Buch Timm Ulrichs: Ich, Gott und die Welt: 100 Tage – 100 Werke – 100 Autoren

Erschienen
01.01.2020

Herausgeber
Reichelt, Matthias

Verlag
Verlag für moderne Kunst

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
978-3-903320-69-7

Umfang
260 S.

Einband
Festeinband

Seite 50-51 im Original

Timm im pompejanischen Wirtshaus

Timm Ulrichs' Textschilder kunst- und kulturgeschichtlich zu würdigen, ist unmöglich, denn dazu wäre eine zutreffende Datierung nötig, die aber kann niemand liefern, weil Timm Ulrichs alles schon gedacht hatte, bevor er es machte; früher jedenfalls als der liebe Gott. Timm ließ den lieben Gott als Plagiator erscheinen. Sehen wir einmal von der Gattungsbezeichnung »Literaturbleche« oder »Literatur im Blech« ab, wie sie seit 150 Jahren den öffentlichen oder halböffentlichen Raum beherrscht – »Nicht hinauslehnen«, »Nicht auf den Boden spucken«, »Motor abstellen, Vergiftungsgefahr« –, und stellen wir auch meine eigenen Prägungen von Literaturblechen seit 1963 hintan, gehören Motivimperative wie »Lesen Sie diesen Satz nicht zu Ende!« zur Klasse der Paradoxien. Schon Kant hatte nach dem Rauswurf seines in Wahrheit unverzichtbaren Dieners Lampe notiert: »Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.« Paradoxien aber sind nur brauchbar, wenn man weiß, wie man aus ihnen wieder herauskommt. Die bloße Paradoxienreiterei bewitzelte Thomas Mann im »Doktor Faustus«, denn Paradoxien sind eben Witze des Geistes, dessen Phallus aber, sagt Gottfried Benn, das Wort ist. Ausstieg aus der Paradoxie? Sehr einfach, denn Erinnern ist immer nur durch Vergessen möglich. Das ist eine Zumutung dem Volke, es reagiert mit Straßenbeschilderungen, Kneipennamen, Gedenktafeln auf wirkliche Alltagsnotlagen. Im Wirtshaus von Pompeji enthüllten Archäologen an einer Wand das Textfeld: »Herr Wirt, wir gestehen, gefehlt zu haben. Wir haben uns säuisch benommen; aber wenn Sie fragen, warum, nulla matella fuit – Sie haben uns keinen Nachttopf hingestellt.«

Solche Rechtfertigungen sind Künstlern unzumutbar. Ihre Notdurft verrichten sie ins Vergessen des Gewesenen, um das nie Dagewesene zu erinnern. Timm war immer somnambul als Melancholiker des Egozentrismus. Er strengte sich an, alle anderen Egozentriker zu vergessen. Das ist ihm gelungen, er vergaß sein gelebtes Leben, um sich an den zu erinnern, der er hätte sein können. Zu seinem 80. wollen wir dem guten Mann sagen, dass Erinnern stets eine Funktion des Vergessens ist. Wir haben uns bemüht, ihn zu vergessen, damit wir ihn als den ganz Anderen erinnern können. Und den dürfen wir wirklich feiern. Denn er ist unsere Tat.

GLOBUS MASS-STAB 1:1, Bild: Timm Ulrichs: Hinweisschild für die Erdkugel, 1968.
GLOBUS MASS-STAB 1:1, Bild: Timm Ulrichs: Hinweisschild für die Erdkugel, 1968.
Timm Ulrichs: Wegweiser „Hier 40.000 km“, Bild: 1969/Hannover 2010.
Timm Ulrichs: Wegweiser „Hier 40.000 km“, Bild: 1969/Hannover 2010.
Timm Ulrichs: Wegweiser „Hier 40.000 km“, Bild: 1969/Hannover 2010.
Timm Ulrichs: Wegweiser „Hier 40.000 km“, Bild: 1969/Hannover 2010.