Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
19.02.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
19.02.1994

Steiner-weichen

Die Kraft und Macht der wirklich großen Kunst? Er erzählte von, nein: er beschwor jenen französischen Widerstandskämpfer, der seinen deutschen Schergen kurz vor der Exekution mutig entgegenrief: "Ich verteidige die deutsche Kultur!"
Er forderte mit dem Pathos der Selbsterfahrung sein Publikum auf, dazu beizutragen, daß Schüler wieder Gedichte auswendiglernen, mit denen man Verzweiflung und Todesdrohung durchstehen könne - wie Pasternak auf jenem 30er-Jahre-Kongreß in Moskau. Die GPU hatte Pasternak gedroht, er werde verhaftet für das, was er sage; er werde aber auch verhaftet, wenn er nichts sage. Pasternak sei schließlich aufgestanden und habe nur eine Zahl genannt. Daraufhin hätten sich die Kongreßteilnehmer erhoben und jenes Sonett von Shakespeare gesprochen, das den ausgerufenen Zahlennamen trägt.
Sein Publikum zeigte sich ergriffen von solchem Glauben an die Kraft des Dichterwortes, vor allem in Zeiten wie unseren, in denen nicht mehr den Dichtern gelauscht werde, sondern den über Gedichte schwatzenden Germanisten. Den Appell, sich unverstel!t, und unvermittelt. dem großen Dichtergeist zu öffnen, hörte man gern - er entlastet vor den Zumutungen der Wahrheit. Es ist eine Zumutung, daran zu erinnern, daß die Soldaten des Führers eben jenen Hölderlin im Tornister trugen, in dessen Namen die Widerstandskämpfer das wahre Deutschland vor dem Ungeist zu retten meinten. Es ist eine Zumutung zu erinnern, wie sich der begabte Musiker und Gestapo-Chef Heydrich Beethovens Opus 111 widmete, während seine Opfer mit den Gedanken an dieses Werk die Würde ihrer Menschlichkeit zu bewahren versuchten. Man erhält einen zutreffenden Eindruck von der Wirkung tiefsten künstlerischen Ausdrucks der menschlichen Existenz, wenn man bei Auschwitz-Kommandant Höss nachliest, wie er im engsten Kreise künstlerische Erbauung sucht, um für seine schwere Tagesarbeit gerüstet zu sein.
Als ich George Steiner diese Erfahrung von Kraft und Macht der Kunst entgegenhielt, verweigerte er das Gespräch. Er fragte nur: "Woher kommt Ihr Haß?" Muß man das einem wirklichen Zeitgenossen erst erklären? Sind nicht die größten Barbareien dieses Jahrhunderts gerade im Namen der wahrhaft groß geoffenbarten Dichter- und Denkervisionen initiiert und gerechtfertigt worden? Morden und foltern nicht gerade wieder heroische Kulturträger im ehemaligen Jugoslawien mit Liedern auf den Lippen, die zu den tiefsten Zeugnissen ihrer Kultur gehören?
Gedichte hassen? Das ist nicht die Frage. Fragwürdig, ja sogar verachtenswert sind jene, die mit der Dichtung, der Kunst, der Musik radikal ernst machen wollen, um die vermeintlich kulturvergessenen Hohlköpfe auf existentiellen Tiefsinn zu verpflichten.
Aber gemach, diese Kulturmissionare enthüllen über kurz oder lang die Frivolität ihres Denkens, wie George Steiner die seine enthüllt. Er hatte die Stirn zu behaupten, den Dichtern und Musikern gehe es doch gut. Seit langem sei keiner mehr von ihnen erschossen worden. Dabei ist es erst Monate her, seit im anatolischen Sivas 37 Teilnehmer eines Kulturkongresses im Namen fundamentalistischer Ernstfallkultur ermordet wurden. Vor ein paar Tagen erneuerten Wächter des Kulturtiefsinns ihre Morddrohungen gegen Rushdie und zahlreiche andere Schriftsteller und Künstlerinnen.
Angesichts dieser Opfer unverstellter Größe des Geistes verwahren wir uns entschieden gegen Appelle zum wahren Kunsterleben. Daß sie von einem Opfer z.B. deutscher Kulturbarberei vorgetragen werden, schärft den Blick für das Problem, das bereits Musil unüberbietbar formulierte: "Würde auch nur ein einzigers Mal mit einer der Ideen, die unser Leben bewegen, restlos ernst gemacht, unsere Kultur wäre nicht mehr die unsere."