Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
17.12.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
17.12.1994

Judasküsse

Über zwei Jahrzehnte haben sie ihm gehuldigt als nahezu genialem Dramatiker, Poesie-Essayisten und Dramaturgen. Jetzt wollen sie "Abschied nehmen von einem Menschen, mit dem viele, die zu erfahren suchten, was Leben, Literatur und Theater seit 1970 war, voller Neugier, voller Sympathie gegangen sind." Mit der Neugier auf's Leben scheint es nicht weit her zu sein.
Sobald das Leben nicht läuft, wie es sich die Herren Redakteure ausmalen, erklären sie es für einen "braunen Sumpf" und verabschieden sich auf französisch. Wo bleibt da die Verantwortung für die dauernd beschworene geistige Mittäterschaft, denn Botho Strauß argumentiert mindestens seit "Paare Passanten" zu Sachverhalten, deren Formulierung nun nur noch "kraus, wirr und widerlich wie dieses neue Rechtsdenken" sein soll, triefend von "brauner Soße".

Wem es um das Denken von Strauß gegangen wäre, hätte sich in den 80er Jahren an der Debatte um künstlerischen Fundamentalismus beteiligen können. Die das damals taten, wurden mit peinlichem Schweigen bestraft, als Reaktionäre stigmatisiert und genauso geächtet wie jetzt Strauß. Aber den Redakteuren von THEATER HEUTE geht es nicht um Argumente, denn sie haben keine, sondern um die politisch korrekte Abgrenzung gegen Aussätzige, um die Rhetorik der Selbstentlastung und Selbstreinigung. Wenn schon der verantwortliche Redakteur Peter von Becker ausdrücklich feststellt: "Strauß gehört weder zu den camouflierenden Antisemiten, nicht zu den wahren Neonazis, noch zu den Verfechtern irgendeiner demagogisch instrumentalisierten (Un-)Vernunft...", warum dann die pathetische Verabschiedung von diesem Bocksfüßigen? Warum veröffentlicht THEATER HEUTE Briefe an und von Strauß, die der ausdrücklich als "Privatsache" kennzeichnete, nicht zur Veröffentlichung bestimmt (inzwischen ist diese Machenschaft THEATER HEUTE gerichtlich untersagt worden). Wollten die Redakteure schlagend belegen, was sie für anständig, seriös und rechtens halten? Da wurde das recht Denken zu jenem widerlichen Rechtsdenken, gegen das sie sich angeblich empören. Sie wollten ihn vorführen wie Abtrünnige seit alters der Inquisition vorgeführt werden. Sie gefielen sich in der Rolle von agents provocateurs , denen jedes Mittel im Dienste ihrer Wahrheit und Reinheit recht ist.

Wer heute irgendein glaubwürdiges, klärendes Wort zum gegenwärtigen, nicht bloß historischen Totalitarismus/Fundamentalismus anderen vorgeben will, sollte von sich selbst reden, denn der zeitgemäße Faschismus verträgt sich ausgezeichnet mit der formalen Demokratie. "Der heutige Faschist zeigt sich als Demokrat, na klar", erkannte schon Wolfgang Neuss mit Blick auf die Berliner Alternativszene. Am eigenen Denken und Wirkenwollen die Suggestivität des Begriffszaubers auszumachen und die Wahrheit zu kritisieren als Macht unmenschlicher Abstraktion, das hatte Botho Strauß als Gefahr für intellektuelles Leben - für jedes, nicht nur in Deutschland - brieflich zu verstehen gegeben. Darauf erwiderte die Redaktion mit der läppischen Behauptung, man "halte das intellektuelle Leben in Deutschland derzeit für beneidenswert gefahrlos...". Offensichtlich halten die Redakteure Intellektualität für ein Berufsrollenlogo, das sie sich ans Revers heften, ohne auch nur zu ahnen, was Intellektualität ausmacht, eben: Kritik der Wahrheit. Das ist in der Tat gefahrvoll und risikoreich. Auf dieses Risiko lassen sich die Redakteure natürlich nicht ein. Ihnen reicht die stigmatisierende Meinungsmache. Aber auch die ist mindestens so gefährlich wie neonazistische Bekennergemeinschaften; das muß jetzt auch Strauß erfahren von seinen treuen Jüngern, die ihn den Häschern ausliefern. Gilt auch für sie, daß Judas der Gläubigste war unter allen Hoffenden auf Frieden, Gerechtigkeit und Heil?