Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
12.11.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
12.11.1994

Ohne Moral?

Merkste was, mein Freund?

Ex-Parteichef Staffelt "fand es einfach schweinisch", was da im Landesausschuß der SPD Berlin läuft. Er trat zurück.

Ernesto Cardenal, Dichter und ehemaliger Kulturminister der sandinistischen Regierung Nicaraguas, bezichtigt sein Parteiidol Ortega, er sei ein autoritärer Caudillo geworden, dem es nur noch um die Macht in der Partei geht. Die Befreiungsfrontführer seien korrupt, der moralische Verfall unübersehbar. Cardenal trat zurück.

Die Partei des großen Europäers und Sozialdemokraten Felipe González kämpft seit Monaten gegen schier unglaubliche Wirtschaftsskandale in den eigenen Reihen. González trat zurück, halt, nein, noch nicht, aber demnächst. Endgültig zurück trat aber Engholm. Auch sein kleines, bescheidenes Landtagsmandat gab er in dieser Woche auf.

Sind diese Reaktionen Zeichen des Triumphes der Moral über die privatistische Bedenkenlosigkeit? Ein Selbstreinigungsprozeß, eine Wiedereinsetzung des politisch Guten und Wahren? Im Gegenteil. Mit jedem dieser Pyrrhussiege der naiven Anständigkeit klafft die Lücke zwischen pathetisch vorgetragenen Parteiprogrammatiken und der Realität des politischen Alltags weiter auseinander. Um politisch wirksam zu werden oder zu bleiben, also um von ihrer Klientel gewählt zu werden, zwingt man Machtprätendenten, Litaneien der wohlgefälligen und wohlfeilen Bekenntnisse abzuspulen, die politisch korrekt, moralisch einwandfrei und humanitär unerschütterlich zu sein behaupten. So wurde Engholm gezwungen, auf dem Sonderparteitag der SPD zur Asylrechtsänderung feierlich in die Mikrophone zu blasen: "Wir stehen dafür, daß alle Verfolgten dieser Welt bei uns jederzeit und ohne Einschränkung Hilfe finden, koste es, was es wolle." Das kostet den Verstand. Wie soll ein normal funktionierendes Hirn, also auch dasjenige Engholms, mit der Tatsache fertig werden, daß es solche Behauptungen einerseits als objektiv irre erkennen muß, sie aber andererseits zu vertreten hat, als meine man, was man sagt. Wer jetzt Engholm hämisch den Verlust jeglicher Moral vorhält, weil er zum Lobbyisten der Atomindustrie wurde, obwohl er jahrelang programmatisch forderte, aus dieser Technologie so schnell wie möglich auszusteigen, wertet zum Einzelfall ab, was längst für uns alle gilt.

So ist es keine Frage der Moral, wenn z.B. Grüne für den Autobahnbau durch den Südharz stimmen oder Alexander Kluge der Medienmacht frönt, die er jahrelang für das Desaster des deutschen Filmschaffens verantwortlich machte; wenn der grüne Turnschuhminister Joschka Fischer nun mit dem Gehabe eines Boss-gestylten Machtkarrieristen in Erscheinung tritt oder radikale Kapitalismus- und Imperialismuskritiker wie Tom Koenigs in Frankfurt nur noch mit Hilfe von Beratern der Deutschen Bank ihren politischen Alltag bewältigen zu können glauben. Ihnen allen ging nicht die Moral zu Bruch, sondern ihre hübsch ausgedachten, logisch so einleuchtenden Weltbildkonstruktionen. Nicht das politische Geschäft wird immer unmoralischer; vielmehr werden die abgepreßten Bekenntnisse und Legitimationen des politischen Handelns immer irrealer.

Wir sitzen in der Falle. Wer sich für sein politisches Handeln an Tatsachen und Erfahrungen ausrichtet, ist nicht mehr fähig, zum Konsens begeisternde Welterlösungsprogramme zu vertreten. Wen aber der Bekenntnisekel schüttelt, der riskiert, daß man ihn der Amoralität bezichtigt. Aus der Falle kommen wir nur raus, wenn wir unsere grandiosen Utopien nicht als verpflichtende Handlungsanleitungen mißverstehen, sondern als Quelle der Kritik gegenüber jedem Anspruch, die Welt restlos unserem Gestaltungswillen zu unterwerfen.