Buch documenta. Politik und Kunst

documenta. Politik und Kunst. München: Prestel, 2021.
documenta. Politik und Kunst. München: Prestel, 2021.

Katalog anläßlich der gleichnamigen Ausstellung vom 18.06.2021 bis 9.01.2022 im Deutschen Historischen Museum Berlin.

Seit ihrer Gründung 1955 war die international orientierte Großausstellung ein Ort, an dem das westdeutsche Selbstverständnis verhandelt wurde. Seitdem erhoben die Macher*innen alle vier, später fünf Jahre den Anspruch, Einblicke in aktuelle künstlerische Tendenzen zu geben. Erstmals stellt das Deutsche Historische Museum die Geschichte der ersten bis zehnten documenta in den Kontext der politischen, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1997. Kunstwerke, Filme, Dokumente, Plakate, Oral-History-Interviews und andere kulturhistorische Originalzeugnisse illustrieren, wie die documenta als Kunstereignis und zugleich als historischer Ort politisch-sozialen Wandel kommentiert, einfordert und widerspiegelt. Zu sehen sind berühmte documenta-Exponate von Max Beckmann, Willi Baumeister, Joseph Beuys, den Guerrilla Girls, Hans Haacke, Séraphine Louis, Wolfgang Mattheuer, Emy Roeder, Andy Warhol oder Fritz Winter.

Von Bazon Brock wird in der Ausstellung die Video-Besucherschule zur documenta 9 „Der Körper des Kunstbetrachters“ gezeigt.

Erschienen
01.01.2021

Herausgeber
Gross, Raphael | Bang Larsen, Lars u.a. | Deutsches Historisches Museum

Verlag
Prestel

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
978-3-7913-7919-7

Umfang
327 Seiten, Illustrationen, 24 cm,

Seite 236 im Original

Interview Bazon Brock

Über die Befähigung zum Urteil. Bazon Brock im Gespräch mit Dorothee Wierling

Bazon (eigentlich: Jürgen Johannes Hermann) Brock wurde 1936 in Pommern geboren und musste mit seiner Familie bei Kriegsende fliehen. Er besuchte das Gymnasium in Itzehoe und studierte ab 1957 Dramaturgie, Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Er publiziert seit 1957 und beteiligte sich zusammen mit Joseph Beuys, Wolf Vostell und Nam June Paik an Happenings. 1965 wurde Brock als Professor an die Hochschule für bildende Künste Hamburg berufen. 1968 richtete er die erste »Besucherschule« auf der documenta 4 ein, die er unter diesem Namen in immer neuen Varianten bis zur d9 durchführte.

Herr Brock, Sie sind der Erfinder der »Besucherschule«. Wie ist diese Idee überhaupt entstanden?

Dahinter steht das Konzept der Professionalisierung des Betrachters wie auch der Rezipienten überhaupt. Das Grundschema geht darauf zurück, dass wir als Künstler angewiesen sind auf die Mitarbeit des Publikums, also von Leuten, für die es sich lohnt, etwas zu sagen bzw. zu zeigen. Die Befähigung der Betrachter zur angemessenen, sinnvollen Einlassung auf die Kunstwerke ist grundlegend. Interesse für die künstlerischen Arbeiten kann man nur wecken, wenn man das Publikum als Partner würdigt. Das war der Gedanke der Besucherschule: zu zeigen, dass es eine sinnvolle Orientierung auf das Alltagswissen der Menschen geben kann und dass die Künstler angewiesen sind auf die Orientierung durch die Rezipienten, denn sie wollen ja von ihnen gesehen und gehört werden.

Wie konnten Sie die documenta-Macher dafür interessieren?

Einer der beteiligten Kuratoren war 1968 Herbert von Buttlar, der Direktor der Hamburger Hochschule für bildende Künste, und an der war ich ja seit 1965 tätig. Auch er hat verstanden, dass es wichtig ist, die Auswahl der Kunstwerke zu begründen. Wenn ich etwas zeige, ist das, was ich zeige, genauso wichtig wie das, was ich nicht zeige, weil ich wissen muss, was nicht gezeigt wird, um beurteilen zu können, was gezeigt wird. Und in der Besucherschule ging es zur Hälfte immer um den Verweis auf die Werke oder die Arbeitsstrategien von Künstlern, die nicht gezeigt wurden. Nur dadurch wurde ein Publikum urteilsfähig.

Wie gelang es Ihnen konkret, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen? Anscheinend hatte man Ihnen noch im August 1968 keinen Raum für Ihre Besucherschule zugewiesen. Gab es weitere Hindernisse?

Von Buttlar hatte ja erstmal versprochen, dass wir unser Projekt verfolgen können. Aber dann kam es: Soll das finanziert werden? Nein, natürlich nicht. Denn ans Publikum denkt ja keiner bei der Ausstellung. Aber das Publikum soll urteilen können und aufs Publikumsurteil hin wird das Ganze als gelungen oder nicht gelungen dargestellt. Und die Geldvergabe durch die öffentlichen Gremien geschieht ja im Hinblick auf den Bildungsauftrag gegenüber dem Publikum. Das war der Grund, weswegen wir uns da durchsetzen konnten mit der Besucherschule.
Und dann boten sie uns kleine Räume an, die nicht bespielt werden konnten. Das war so ein Versuch zu sagen: Wir würden es ja gerne tun, aber wir haben leider keinen Platz. Und da habe ich gesagt: »Den Platz schaffen wir uns schon.« Wir ließen uns nicht entmutigen.

1972 haben Sie als Teil des Kuratorenteams das Konzept der »Bildwelten heute« entwickelt, wofür die d5 ja berühmt geworden ist. Das von Ihnen geschaffene »Audiovisuelle Vorwort« ist unglaublich erfolgreich gewesen …

… weil es die Attraktivität der Wahrnehmung auf das Niveau der Alltagsästhetik gehoben hat. Die Alltagsästhetik im Fernsehen war ja viel weiter entwickelt. Dadurch kam den Künstlern eine völlig neue Bedeutung zu: nicht als Schöpfer einer Gegenwelt, sondern als die Einzigen, die die Welt des kapitalistischen Realismus, also der Warenpropaganda, in die Welt der Malerei hineinnahmen. Welche fantastischen Motive sich dabei entwickeln ließen, welche fantastischen anderen Sichtweisen! Deswegen war die Linke mit uns nicht einverstanden, sie glaubte, wir müssten eine Gegenwelt schaffen, während wir uns an die sogenannte Affirmationsstrategie hielten: Ja-Sagen als eine Form des Widerstands, wie die Kampagne „Dienst nach Vorschrift“ bewies.

In Ihrer Broschüre zur d7, Die Hässlichkeit des Schönen, unterscheiden Sie zwischen drei Typen von documenta-Besuchern: dem Spaziergänger, dem Tempelgänger und dem Paradegänger. Mich interessiert der Spaziergänger, der unangestrengt zwischen der Kunst flaniert. Denken Sie, dass dieser Typus immer wichtiger wird?

Wenn ja, wird die Besucherschule nur umso notwendiger. Die Menschen sind ja bildungshungriger als damals, weil sie heute selbst als Abiturienten weniger mitbringen als je zuvor. Wir müssen diesen jungen Leuten im Museum sogar beibringen, ein Bild ikonographisch zu lesen, denn ihnen fehlt dafür die Kenntnis der den Bildern zugrundeliegenden biblischen oder antiken Texte. Also insofern ist die Arbeit noch viel anspruchsvoller, noch viel umfassender geworden.

Auf der documenta hat es neben der Besucherschule auch viele konventionelle Führungen gegeben. Die Nachfrage war enorm. Dieser Bildungshunger ist ja auch der Versuch, die Hilflosigkeit gegenüber der zeitgenössischen Kunst zu überwinden.

Heute merken die Leute, wie wichtig es wäre, Konsumentenschulen, Wählerschulen, Patientenschulen, Bürgerschulen zu haben. Sie stehen heute vor denselben Problemen wie die documenta-Besucher vor den Kunstwerken. Das war das Ziel der Besucherschule. Immer geht es um dasselbe. Das Ziel ist: Ich muss urteilsfähig werden.

siehe auch: