Zeitung Die Welt

Am 15.07.2020 in der gedruckten Ausgabe unter dem von der Redaktion geänderten Titel „Sophias Welt. Von 1453 bis heute: Warum Musealisierung der einzig sinnvolle Weg ist, die permanenten Kulturkämpfe einzuhegen.“ Die Überschrift der Online-Ausgabe des Textes wurde geändert in „Das passiert, wenn man liberal mit gleichgültig verwechselt“.

Erschienen
14.07.2020

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Seite 35 im Original

Warum wir Erdogan danken sollten

Hagia Sophia, die Heilig Geist-Kirche in Istanbul, wieder Moschee? Na, was denn sonst? Nur westliche Allmachtsphantasten aus Kenntnislosigkeit, also jene, die Gleichgültigkeit mit Liberalität gleichsetzen, können überrascht sein. Oder wenigstens jetzt so überrascht tun. Denn buchstäblich keiner von ihnen hat auch nur das Mündchen gespitzt, als wir 2007 ff., das heißt Peter Weibel, Peter Sloterdijk, Pia Müller-Tamm, der Islam-Kenner Manfred Schlapp, Harald Siebenmorgen, weltweit führender Experte für die Kulturen der Vor- und Frühgeschichte und ich, damals alle in Karlsruhe, den 24. November zum Tag der Weltzivilisation ausriefen. Zum ersten Mal veröffentlichten wir auf Deutsch das Dekret, mit dem Atatürk am 24. November 1934 die Hagia Sophia aus dem Kulturkampf zwischen Christen und Moslems herauszog, indem er sie zum Museum der Weltgesellschaft erklärte. Seit Jahrzehnten versuche ich, diese Atatürk’sche Strategie zur Beendigung von Kulturkämpfen durch Musealisierung als generelles Verfahren der Zivilisierung von Kulturen darzustellen. Vergeblich, vergeblich. Bestenfalls vermeinten unter der Hand Vertreter des hochamtlichen Journalismus, man dürfe von Atatürk keinen noch so großartigen Gedanken annehmen, weil er ja in Phasen seines Wirkens despotisch-totalitär vorgegangen sei. Aber gerade erst dieses Vorgehen als Politiker befähigte Atatürk am Ende zu der zukunftsträchtigsten Entscheidung aller Politiker des 20. Jahrhunderts. Musealisierung entspricht vollständig den westlichen Traditionen der Bildung, der bildenden Kunst seit 600 Jahren und vor allem der Archäologie seit Winckelmann. Musealisierung als Bewältigung permanenter Kulturkämpfe ist auch wissenschaftstheoretisch die einzig begründbare Hoffnung, die elende, blutige wechselseitige Überbietung der einzelnen Kulturen bändigen, ja auch rechtlich einhegen zu können.

Wir sollten ausdrücklich dem Obertürken, dem Oberchinesen und dem Oberamerikaner wie den vielen regionalen Oberbombenwerfern für die Demonstration dessen dankbar sein, worum es bei allem geschichtlichen Wirken geht, um Macht. Denn Machtvergessenheit ist Realitätsverweigerung. Merkwürdig ist, dass viele jüngere Leute heute etwa der Macht des Kapitals kritisch begegnen, denn sie spüren, dass es dem Kapital um nichts anderes als um Macht gehen kann. Gleichzeitig erlauben sich diese jungen Aufmerksamen kulturelle Bindung, Nationalität oder Einwanderung als Sphären zu betrachten, in denen es um Goodwill und Humanität ginge und nicht um Macht. Deswegen bleiben auch alle Kampagnen für Multikulturalität, Transnationalität und christliches Ethos so unverbindlich oder unglaubwürdig. Ja, schlimmer noch, sie werden bloße Ideologie, und Ideologie meint, nur von den anderen als unmenschlich, kolonialistisch, nationalistisch, rassistisch, fundamentalistisch oder konsumeristisch zu sprechen. Der Trick heißt, nenne ich mich einen Demokraten, können die von mir Abgegrenzten, meine Gegner oder Feinde, natürlich keine Demokraten sein. Halte ich mich für aufgeklärt, können es die von mir der unmenschlichen Abweichung bezichtigten eben nicht sein. Der empirische Sachverhalt zeigt, dass genauso viele Professoren wie Normvollzugsapparatschiks des Justizwesens, genauso viele Politiker wie Unternehmer, genauso viele Intellektuelle wie Denkfaule sich dieses Tricks bedienen. Dummheit ist wirklich jenseits aller soziologischer Unterscheidung wirksam. Leider kann dieses Faktum als Rechtfertigung dafür angeführt werden, dass die Demokratie jedermann das Recht auf Dummheit garantiere. Und Dummheit heißt generell unfähig zu sein, sich selbst jenen Urteilen zu unterwerfen, die man auf andere hin anwendet.

Das türkische Parlament veranlasst uns mit seiner Entscheidung zur Rückführung der Hagia Sophia in den Kulturkampf zwischen Orient und Okzident dazu, uns daran zu erinnern, dass der Sieg der Moslems von 1453 über das byzantinisch-christliche Konstantinopel vor allem dem damaligen Papst in Rom zu verdanken ist. Nicht nur, dass er die entsprechende Spezialbewaffnung des osmanischen Heeres aus Süddeutschland vermittelte, er verweigerte auch jede Hilfe für die Verteidigung des Reiches seines Konkurrenten in der Ostkirche. Die politische Kurzsichtigkeit des Westens aus schierer Ideologie, getragen von pseudotheologischen Argumenten, opferte die Stammregionen der Christen und Juden den Moslems. Das hatte eine lange Vorgeschichte, die in der Auseinandersetzung zwischen den Feuer- und Schwertkämpfern des Islam und den christlichen Kreuzfahrern gegipfelt hatte und die endgültige Trennung zwischen christlicher Ost- und Westkirche 1054 nach sich zog. Diesen ideologiegeleiteten Verrat Roms von 1453 versuchte man bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in vielen blutigen Schlachten des christlichen Europas gegen die osmanischen Islamisten zu widerrufen. Das gelang nie. Der Konflikt schien zwar in der Ausbreitung des britischen Empire untergegangen zu sein, aber seit Jahrzehnten zeigt er sich wieder als zentral für die Politik Europas, gerade weil man allseits überzeugt war, das Ende der Geschichte sei mit dem Ende der Sowjetunion gekommen.

Wir können diesem Konflikt nicht mehr ausweichen. Wenn wir ihn nicht als mehr oder weniger opferreichen Kulturkampf fortsetzen wollen, bleibt nur die Möglichkeit, sich den historischen Fakten zu stellen. Grundvoraussetzung für die Zivilisierung des christlich-islamischen Kulturkampfs im Sinne der Musealisierung ist es, sich nicht weiterhin arrogant oder ahnungslos über den anderen zu erheben. Dazu gehört in erster Linie die Erkenntnis des Westens, dass das Modell Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat weltweit eine rare schützenswerte Ausnahme darstellt und nicht mit bloßen Goodwill-Appellen zu universaler Geltung gebracht werden kann. Die Chinesen demonstrieren gegenwärtig, dass für sie das weltgeschichtlich erprobteste Modell der machtvollen Unterwerfung wieder allein zählt. Für die Fundamentalisten des Islam gilt das Gleiche. Nur, und das ist höchst anerkennenswert, haben sie sich in Europa nach den Jahrhunderten vergeblicher Kämpfe jetzt waffenlos durchgesetzt. Das beweist wahrhafte Machtintelligenz. Wie großartig wäre es, wenn wir jetzt den Islamisten in Istanbul Atatürks geniale Strategie demonstrieren würden, indem wir alle gotischen Kathedralen in Frankreich, England und Deutschland musealisierten, von den ebenso grandiosen Kultbauten anderer Epochen nicht zu schweigen! Faktisch ist das längst geschehen, denn durch die Kathedralen toben Touristenhorden als Delegierte des Kapitals und die wenigen Sinnsucher beten in den Museen.