Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
18.06.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
18.06.1994

Deshalb PDS

Neulich in Görlitz: Der Auswärtige Ausschuß der FDP hatte zur völkerverständigenden Dichterlesung auch Hermann Kant geladen, den einflußreichsten Kulturfunktionär der guten alten DDR. Kant las mit professioneller Geläufigkeit aus früher autobiografischer Prosa über seine polnische Gefangenschaft im Nachkriegs-Warschau. Und dann gab es den Bismarck-Test. Der sagenumwobene Kanzler verführte Leute, über die er genau Bescheid wissen wollte, bei bechernder Gemütlichkeit zur vertraulichen Eröffnung ihrer Mördergrube. So tat denn auch der listenreiche Vorsitzende Irmer, dem allerdings sogleich sein Panzer Bismarck'schen Psycho-Brutalismus aufsprang, als Kant launig bekannte, selbstverständlich wähle er PDS, damit im Bundestag nicht jene uniformen und konformen Verlautbarungsrituale abgespult werden könnten, die die DDR an den Rand des Ruins gebracht hätten. Gysi und die Seinen retteten die Demokratie, weil Demokratie lebe von der Konsensverweigerung und der Pflicht zur Abweichung vom Selbstlauf der Verfahren und Regeln. Wenn man es aber andersrum wolle, so Kant, könne er genausogut begründen, warum für ihn die PDS die einzig wählbare Partei sei: In den neuen Bundesländern habe sich eine Regellosigkeit etabliert, die als enorm gestiegene Kriminalität das Alltagsleben der Bürger bedrohe. Das hätte es unter Hitler, pardon, Ulbricht/Honecker nicht gegeben, deshalb PDS, denn man dürfe aus seinem Herzen keine Mördergrube machen. Dazu wollten aber die Bonner Altparteien die gutmütigen DDRler verführen und zwar nach Kapitalistenmanier mit jeder Menge Geld, das, angeblich als Hilfe gewährt, jedoch als Bestechung gemeint sei. Man lasse sich seine sozialistische Gesinnung nicht abkaufen. Im Gegenteil, je größer die Bestechungssummen des Westens an den Osten, desto größer die Verpflichtung zum Bekenntnis, daß man seine freiheitliche, sozialistische, demokratische Gesinnung nicht gegen Judaslohn verschleudere; je mehr Leute im Osten PDS wählten, desto stärker der Beweis, daß man es dort mit Menschen zu tun habe, die nur ihrem humanitären Gewissen und ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen gehorchten. Das habe schon in der DDR gegolten, leider ohne die Chance größerer Wirkung. Jetzt endlich gebe es die Voraussetzung und die Notwendigkeit, in jenem verpflichtenden Sinne Sozialist zu sein. Deshalb PDS.

Die Tafelrundler zuckten zusammen. MdB Irmer brach der nachmitternächtliche Schweiß aus - Erschöpfung, Angst, Ohnmachtsgefühle angesichts solcher Bekenntnisse, denen argumentierend nicht mehr beizukommen ist, weil sie durch jeden Einwand nur bestärkt werden? Diese Bekenntnisse nach den Wahlen des 12. Juni einfach ignorieren zu wollen, verbietet sich. Was aber dann? Die Kulturtagung des FDP-Arbeitskreises eröffnete für den Teilnehmer und Betrachter eine überraschende Perspektive: Die PDSler haben verdammt gut bei uns gelernt, wie die unbestreitbare Seilschaft von alten und neuen Eliten im Osten beweist. Ja, solche Sozialisten sind fast schon die besseren Kapitalisten, auf jeden Fall die größeren Realisten - im Bismarck'schen Sinn. Die ihnen vorgehaltene Undankbarkeit spiegelt nur unsere längst selbstverständliche, die ihnen vorgeworfene, uneinsichtige Beharrung auf abstrakten Überzeugungen und deren ostentativem Bekenntnis spiegelt nur unsere eigene Lernunwilligkeit und Leugnung der Probleme in der rituellen Beschwörung von Humanismus, Brüderlichkeit, Toleranz und Weltoffenheit mit dem Gütesiegel FDGB. Gelingt so die Verbrüderung doch noch, statt Kain und Abel, Tod und Teufel, Faust und Mephisto, Reich-Ranicki-Ost und Reich-Ranicki-West? Es ist historische Erfahrung, daß man nur aus Trümmern aufersteht, aber als Sieger untergeht. Halten wir uns klug an die Verlierer des Ostens, damit uns die Zukunft leuchte, deshalb PDS.