Buch Sergey Dozhd: Sciarcism

Scientific Basics of Inner Artistic Space

Erschienen
01.01.2015

Verlag
Pareto-Print

Erscheinungsort
Tver, Russland

ISBN
978-5-906447-06-7

Umfang
150 S.

Einband
Hardcover

Seite 146-147 im Original

„Orientierung auf neue Geistigkeit“

Über das Verhältnis von realen und mentalen Räumen

Als Gründer und Leiter des „Instituts für theoretische Kunst“ in Berlin begrüße ich nachdrücklich die Versuche von Sergey Dozhd, die Dimension des Geistigen in Kunst und Wissenschaft systematisch zu erfassen. Warum sind derartige Untersuchungen notwendig? Unbestritten ist, dass die Mathematik für unsere Weltpraxis die größte Bedeutung, also den größten Einfluss auf die materiell-physische Realität hat, obwohl die mathematischen Operationen in einer rein geistigen Innenwelt vollzogen werden. Das System der Operationsregeln der Mathematik ist vollständig abgekoppelt von aller Empirie der Lebenswelt von Mathematikern. Ihre Verankerung als logische Systeme in Axiomen ist reine geistige Setzung. Besonders in der europäischen Entwicklung von autonomer Wissenschaft und Kunst seit 600 Jahren fasziniert Theologen, Philosophen, Ästhetiker, Psychologen, Techniker die Frage, wie sich die Wirkung von geistigem Geschehen auf die physische Außenwelt erschließen lässt. Sergey Dozhd versucht nun, eine weitere Antwort auf diese Frage mit seiner Theorie des Sciarsismus (Einheit von scientia und ars) zu geben.

Allgemein anerkannt sind bisher die Formen des Geistigen als

  • Goethe’sche Sinnbilder, das heißt Umsetzung der Bildwahrnehmung in Gedanken;
  • Ehrenfels’sche „Gestalten“, das ist die psychodynamische Erfassung von physisch gegebenen Dingen, obwohl sie nur in Fragmenten vor Augen stehen;
  • der „Geist der Gesetze“, der weit über die Buchstaben des Gesetzestextes hinausreicht;
  • die Wirkung von farblich gestalteten Räumen auf den Gemütszustand der Nutzer;
  • der einheitliche Algorithmus, der Computer befähigt, diverse Ausformungen des Prinzips zu realisieren
  • die Anerkennung von gespenstischer Fernwirkung in der Quantenphysik

oder generell die Formen des Verstehens gegenüber den Ritualen des Tuns.

Die jüngeren Großmeister der Beschäftigung mit diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum (eine anschauliche Vermittlung von geografischem und mentalem Raum) von Helmholtz bis zu Koffka und Köhler, von Mauthner bis zu de Saussure, von Nietzsche bis zu Carnap, von Wagner bis zu George waren alle motiviert durch den mittelalterlichen Universalienstreit. Mit Universalia waren Begriffe des Abstrakten gemeint, die immer und überall für alle Menschen gelten. Diese Begriffe wurden durch Abstraktion gewonnen nach dem Schema, aus den vielen roten Dingen den Begriff „Röte“ zu bilden oder aus dem liebenden Umgang von Menschen miteinander den Begriff „Liebe“ abzuleiten oder aus der Tatsache des gemeinschaftlichen Lebens von Menschen mit ihren Verhaltensweisen, Gesetzesformen und Machtverhältnissen den Begriff der „Gesellschaft“ entstehen zu lassen. Die Frage war, ob die Röte, die Liebe, die Gesellschaft auf gleiche Weise als Realitäten gewertet werden müssen wie die roten Dinge, die liebenden Menschen und die nach Regeln sich ordnenden Gemeinschaften.

Verführt uns die grammatikalische Operation, Eigenschaftsworte zu substantivieren, zum leeren Begriffsformalismus und zu Tautologien oder eröffnet sie uns den Raum des Geistigen als einer weiteren Dimension unseres dreidimensionalen Handlungsraums? Die Mathematik beweist die realitätsbestimmende Macht des Geistes.

Seit dem 14. Jahrhundert entstehen in unmittelbarem Bezug aufeinander die neuen Tätertypen von Künstlern und Wissenschaftlern. Von dieser Beziehung schien die folgende Evolution der Arbeitstechniken Kunst und Wissenschaft weitgehend zu entfremden. Einzelne Versuche zur Vereinheitlichung von Kunst und Wissenschaft, etwa von Giambattista Vico oder Goethe oder Haeckel oder Bense, reizten durch ihr Misslingen zu immer erneuten Synthesebildungen. Dazu gehört etwa die Festlegung von Triple A (AAA, American Association for the Advancement of Sciences and Arts), dass für alle Bildpraktiken, die neuen elektronischen wie die alten künstlerischen, ab 1994 die gemeinsame Bezeichnung Imaging Sciences gelten solle. Dabei wurde die jahrhundertealte Erfahrung der Künstler mit der Bildung durch Bildgebung für die Naturwissenschaften fruchtbar gemacht. Seit jeder Wissenschaftler/Mediziner mit Bildgebungsverfahren zu arbeiten gezwungen ist, werden von ihm auch ästhetische Fähigkeiten verlangt, wie sie die Künstler entwickelt haben. Das sollte zu einer höheren Differenzierung des Bewusstseins der Akteure führen. Obwohl etwa Neurochirurgen ihre Eingriffe nur mit Hilfe von Bildgebung überhaupt durchführen können, operieren sie ja keine Bilder, sondern etwa Gehirne von Menschen, auf die die Bilder nur verweisen.

Um diese Differenz geht es Dozhd. Er ist so tollkühn, sogar von automatischen Stellhebeln und mentalen Konstruktionsbaukästen für die Beziehung von Arbeit im Mentalraum und im Realraum zu träumen. Er verspricht sich davon die Entdeckung von Wirkungsformen als Katharsis, also die Befreiung der „schönen Seele“ oder der Kreativität zur grenzenlosen Annäherung an den Genius, an die Kraft des Geistes selbst. Dieser Zustand beschreibt für Dozhd die Schönheit als unbeschränkte Analogie- und Metaphernbildung in unseren Weltbildern. Eine wunderbare Prägung des lyrischen Ichs „Peter Handke“ überzeugt mich von Dozhdens Zielvorstellung: „Winterkälte – der Schatten des Hauses gefriert auf dem Rücken des Pferdes.“