeichnung zeigt. Und eine andere Gestalt des Ganzen kann es nicht geben, weil die Menschen, die Zeichner wie deren Adressaten, ja selbst Bestandteil jenes Ganzen sind. Die Logik hat das mit der Frage nach der Menge aller Mengen, die sich selbst enthält, vorgetragen. Und der geniale Zeichner Escher führt uns einen Bleistift vor Augen, der den gerade mit ihm Zeichnenden erst entstehen lässt. Das heißt gleichermaßen für den Therapeuten, für den Künstler wie für den Betrachter: Das Ganze, eben das Mehr als die Summe der Teile ist nur in der Erfahrung des Zeichnens und Zeigens als Verweisen auf das Ganze, das eben nicht dargestellt werden kann, möglich. Der Wegweiser geht ja nicht selber in die Richtung, die er anzeigt, und enthält noch nicht die Darstellung des Ziels bzw. die Motivation für die Erreichung des Ziels. Zeichnungen sind Wegweiser auf das Ganze des Lebens oder der Welt, die es nur im Verweisen geben kann. Ähnlich instruiert der Therapeut den Klienten, das Leben/Zeichnen als jeweils immer nur begrenzte Einzelaktion zu sehen, in der das Ganze des Lebens nicht realisiert wird. Das Mehr des Lebens als eines Ganzen, nämlich des Zusammenhangs von allen einzelnen Lebensäußerungen, lässt sich nicht darstellen, erfahren, erreichen. Es bleibt ein Ziel, ein Begriff für die Führung/Organisation des Lebens. Die Lebensspuren sind die Zeichnungen, sind das Tattoo der Arbeit mit dem Begriff des Ganzen, das niemals erreicht werden kann. Die Zeichnung tätowiert die Ewigkeit als das Museum der Begriffe, und insofern muss jeder sein zeichnerisches Vermögen entwickeln als Spur des Lebens in Atemzügen, in Augenblicken des Übergangs zum nächsten Atemzug und Augenblick.

Zeichnungen markieren die Atemwende von Gegenwärtigkeit und Vergehen. Die immer wieder hervorgehobene Faszination der Zeichnung selbst bei großen Malern oder Bildhauern, die man früher als bloße Entwürfe gelten lassen wollte, vermittelt genau diese Erfahrung, dass nichts vollendet ist, erst recht nicht im Abschluss als behaupteter Vollendung, sondern alles aus dem Zeigen und Bezeugen lebt, dass es gleich weitergehen muss über die gerade eben erst erfasste Gestalt und Gestaltung hinaus. Der Zeichner stiftet Zeit zum Weitergehen, der Vollender der Werke will die Zeit stillstellen. Der Zeichner flößt Vertrauen in den nächsten Augenblick und in das Leben als ständiger Verwandlung ein. Die vollendeten Werke wollen bleiben, die Zeichnungen wollen weiter und weiter führen. In dieser Hinsicht ist die von Goethe veranlasste Einführung des Pflichtfachs Zeichnen schon an Volksschulen wahrhafte Lebenskunde.