Buch Stilwandel: als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode

Stilwandel: als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, 1986, Bild: Titelblatt.
Stilwandel: als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, 1986, Bild: Titelblatt.

; [d. Publ. basiert auf d. Forumkongress d. Internat. Design Zentrum Berlin e.V. (IDZ Berlin), d. unter d. Titel ""Stilwandel - was ist das?"" am 6. u. 7. Dezember 1985 im Ballhaus in Berlin abgehalten worden ist] / Bazon Brock ; Hans Ulrich Reck (Hrsg.)"

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon | Reck, Hans Ulrich

Herausgeber
Internationales Design Zentrum Berlin,

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1965-7

Umfang
375 S. : zahlr. Ill. ; 18 cm

Einband
kart. : DM 22.80

Seite 15 im Original

Exponierte Standpunkte

Stilwandel als Kulturtechnik – Differenz gegen Indifferenz

Bazon Brock versus Hans Ulrich Reck

Stil als Kampfprinzip

Bazon Brock

Feyerabend hat gesagt: Alles geht! Ich sage: Alles geht, wenn es geht. Und das ist das Entscheidende. Wenn es nicht geht, dann geht es eben auch nicht. Es ist bei weitem nicht alles erlaubt, wie heute sogar der Kleinbürger, der Arbeiter, der untere Angestellte und auch weite Teile der Mittelschicht zu glauben scheinen. Es ist eine der mächtigsten ideologischen Vorsatzmaßnahmen der Gegenwart, den Leuten einzureden, daß alles gehe, so daß sie dann tatsächlich glauben, bei jedem Anlaß könne man sich nur auf sich selbst berufen; man könne hingehen wie man wolle; man könne sich benehmen, wie man wolle; man könne in Erscheinung treten, wie man wolle.

Auf diese Weise filtert man diejenigen, die man für brauchbar hält, sehr viel schneller aus denen, die man für nicht brauchbar hält. Das ist sozusagen das simpelste Selektionsverfahren überhaupt. Wenn man sich hingegen in die höheren Etagen der Geschäftsbranchen begibt, wird schnell klar, daß durchaus nicht alles erlaubt ist, durchaus nicht alles geht; ja, daß im Grunde genommen gerade eine Haltung gegen solche vermeintliche Freiheit der individuellen Beliebigkeit den erfolgreichen Prätendenten auf eine Machtfunktion von einem Menschen unterscheidet, mit dem man halt alles machen kann. Wo es keine Unterscheidungen gibt, da gibt es auch keine Bedeutungen. Und wer zwischen einem T-Shirt und einem Pullover nicht unterscheiden kann oder zwischen einem Hosenrock und einem Frack, der wird seiner Einschätzung durch andere überhaupt keine Bedeutung beimessen können. Bedeutungen entstehen nur durch Unterscheiden. Und das einzige, was wir in diesem Sinne stilvoll, das heißt über unsere animalische Natur hinaus in der kulturellen Welt durchsetzen können, ist ein Gefüge von Unterscheidungen, also ein Bedeutungsgefüge, das sich in erster Linie im sozialen Verkehr an Habitus und Kleidung, an Sprache und Gestus vom Menschen festmacht.

Dieses Bedeutungsgefüge charakterisiert die einzelnen, die damit Stil haben oder stilvoll sind. Das Bedeutsame ist aber, daß das Gegenteil von ›Stil haben‹ nicht etwa ›keinen Stil haben‹ heißt, sondern keinen eigenen Stil haben. Stillos ist, wer einen Stil kopiert, wer imitiert, wer nachahmt, wer einen Stil von anderen übernimmt. Das Gegensatzpaar heißt: eigener Stil und übernommener Stil. Das Bedeutungsgefüge — und das ist das Charakteristische — muß durch den betreffenden Einzelnen selber repräsentiert werden. Er selber muß die Unterschiede sehen. Er selber muß sich auf die Bedeutung konzentrieren können und sie in einem zusammenhängenden Erscheinungsbild ausweisen. Das ist ganz offensichtlich der Hintergrund für das durch die Werbung signalisierte Bedürfnis vieler Menschen, Stil haben zu wollen, ohne ihn indessen tatsächlich zu haben. Sie spüren instinktiv, wie sie in eine Falle laufen, wenn sie glauben, alles sei erlaubt; alle Anlässe seien gleichwertig; jede kulturelle Äußerung sei im Grunde genommen nichts anderes als eine Veranstaltung zur Segnung der eigenen Kasse oder zur Manipulation von Menschen mit deren eigenem Einverständnis. Sie vermuten, der Ausweg daraus sei, Stil zu haben als Signalment, daß man auf Bedeutungen ausgerichtet ist; man signalisiert: Mit mir kann man nicht beliebig umgehen. Mit mir kann man nicht machen, was man mit jemandem machen kann, der solche Selbststilisierung nicht einmal dem Anspruch nach kennt.

Stil ist also Widerstand. Stil ist Signalment eines Anspruchs auf Distanz, auf Nichteingliedern; auf ein Differenzierungsvermögen, aus dem heraus die Bereitschaft zur Behauptung der Individualität entsteht. Das ist ja schließlich mit Charakter gemeint. Im Endeffekt ist das natürlich auch mit Kompromißlosigkeit gemeint. In diesem Sinne kann Stil nur haben, wer kompromißlos ist.

Kultur haben heißt, sich seine Aufgaben selber vorzugeben; Stil hat, wer dabei keine Kompromisse eingeht!

Vom Ende der Differenz: Ästhetische Perspektiven des Prämodernismus

Hans Ulrich Reck

Mit dem guten Geschmack hat sich das Bürgertum historisch gegen den feudalen Luxus behauptet. Mit den Ekeltechniken und der vehementen Behauptung des Anti-Geschmacks hat der dissidente bourgeoise Künstler in diesem Jahrhundert dem Individuum das Recht genommen, sich über den Geschmack zu interpretieren. Das ästhetische Moderne beginnt mit der Verstümmelung dieses Geschmacks. Das Erhabene war nur durch Perversion, Sünde und Zerstörung wirksam. Heute, so scheint es, wären Techniken zu entwikkeln, mit denen die ästhetischen Individuen sich in ihrer Indifferenz behaupten könnten. Sie würden die Divergenz von Geschmack und Ekel als symmetrischen Irrtum zurückweisen.

Aus dieser Sicht läßt sich erst die Etablierung der bürgerlichen ästhetischen Theorie im 18. Jahrhundert als Geschmackstheorie verstehen, was unweigerlich das Mißverständnis produziert, ästhetische Erfahrung habe auf die Behauptung eines dichten Kerns aufgeklärter Subjektivität ausgerichtet zu sein. Im ganzen 18. Jahrhundert ist das die Reflexion der Kunst dominierende Motiv die Unbestimmtheit, die dem Sublimen und Erhabenen zukomme. Mit der Darstellung des Unbestimmten nimmt das Bürgertum die antike Rhetorik wieder auf: Verfügen über das Repertoire von Formeln, mit denen Überzeugung strategisch durchgesetzt werden kann. Das Erhabene hängt aber gerade mit einer unreinen Rhetorik zusammen. Das Erhabene als Stil — das ist der Geschmacksirrtum, Verzerrung und Überdehnung des richtigen und ausbalancierten Stils. Die Größe des Erhabenen — an das, Lyotard zufolge, die Avantgarden anknüpfen — ist wahr, wenn sie von der Unvergleichlichkeit des Denkens zeugt, das in keiner Form des Sprachlichen mehr eingefangen werden kann. Denken und Wirklichkeit sind unermeßlich verschieden. Denkt das Denken die Verschiedenheit, dann denkt es erhaben, muß aber das Wirkliche so verzerren, daß Denken sich als Denken des Nicht-Vorhandenen zeigen kann. Das Erhabene ist, was den richtigen Gebrauch der Techniken verletzt; es ist die Deregulierung des Harmonischen. Die kantische Unermeßlichkeit der Ideen, die Auffassung, die Einbildungskraft sei ohnmächtig, den Mechanismus der Ordnung des Mannigfaltigen zu verstehen oder dafür ein Bild zu finden, beinhaltet bereits eine Abstraktion, die eine nicht-relationale Kunst befördert. Jedes positive Bild wird Zeugnis der Ungenügsamkeit der Vorstellungskraft gegenüber den Ideen.

Natürlich widerspricht Kants positive Ästhetik (das interesselose Wohlgefallen am Gegebenen) dieser Konsequenz. Aber dieses Abstraktionsproblem ist in seinem Modell enthalten: daß nämlich gegen das wohlgeordnete Schöne die eigentliche ästhetische Darstellung in der Schöpfung des Maßlosen und Maßstablosen, des Verzerrten und Nicht-Schönen bestehe. Denn nur solche ausschließenden Zeichensysteme enthalten die Chance einer reichen Interpretation. Schon Burke hatte 1757 das Sublime als die Wirkung von Schrecken und Drohung bestimmt und den Weg der Moderne als Formalisierung dieser Einsicht skizziert: der Schrecken zweiten Grades, der auf Privation beruhe und deshalb auch den ersten Schrecken seiner Wirksamkeit beraubt, müsse immer neue Gestalten seiner Drohung finden.

Diesen Zwang zur Asymmetrie würde ich als Deregulierungsprinzip des Geschmacks bezeichnen. Aus dieser Deregulierung geht notwendig die Indifferenz zwischen Geschmack und Geschmacklosigkeit hervor. Die verzerrten und immer neu monströsen Ekelgestalten begeben sich ihres Inhalts an dem Punkt, da der sozial in Gang gesetzte Mechanismus des Schrecklichen zu einem rein innerlichen Vorgang, zur Deregulierung am Subjektmodell geworden ist. Dieser Punkt ist der in den letzten Jahren historisch erreichte Punkt einer totalisierten Identität von Realität und Medien. Realität geht der Formalisierung des Realen nicht mehr voraus, sondern entspringt seiner Verselbständigung. Das Reale wird zur Nichterfahrbarkeit des Realen, zur synthetischen simulierten Konstruktion eines bloß Gemeinten, das sich nicht mehr zeigt. Lange haben westliche Avantgarden versucht, dem die Suche nach Intensivierungen entgegenzusetzen. Oder das Plädoyer für Nicht-Orte und Nicht-Darstellbares, obwohl doch gerade das Nichtdarstellbare die Schaffung verzerrender Monstren für die bürgerliche Theorie des Erhabenen begründet hatte, gegen die sich die Avantgarden wandten. Das Unbestimmte, das entsteht, scheint in der Tat erstmals als Indifferenz angesprochen werden zu können. An die Stelle des Herausbringens der Differenz treten Maschinen und Automaten. Triumph der Gedächtnismaschine: Dauer verwandelt sich in den Augenblick.

Was hier leerläuft, ist die Information. Information wäre Störung. Wir leben im Zeitalter der Desinformationsmaschinen: keine Störungen mehr, keine Geräusche. Das wird sich zweifellos ändern. Aber das Spiel mit der Des-Identität ist noch nicht über den Punkt hinausgediehen, wo das Subjekt ständig sich seiner vergangenen Gestalt erinnert und immer wieder Spiele spielt, die es von ihm unterscheiden. In diesem Unterscheidungs- und Erinnerungszwang leben Spuren des klassischen modernen Subjekts. Vorerst noch bricht sich das Schöpferische, das einen Irrationalismus gegen den Zwang zur Formalisierung retten möchte, an leerlaufenden Intensitäten. Im selben Ausmaß wachsen die Beschwörungsgesten der Legitimation. Der Griff aufs Transzendente soll in der bildenden Kunst noch einmal das ästhetisch Subversive der Moderne, die Identität von Verstümmelung und Heiligkeit, ermöglichen. Trotz ihrer Funktionsverluste: Deutungsleistungen sind abgewandert in Feuilletons, Design, Massenregie; das Phantastische wird den Künsten durch Geisteswissenschaften entrissen, die mit Visionen und Utopismen um ihre Geltung zu kämpfen beginnen; ungeachtet aller Paradigmen- und Rationalitätskritik dauert ungebrochen einzig der Triumph der Naturwissenschaften an. Was sich abzeichnet, ist ein radikaler Umbruch im menschlichen Selbstverständnis: bildnerisches Denken löst sich wie soziale Wahrnehmung vom Metaphorischen. Die Metapherntechniken laufen leer, das Ästhetische selbst wird zur Metapher und damit zum abstrakten Objekt medial verselbständigter Tätigkeit.

Früher Hüter des Geschmacks wie des Prinzips seiner ekelhaften Zerstörung, kündet bildende Kunst nun von Überforderungen, aber kaum mehr von Leistungen. Die suggerierte Lebendigkeit, die sich in das Unvollkommene, diesen alten Fluchtwinkel des beschworenen Menschlichen, zurückzieht, scheitert an der Ohnmacht, auch der Ohnmacht der Geschmackszerstörung. Die bildende Kunst wird konservativ. Das Ästhetische überhaupt eignet sich nicht mehr für Grenzüberschreitungen. Im selben Maße steigt der Bedarf an Wildnis und an ethnologisch schöpfbaren Gebieten des wilden Wissens. Aber auch hier dominiert bereits die alte Angst, im Inneren des Kreativen würde Imagination sich schnell als Automatismus herausstellen, als Reflex von Traditionen, Unbegriffenem, Vorprägungen. Wir leben noch im geschmacklosen Zeitalter, an der Schwelle zur Indifferenz.