Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
02.04.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
02.04.1994

Tätertypen und Nichtstuer

Eine der dubiosen Gestalten Deutsch-Kurdistans, Peter-Michael Diestel, die Freiheitsleuchte der Brandenburger CDU, legt Zunder. Ausgerechnet im Neuen Deutschland entflammt der Innenminister der letzten DDR-Regierung sein Fanal des Befreiungskampfes sozialistischer Kulturmenschen gegen die repräsentative Demokratie. Deren Vertretern, den ostdeutschen Abgeordneten, ja allen Abgeordneten unterstellt er, sie erhielten ihre Diäten, Aufwandsentschädigungen und sonstigen Arbeitsmittel als Schweigegeld, d.h. als Belohnung dafür, daß sie die Interessen der Bevölkerung gerade nicht vertreten.
Ein Irrsinn? Eine Erleuchtung! Sehen wir mal von der hämischen Frage ab, warum Diestel sich gerade wieder zum Landtagskandidaten wählen ließ, wenn er als solcher sich doch nur zum Schweigen bestechen lassen muß - dann zwingt er uns, darüber nachzudenken, wofür man eigentlich bezahlt wird. Für die Arbeit natürlich, die man leistet! Nun besteht aber die Arbeit aller hochbezahlten Abgeordneten, Politiker, Journalisten und Manager zu einem ganz wesentlichen Teil darin, etwas nicht zu tun, also z.B. sich nicht bestechen zu lassen, sich nicht ideologisieren zu lassen, sich nicht jedem Partialinteresse von Parteien, Verbänden, Kirchen und Konzernen zu beugen.
Auf der Sachebene müssen die Besserverdienenden seit langem den größten Teil ihrer Arbeit der Verhinderung zweifelhafter Projekte widmen, denn den größeren Teil wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Katastrophen verdanken wir der heroischen Bedenkenlosigkeit, mit der man z.B. Militärtechnologien, Atomkraftwerke, Hochschulreformen und Haushaltsfinanzierungen verwirklichte. Schlimmer als der blinde Aktionismus wirkt sich zumeist der seherische aus, der Aktionismus derer, die immer noch glauben, Klotzen sei in jedem Fall erfolgreicher als Kleckern, "Arsch hoch" besser als "Aussitzen", Tun gottgefälliger als Nichttun.
Woran liegt das? Offensichtlich haben wir das Nichttun als aktive Form des Handelns unterschätzt, trotz christlicher Postulate; denn von den zehn Geboten sind acht Gebote des Unterlassens: "Du sollst nicht ... " Daß ein Abgeordneter, der sich christlich nennenden Partei Unterlassen nur als Bestechung zu bewerten vermag und erkauftes Schweigen als Form des Einverständnisses nach dem erfolgreichen Beispiel der Mafias, der Staatspolizeien und Beutegreiferclubs, dies belegt, wie weit wir bereits von allen guten Geistern der Selbstbeschränkung, also vom Geist der Demokratie verlassen sind.
Nicht ganz, denn soeben meldet dpa, daß Christoph Stölzl, Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, es unterlassen will, die große Hoffmann/Hitler-Ausstellung zur Fotografie als Medium des Führermythos zu zeigen - obwohl sie "einen seriösen Charakter habe und durchaus dazu beitragen könne, das Wissen über die NS-Diktatur zu erweitern". Stölzl läßt sich durch sein sicherlich nicht gerade geringes Monatseinkommen die Verantwortung für sein Tun und Lassen nicht wie Diestel abkaufen. Er entschied sich für das Unterlassen als verantwortlichere Form des Handelns. Denn als tatsächlich Verantwortungsfähiger weiß Stölzl, daß die bloß deklarierte Absicht, über Führerdiktaturen aufzuklären, zweifelhaft ist, weil wir alle dazu neigen, durch geschichtliches Wissen uns von persönlicher Verantwortung freizustellen.
Ernstgemeinte Verantwortung kann der einzelne nur fur das übernehmen, was er nicht tut, was er unterläßt. Für die Unwägbarkeiten des noch so gut gemeinten Tuns deklarieren nur Führernaturen die Verantwortung. Wenn aber dann sozialistische Menschheitsführer oder politisch getarnte Räuberhäuptlinge zur Verantwortung gezogen werden sollen, erklären sie pathetisch, es nicht gewesen zu sein, weil man ja nicht hätte wissen können ...
So entzogen sich die Nazigrößen, so entziehen sich gerade wieder die DDR-Größen ihrer Verantwortung. Was hätten sie schon tun können? Ja eben! Hätten sie nur unterlassen, was sie taten, sie wären Demokraten.