Buch Wien 1900

Aufbruch in die Moderne

Wien 1900: Aufbruch in die Moderne. Köln: Walther König, 2019
Wien 1900: Aufbruch in die Moderne. Köln: Walther König, 2019

Mit Beiträgen von Andrea Amort, Bazon Brock, Heike Eipeldauer, Verena Gamper, Allan Janik, Stefan Kutzenberger, Diethard Leopold, Monika Meister, Therese Muxeneder, Ernst Ploil, Ivan Ristic, August Ruhs, Burghart Schmidt, Hans-Peter Wipplinger & Thomas Zaunschirm.

„Der Katalog beschreibt den Glanz und die Fülle der künstlerischen Errungenschaften einer Epoche, die geprägt war vom Aufbruch der Secessionisten bis hin zum Untergang der Monarchie und dem Tod herausragender Künstler der Wiener Moderne wie Gustav Klimt, Egon Schiele, Koloman Moser oder Otto Wagner. Auf vielen Seiten wird das Fluidum jener Zeit und die vibrierende Atmosphäre in der damaligen Weltstadt Wien vermittelt. 12 wissenschaftliche Essays renommierter Experten beleuchten die historischen Aspekte und die Biographien bedeutender Protagonisten, auf deren fruchtbaren Zusammenspiel das einzigartige, kulturelle Lebens Wiens um die Jahrhundertwende fußt. Ein umfangreicher Bildteil im Anhang der Publikation zeigt die Highlights dieser Epoche.“ (Klappentext)

Erschienen
01.01.2019

Autor
Andrea Amort, Bazon Brock, Heike Eipeldauer, Verena Gamper, Allan Janik, Stefan Kutzenberger, Diethard Leopold, Monika Meister, Therese Muxeneder, Ernst Ploil, Ivan Ristic, August Ruhs, Burghart Schmidt, Hans-Peter Wipplinger & Thomas Zaunschirm.

Herausgeber
Wipplinger, Hans-Georg

Verlag
Walther König

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
978-3-96098-534-1

Umfang
559 S., mit 1300 meist farb., teils ganzseit. Abb.

Einband
Hardcover

Seite 274 im Original

Wien um 1900

[Erste Tage des neuen Menschen statt letzte Tage der Menschheit]

[Geänderter Untertitel. Die Abbildungen der genannten Werke können aus rechtlichen Gründen hier nicht gezeigt werden.]

Seit 1980, dem Beginn der modernsten Moderne aller immer wieder neuesten Modernen (ja, die gibt es seit 2.500 Jahren tatsächlich!), scheint Wien die Welthauptstadt des Kulturtourismus zu sein. Und es ist ziemlich klar, was die Klientel der Tourismusindustrie so rasend interessiert, dass man sich im ersten Bezirk nur noch als Bestandteil der Menschenschubmassen bewegen kann. Für Chinesen wie für Italiener, für Japaner wie für Russen, für Deutsche wie für Türken, für Amerikaner wie für Araber ist Wien um 1900 Inbegriff und Sinnbild für Sinnlichkeit im Zeitenende und Lust am Untergang. Wie das höchst erfolgreiche Genre der Katastrophenfilme belegt, gilt es heute als größter Kitzel, am Fernsehgerät oder aus dem Reisebus dem Weltuntergang zuzuschauen. Da bleibt für den Gedanken an das Danach, an die Einheit von Untergang und Auferstehung, von Ende und Fortsetzung, von Alt und Neu wenig Gedankenkraft übrig. Die einzige Form der Anerkennung des Danach, des après, behauptet sich im Après-Ski-Cocktail. Der zum Bildungsbürger idealisierte Kunde der Herumreiseanbieter erlebt animiert das Ende Kakaniens wie das Ende Altägyptens, die Auflösung des römischen wie des britischen Empire oder den Untergang der griechischen wie der phönizischen Kulturen oder die Kapitulation der persischen Allmacht in Salamis oder die Erschöpfung des Habsburger Reiches am Isonzo. Fabelhaft: Weltgeschichte in anregender Unterhaltung.

Der Glanz der Dynamik auf das Ende hin ist offensichtlich stimulierender als die Anstrengung des Denkens an das Danach. Das ist eine alte anthropologische Gewissheit, die die Burschenschaftlermaxime mit dem Spruch karikiert: Post coitum animal semper triste, will sagen, wie rauschhaft bewegt auf das Ende, den Höhepunkt hin man auch sein mag, das Danach fällt einfach ab: »Kinder, genießt den Krieg, der Friede wird fürchterlich!«

Jedenfalls sind diese immer wieder bestätigten Weisheiten eine mögliche Erklärung für die Tatsache, dass die Spitzköpfe wie die Rundköpfe, die Gelehrten wie die Touristen, die Klein- wie die Großbürger ein so viel größeres Interesse am Wien um 1900 und seinen letzten Tagen der Menschheit bekunden als an der faktisch unleugbaren Bedeutung von Wien nach 1918. Für Berlin gilt das von vornherein: Trotz aller Verhübschung des Wilhelminischen Zeitalters bieten erst die Goldenen 20er Jahre dem Lokalgenius Auslauf in die weltweite Bedeutung. Kein Mensch käme auf die Idee, Berlin um 1900 zu feiern, also die Zeit des Operettenkaisers, der Großmachtambitionen der »verspäteten Nation«. Die deutsche Anmaßung von Weltordnungskraft zum Beispiel durch die China-Expedition war nichts als hohle Phrase. Wie lächerlich Kaiser Wilhelms Auftrag an das deutsche Weltordnungsmilitär, dafür zu sorgen, dass nie wieder ein Dritte-Welt-Bürger, damals Chinese, es wagen möge, einen »Deutschen auch nur scheel anzusehen!« (1) Wilhelms Schmähung des Reichstags als »Affenhaus« (2) fiel auf ihn selbst zurück: Seine Affären mit der englischen wie der deutschen Presse, sein Diktum »Was Kunst ist, bestimme ich« (3), seine Liebenberger Amüsements mit seinen Nächsten im Tutu wurden als »Affenschande« kolportiert. Sollte das ein feierwürdiges Berlin gewesen sein?

Aber da gab es doch Planck und Einstein, die Sturm-Künstler und Aktionisten, die Kabarettisten, die Expressionisten und die fabelhaften deutschen Ingenieure – war das etwa nichts? Ihre Leistungen wollten gerade universell gelten statt nationalistisch; wo sie Deutschen zugeschrieben wurden, galt das als Beschränkung, als Stigma für Neureiche und Halbseidene, wie die Engländer und Franzosen das mit der Kennzeichnung Made in Germany tatsächlich zu brandmarken versuchten. Hingegen glänzt Wien um 1900, wie nur Paris als Welthauptstadt der Belle Époque und das London der Aufklärung im 18. Jahrhundert
geglänzt hatten.

Doch für den Fortgang der Geschichte war das Wien nach dem Ende der Herrlichkeit viel zukunftweisender.

• Wien nach 1918: Aufbruch des neuen Jahrhunderts, l’aube de siècle statt fin de siècle.
• Wien nach 1918: erste Tage des neuen Menschen statt letzte Tage der Menschheit.
• Wien nach 1918: frische Luft der Donau-Auen statt Salondunst.
• Wien nach 1918: Freikörperkultur gesunder Leiber statt Kostümparade.
• Wien nach 1918: Psychohygiene statt Tuberkulosehusten.
• Wien nach 1918: mustergültige Sozialbauten statt Hinterhoftristesse für das Proletariat.
• Wien nach 1918: revolutionäres Unbehagen an der eigenen Kultur statt allgemeinem Behagen in der eigenen Kultur.
• Wien nach 1918: Die Wiener Schule der Wissenschaftstheorie erlangt Weltgeltung; die Psychoanalyse wird zur führenden Kulturpragmatik; die Sprachwissenschaft des ehemaligen k. k. Böhmen Fritz Mauthner
stiftet eine neue Welteinheit der Wissenschaften in der Alltagssprache.

Das war eine wahrhaftige Schubumkehr und fordert unsere Blickumkehr. Die Neuordnung der Sammlung Leopold bietet dafür beste Voraussetzungen gerade gegenwärtig, weil in ganz Europa, ja weltweit, die Befindlichkeiten der Zeitgenossen ähnlich gelagert zu sein scheinen wie in der Zeit von 1900 bis 1914. Allgemein ist auch heute das Gefühl, dem Ende einer Epoche wirtschaftlichen Fortschritts und politischer Stabilität entgegenzugehen. Die derzeit weltweit 40 Kriege werden relativiert durch die Ankündigung des größten aller denkbaren Kriege, nämlich dem Krieg der Menschen gegen ihre natürlichen Lebensvoraussetzungen. Die Weltklimakatastrophe, so die jüngsten Prognosen, ist kaum noch vermeidbar. Vor uns die Sintflut und was schert uns das Danach! Postmoderne statt Postsparkassenarchitektur; Chancengleichheit als gleiche Chance aller Menschen, sechs Richtige im Lotto zu tippen; Freiheit als freie Auswahl; Liberalität als Gleichgültigkeit; Liken statt Wählen, Posten statt Bekennen; Haidern statt Mosern; junger Stil statt Jugendstil; langer Kurz statt alter Kaiser; Schmäh und Bussi statt »Habe die Ehre«. Summa: Wien um 1900 – Diaspora-Empfehlung für Juden; Wien um 2000 – Diaspora für alle weltweit.

Die Neuordnung der Sammlung Leopold eröffnet uns Heutigen einen neuen Blick auf unsere eigene Zukunft am Beispiel der Gewichtung des Zusammenhanges von Untergang und Auferstehung, von Enden und Beginnen im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Die Schub- und Blickumkehr zwingt keineswegs, die alte Lust der Augen an voluminöser oder zarter Dekadenz aufzugeben. Aber wir werden angeleitet, die alten Vorlieben mit Blick auf das Danach, auf das Ende des Imperiums, der Kaiserherrlichkeit und Leutnantsarroganz anders zu bewerten. Ja, wie herrlich war die Einheit von Radetzky-Marsch und moulinez les dames, von Skoda-Aktienbesitz und humanistischem Fackelschwung, von Zöglingen und Zögernden, von Sinnenlust und Richterspruch, von Syphilis und Sisyphos. Und die Psychoanalyse begleitete das alles mit wissenschaftlicher Eröffnung neuer Horizonte des Innenlebens und des Seelenrauschs, des Sündenstolzes und der Potenz durch Moralpostulat oder der Erklärung, warum der Unfähigkeitsnachweis als Beförderungsgrund gelten konnte. Das war alles wunderbar und wurde als ein Wunder wahr in Parlamentsklassizismus und Rathausgotik, in Kulturbaurenaissance und
Ministerialbarock der Ringstraßenpracht, beglaubigt durch die Beispielgebung des Reinheitspropheten und Stilpapstes Adolf Loos, der in flokatitapezierten Räumen sich von jungem Blut stimulieren ließ.

Kleines Training für den parallelen Blick auf Wien um 1900 und dessen Ende als Quellgrund des 20. Jahrhunderts 

Die Unterschiede in Haltung und Ausdruck der beiden im Abstand von sechs Jahren entstandenen Selbstbilder [Richard Gerstls Selbstbildnis als Halbakt von 1902/04] sowie Selbstbildnis als Akt von 1908 sind ganz offensichtlich. Der knapp 20-Jährige auratisiert am Anfang der Ausprägung seines Künstlerbewusstseins einen mageren, kurzgeschorenen Jüngling mit Tatarenbart, der offensichtlich Selbstsuggestion im Spiegelbild übt. Der Augen Blick ist gleichermaßen geprägt durch simulierte Entschlossenheit wie Offenheit, durch Härte wie Weichheit. Dem entspricht die Gesamtpräsentation als Erscheinung zwischen Opfergang und Besuch im türkischen Bad. Asketische Frömmigkeit und Spiritualität im Selbstgenuss changiert mit dem Überlegenheitsgefühl dessen, der durch keine Verlockung mehr zu täuschen ist. Die Askese überführt die vermeintliche Dekadenz als Leibarmut in Widerstandskraft durch Bedürfnislosigkeit. Die türkisblaue Atmosphäre hellt sich hinter dem Kopf auf, als solle die tradierte Form des Heiligenscheins in Erinnerung gebracht werden.

Wie anders sieht sich der 25-Jährige: Ein durchtrainierter junger Mann in der Lockenpracht der Genialitäts- wie der Genitalitätssphäre; das frisch gebräunte Gesicht prägt ein mimischer Ausdruck, der zwar Skepsis, aber vor allem Willensstärke signalisiert. Das ebenfalls vor dem Spiegel entstandene Selbstporträt gibt die Atmosphäre des Raumes zweifach wieder: mit stark abgedunkelten Farben der Vorhänge, des Bodens und des Tisches und andererseits dem sphärischen Blau einer Wandöffnung nach draußen.

Das starke Selbstbewusstsein des jungen Mannes scheint jeder Zukunftsaussicht gewachsen. Das erstaunt umso mehr, als den Maler seine Beschämung durch den eng befreundeten Kollegen Arnold Schönberg schwer belastete. Denn Schönberg hatte seine Frau Mathilde in flagranti mit Gerstl überrascht. Die Liebenden waren kopflos vom Traunsee nach Wien geflohen. Gerstls Selbstwertgefühl wurde aber nicht durch den Betrug an dem ihm wirklich zugetanen Komponisten in Gefahr gebracht, sondern durch die Tatsache, dass Mathilde wenige Tage nach der Flucht zur Familie heimgekehrt war. Die Affäre spielte vom 26. August 1908 bis Anfang September, Mitte Oktober entstand das angesprochene Selbstbildnis und am Abend des 4. November nahm sich Gerstl das Leben: Wohl nicht aus Scham über seine Niederlagen durch Schönberg und Mathilde, sondern als stärkste Selbstrechtfertigungsgeste gegenüber den anderen, die offensichtlich glaubten, eine so großartige Idealgestalt des Menschen der Zukunft ostentativ abweisen zu können. Und psychodynamisch einleuchtend wäre die analytische Diagnose, auch dieser Selbstmord sei nur ein gescheiterter Selbstmordversuch gewesen.

Es ist von größter Bedeutung, dass die gesamte westlich geprägte Kulturwelt damals das Bild des neuen Menschen als Zukunftsversprechen der Evolution propagierte. Moskauer Zaristen, bürgerliche Liberale wie strenggläubige Kommunisten, jüdische Neusiedler, die Zionisten in Palästina wie die darwinistischen Eugeniker in USA, Schweden und Deutschland, französische, italienische Pathetiker des Fortschritts propagierten allesamt den neuen Menschen als Träger der Zukunft der Menschheit. Sport, Hygiene, Nacktheit, Gesundheit durch Sonnen-, Luft- und Wasserbäder, galten als Versprechen auf Arbeitskraft und Arbeitswilligkeit, als Bereitschaft zum Kollektivausdruck und zur geistigen Frische, zu seelischer Unverkrampftheit und optimistischer Grundhaltung.

Das tatsächliche Allgenie Wiens, Koloman Moser, alles umfassender Gestalter, Programmatiker, Organisator und künstlerischer Praktiker in allen Genres, hat sowohl der weiblichen wie der männlichen Ausformung der Vision des neuen Menschen 1914 in den Gemälden Venus in der Grotte und Der Wanderer Gestalt gegeben. Die Grotte, von landschaftlicher Licht- und Laubfarbigkeit umschlossen, nimmt vielmehr Bezug auf die überlieferte Form der Mandorla, die eine Frauenerscheinung umfasst. Aber bei Moser ist diese Haut der heiligen Aura eher als symbolische Repräsentanz des Uterus zu sehen. Mosers Venus befreit sich selbst in voller Ausprägung des jugendlich-sportlich trainierten Frauenkörpers aus der Fruchtblase. Das erinnert an die Geburt der Pallas Athene aus dem geöffneten Haupt des Zeus. Mit der Darstellung seiner schamhaarlosen Venus verweist Moser auf die antike Körperlichkeit in der modernen Winckelmannschen Behauptung des blanken, weißen Marmors als Muster der menschlichen wie göttlichen Leibhaftigkeit. Mosers Venus entsteigt ihrer eigenen Kraft des Leben-Gebens in Metamorphose. Metamorphotischer Form- und Gestaltwandel in Einheit aller Artefakte kennzeichnet Kolomans Genie.

Seine Venus öffnet die Form ihrer Entwicklung als Idealbild, um wie die Kunst selber uns die Kraft der Verwandlung des Alten ins Neue, des Beschädigten ins Vollkommene, des Kläglichen ins Glänzende, des Schwachen ins Starke vor Augen zu führen. Sie hat starke Arme und Hände, die demonstrativ aus der Form ragen, die sie bisher selber getragen haben. Der neue Mensch ist für alle Menschheit der Beweis der Fähigkeit zur Selbstschöpfung, ohne bloß die Vision von Göttlichkeit zu illustrieren. Jahrelang hatten die Künstler, wo immer möglich, den Zirkus besucht, um fasziniert den Seiltänzern als wahren Humanisten zuzuschauen. Denn diese balancieren auf dem schmalen Seil, indem sie sich an langen Stangen festhalten, die sie selber tragen. Sich festzuhalten an etwas, das man selber trägt, ist der Inbegriff von Autonomie des Menschen als Selbsterfinder und Selbstbegründer seiner Existenz.

Mosers Wanderer hält sich bei seinem kraftvollen, willensstarken, unaufhaltsamen Voranschreiten auch an einem Stab in seiner Hand fest. Ihn tragen seine Zielvorstellungen, seine Visionen, er folgt nur seiner mit dem Stab markierten Schreitvorgabe und nicht fremdem Auftrag oder Befehl: ein wahres Bild der Selbsterregung und Selbstmotivation. Der gesamte Körper wird zum Träger des Ausdrucks seines Geistes. Eine Neuformulierung des homo mensura-Satzes, dem zufolge der Mensch der Urheber, das Maß und das Ziel aller Bedeutung und Sinngebung ist. Und das Maß führt zur Maßnahme der Selbstbeherrschung, der Selbstentwicklung. Moser demonstriert in inszeniertem Licht, wie es die Fotostudios damals nahelegten, das antike und humanistische Postulat der Einheit von Geist und Körper, von Leib und Seele. Körperliche Tüchtigkeit und Ertüchtigung durch Übung sorgen für psychische Stabilität – am trainierten Körper haften keine Mängel mehr als Hindernis für den Ausdruck des Geistes und des Willens: »Ich bin, was ich sein will, und will in jedem Fall und ohne Einschränkung sein, was ich bin.« Das heißt, das Maß, das jedem Menschen als Entwicklungsmöglichkeit offensteht, ist erfüllt. Möglichkeit und Wirklichkeit stimmen vollständig überein; deswegen auratisiert Moser, dem Heiligenschein analog, nicht nur das Haupt, sondern den gesamten Körper des Wanderers. Das heißt gerade nicht Standardisierung nach äußerlichen Form- und Haltungsvorgaben
wie beim Bodybuilding und Modelling, sondern Individualisierung durch Arbeit an sich selbst, als Verwirklichung der in jedem liegenden sehr unterschiedlichen Anlagen. Denn genetisch, nach Ernährungsgewohnheiten oder -zwängen, nach sozialer Integration, nach Prägung durch Familie und Bildung sind wir ja höchst unterschiedlich. Es kommt darauf an, die individuellen Fähigkeiten in vollem Umfang zu entfalten, dann ist man Inbegriff des neuen Menschen. Mosers Wanderer repräsentiert den damals vielberaunten Zarathustra, durch den Nietzsche seine Vision des neuen Menschen einst propagierte und der bald zur »blonden Bestie« (4) mutierte. Aber die Umwandlung des Hörens in Gehorsam und die Wandlung von Spiritualität in Gefolgschaft sind machtpolitische Begründungen von Züchtung, also das ganze Gegenteil der alles umfassenden Individualisierung durch Optimierung der individuellen Anlagen. Zur Arbeit an sich selbst bestimmte Individualität ist die beste Voraussetzung für Widerstand gegen schablonenhafte Normierung. Beispiele bieten die Künstler, hier die Maler, mit ihren je unterschiedlichen Darstellungsformen des Ideals.

Besonders sprechend sind die Künstler als Beispielgeber für Individualisierung, wenn sie sich mit ihrer stilistischen Eigentümlichkeit nicht nur als Selbstbild, sondern in sozialer Interaktion zeigen. In dem Gemälde Gruppe am Waldrand von 1920 zeigt Herbert Boeckl sich selbst, seine Frau und ihre Hunde in einer Tradition von Motivik, die am bekanntesten durch Rubens’ Paar im Grünen, genannt Geißblattlaube, kurz vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges repräsentiert wird. Boeckl richtet – in seine Frau überragender Sitzposition – seinen Blick aus dem Bilde heraus wie einst Rubens. Im Unterschied zur Geißblattlaube ist die Partnerin, in diesem Fall Frau Maria, entkleidet und schaut den Betrachter nicht an, im Bewusstsein, selber betrachtet zu werden. Das verweist auf die intendierte Bewertung des nackten Körpers als eines Ausdrucks der Natur, wie es Bäume und Sträucher und Blätter und Tiere auch sind. Da ist nichts von erotischer Schwülstigkeit oder Pornografie. Da ist der menschliche Körper nichts als schiere Natur. Auch reicht Frau Maria nicht die rechte Hand ihrem Mann, wie in Rubens’ Typologie der Paardarstellung vorgegeben, sondern hält mit beiden Armen die abgelegte Oberbekleidung vor Schoß und Schenkel. Die Assoziation zum Bildtypus der Ruhepause von Maria und Joseph auf der Flucht nach Ägypten wird zugelassen, aber nicht zur Schwängerung der Bildbedeutung benutzt. Die verwendeten malerischen Mittel erscheinen wie eine Summe aller bis dato expressionistisch genannten Erprobungen der Farbpsychologie, Formdynamik und Motivrahmung. Das alles demonstriert das Selbstbewusstsein des Künstlers als redlicher Bürger, als Arbeiter im Weinberg der Kunst. Boeckl scheint sich vor allem bei den Kollegen von Cézanne bis Kokoschka zu bedanken, indem er deren Einfluss auf sich deutlich werden lässt.

Der Künstler Boeckl wird zum Beispielgeber für eine generelle Attitüde von Künstlern, die sich dem modernen Arbeitsbegriff verpflichtet fühlen, also der Kraft zum Zusammenführen des von einzelnen Künstlern Erreichten, anstatt einen Genius der originären Schöpfung zu behaupten. Den Höhepunkt der Boecklschen Fertigkeit, Arbeit als Synthetisierung, ja als Synkretismus, als Bild- und Sinnstiftung aus der Kraft des bei anderen Künstlern Gesehenen zu demonstrieren, bildet sein Liegender Frauenakt (Weißer Akt) von 1919. Das alle zeitgenössischen Parallelen überragende Gemälde insinuiert die umfassende Form einer Malereipalette, auf der und durch die die synkretistische Zusammenführung aller Aspekte der modernen Malerei seit Cézanne unüberbietbar geboten wird. Wenn je der Synkretismus als produktive Form des Arbeitens in Vollendung demonstriert wurde, so in diesem Frauenakt von Boeckl. Nichts an den Gestaltungsmitteln ist behauptete Originalität, sondern von Cézanne, von den Kubisten, von den Futuristen, und besonders bei Kandinsky aufgegriffene Überwältigung durch Form- und Farbzusammenklang. Boeckl demonstriert, dass auch die vermeintliche Gegenstandslosigkeit bloßen Farb- und Formgeschiebes durch die Logik der sinnlichen Wahrnehmung gestalthaft wird und sich die herkömmliche Gestalt, hier des Akts, in ein Gefüge anscheinend abstrakter Formen und Farben einfügt. Dieser Akt von Boeckl ist die anspruchsvollste Formulierung von künstlerischer Arbeit des Verwertens als Neubewertung. Obwohl alle Elemente, die er verwendet, von den besagten Vorgängerkünstlern stammen, bietet Boeckl einen dem Akademismus verloren gegangenen Beweis, dass Synkretismus als Zusammenfassung des Unterschiedenen und Verschiedenen zur neuen Kraft werden kann. Anwendung und Verwertung können zu originären Werkwirkungen führen. Die Arbeit an der Geschichte der Kunst durch die Künstler zeitigt Werke, die durch Anwendung fremder Erkenntnisse höhere Wirksamkeit erreichen als die originären Findungen.

In besonderer Weise empfiehlt sich die propagierte Umkehr des Blicks auf Wien um 1900ff. im Werk Egon Schieles. (5) Sein pornografischer haut goût sollte in die von Sigmund Freud und Fritz Mauthner postulierte Grammatik intrapsychischer Prozedierungen wie Empfinden, Vorstellen, Lieben, Aggressivieren, Abwehren etc. verwandelt werden. Man kommt Schieles genialen Ausdrucksformen des Geistigen und Sinnlichen am nächsten, wenn man sich in die damalige Ära des Stummfilms und des Ausdruckstanzes zurückversetzt. Die Darsteller des Stummfilms mussten alle Akte des Kommunizierens zwischen Menschen ohne verbalsprachliche Vermittlung bewältigen – stellenweise Untertitelungen und musikalische Paraphrasierungen galten nur der Stimulierung der Besucher, die durch diese höchstens bei Taubstummen geläufige Form der Kommunikation sehr leicht überfordert werden konnten.

Was ist der Kern des sogenannten Expressionismus? Er ist eine zeitgemäße Variante des nach dem Tode von Raffael entstandenen Manierismus. Das war der Versuch, durch Körperbewegung der unterschiedlichsten Art – vor allem der extremsten – entsprechende psychische Erlebnisse zu erzeugen. Hieß es früher, »wes das Herz voll ist, des geht der Mund über«, formulierten Manieristen und Expressionisten: »Wes das Herz leer ist, der fülle es mit dem Extremerlebnis körperlicher Exaltierung.« Im heutigen Attitüdentheater der Discos exponieren die vereinzelten Tänzer ihre körperlichen Bewegungsschemata nach der Lizenz des free dance so ausdauernd, dass sie schließlich Empfindenskorrelate zu diesen Ausdrucksgebärden bilden. Das schaffen nicht alle, aber alle genießen
wenigstens das Gefühl der Erschöpfung im chill-out. Die Faszination der Schieleschen Darstellungen scheint genau darauf zu beruhen, dass sie den Moment erfassen, in dem das aktivierte Attitüdentheater sich in Vorstellungen, Gedanken und Gefühlen manifestiert, und zwar beim Künstler selber, wie Anton Josef Trčkas Schiele-Porträt-Fotos von 1914 belegen.

Dem ersten Betrachter, dem Künstler, folgen die Bildbetrachter als Museumsgänger. Mit der emphatisch wie empathisch prägenden Kraft von Schieles Attitüdentheater arbeiten die Museumsbesucher genauso wie die »Zöglinge« der einstigen Körperbildungsanstalten des Militärs und der Turnvereine oder die Theaterbesucher und Aktivisten der lebenden Bilder als Gesellschaftsspiel. Heute lässt sich neurowissenschaftlich belegen, dass tatsächlich das Betrachten von bildlichen Darstellungen des Zusammengehens von Leib und Seele, von körperlicher und geistiger Bewegung, im Rezipienten analoge Prozesse virtuell auslöst. Schieles Bildcharaktere zeigen das extreme Zusammenspiel von Psyche und Soma unter dem Dirigat der Hand. Das hat verschiedene Bedeutungsebenen, zum Beispiel gelingt Bewusstseinsbildung und -erweiterung durch die Vorstellung von Handlungsresultaten, ohne die Handlungen selbst ausführen zu müssen. Die symbolische Repräsentation der vorgestellten Handlung wird von Freud als Sublimierung verstanden: Triebbeherrschung durch Bildbetrachtung, seelische Entspannung durch Museumsbesuch. Das geschieht über Abstraktion, indem die gewohnheitsmäßige Koppelung von Sinneswahrnehmungen wie Geruch, Konsistenz, Oberflächenbeschaffenheit aufgehoben wird. Das war ursprünglich mit dem griechischen Begriff der »Autopsie« als eigener augenscheinlicher Vergewisserung gemeint; das lateinische Pendant ist die »Visite«. Wenn wir zur Bild-Visite ins Museum gehen, überprüfen wir unsere Reaktion auf die ins Bild gesetzten Auslöserreize für artspezifische Reaktionen. Vor den Schieles zum Beispiel müssen wir abstrahieren, also das Reizreaktionsschema entkoppeln, weil wir im Museum die Reaktion auf die Bilder nicht ausleben können, obwohl gerade Schieles Darstellungen als Auslöserreizkonfigurationen den starken Effekt haben, unsere Wahrnehmung in Handeln und Verhalten umsetzen zu wollen, was aber in der Öffentlichkeit des Museums nicht erlaubt ist. Bei analogen Appellen in Musikveranstaltungen erlauben sich die Besucher wenigstens eine partielle Umsetzung ihrer Stimulierung in entsprechende Körperbewegungen. Schieles Stilisierungen haben einen ähnlichen Effekt auf den Betrachtet wie der Rhythmus auf den Zuhörer.

Nur da spricht man sinnvoll von Pornografie der Bilder, wo unmittelbar und willentlich die Bildwahrnehmung in Handeln und Verhalten übersetzt wird. Aber die nackte Unmittelbarkeit von Reiz und Reaktion gibt es nicht nur angesichts sexueller Stimulierung, sondern bei allen Formen von Auslöserreizen. Demzufolge kann man vor entsprechenden Bildern von Machtpornografie wie in der Politik oder von Aneignungspornografie wie in der Konsumwerbung sprechen. Alle Formen des Fundamentalismus sind in diesem Sinne Pornografie. Das wird klar, wenn man eine heutige Begriffsbestimmung für Pornografie aufruft: Wer glaubt, auf einen Text oder ein Bild oder ein Musikstück unmittelbar, buchstäblich einsinnig, reagieren und entsprechende Handlungskaskaden auslösen zu müssen, betätigt sich pornografisch.

Seit altgriechischen Zeiten wird deutlich zwischen Pornografie und symbolischer Repräsentanz von Reaktionen, zum Beispiel von Männern und Frauen aufeinander, unterschieden. Pornografisch sind etwa Reaktionen auf die Präsentation der Genitalien, wenn deren Darstellung auf eine direkte, praktische Bildwirkung abzielt. In diesem Sinne werden fotografisch erzeugte Bilder genutzt, die gegenwärtig vor allem im Internet angeboten werden und deren Betrachtung in privater Sphäre sich unmittelbar in onanistischer Betätigung erfüllt. Die gleichen Bilder, im Museum präsentiert, verlangen zumindest den Aufschub der Reaktion oder, besser noch, ihre Sublimierung durch Stimulierung von Assoziationen umfassenderer Bedeutungen. Das sind zum Beispiel Fragen nach dem Zustandekommen der Bilder und ihren Wirkungsabsichten oder deren Vergleich mit konkurrierenden Verfahren, etwa mit Gedanken systematischer Ordnungen, durch Stimulierung jener erinnerten Wünsche und Begierden, die immer noch wirksam sind, weil sie eben nicht als erfüllte erledigt wurden.

In diesem Zusammenhang muss auch der Begriff Utopie neu gefasst werden. Utopisches Denken will gerade nicht reale Gegebenheiten bloß durch neue, andere ersetzen; vielmehr wirkt das Utopische als Kritik an den Geltungsansprüchen des Realen. Insofern sind Bilder Utopien des Realen. Jede Realität wird bestimmt durch das Verhältnis von Potentialität und Aktualität, denn das Gegebene ist nur ein Segment des Möglichen. Da das Mögliche nie in der Realität aufgeht, entwickelte man vor 1.200 Jahren die Theorie des vielfachen Bild- bzw. Schriftsinns. Wenn alle Zeichen verschiedene Aspekte des Bedeutsamen repräsentieren, wird fundamentalistische Einseitigkeit erheblich erschwert, also auch die eindeutig pornografische Lesart der Schieleschen Motive.

In einem seiner Hauptwerke, der Entschwebung ( »Die Blinden« II) von 1915, legt Schiele dem Betrachter eine ganz besonders zukunftsträchtige Bildübung vor. Wie die Blinden sich in der Landschaft nur kraft ihrer Vorstellung und Erinnerung bewegen können, sollen die Bild-Betrachter das innere Sehen üben, indem sie vor den Gemälden die Augen schließen und ihre Erinnerung an das Gesehene aufrufen. Dabei wird, wenn man die Augen wieder öffnet, schnell klar, wie wenig man wirklich gesehen hat. Dieses procedere, das Betrachten von Gemälden, ausdauernd zu üben, macht klar, wie wichtig das Verhältnis von gegenständlich gegebener Malerei im Akt des Sehens zur Bilderinnerung ist. Jeder kann sich selbst von der ungeheuren Diskrepanz überzeugen. In »Die Blinden« II verweist Schiele auf die schier unendliche Vielfalt der topografischen Bildsegmente, die unsere Welt ausmachen. Wie will man als Sehender die innere Vorstellung, zu der die Blinden gezwungen sind, je erfassen? Oder anders gesagt: Vor den Gemälden werden alle Betrachter versuchsweise blind, um ihr inneres Bildsehen besser zu entwickeln.

Der überragende Meister des inneren Bildsinns ist Albin Egger-Lienz. Seine Pietà von 1926 gibt den meditativen Moment des inneren Sehens der gezeigten Personen bei geschlossenen Augen wieder. Sie imaginieren, sie visionieren den Inbegriff des durch Arbeit zerschundenen Leibes des Menschen in rigidesten Lebenszwängen. Der Bildaufbau repräsentiert derartige Kargheit in Gestaltarmut und visueller Effektvermeidung, womit die toten Zonen unserer Vorstellungsbilder gekennzeichnet werden. Der imaginierte nackte Leib in der Tradition der Leichendarstellung seit Mantegna – die schmutzigen Sohlen der nackten Füße erscheinen hier unmittelbar vor den Augen des Betrachters – erzwingt die ungeheure gedankliche Leistung, dass allein und nur dieses Bild die angemessene Anschauung des Glaubensinhalts vom menschgewordenen Gott ist.

Man glaubte, Egger-Lienz immer wieder als Vorbildler der Bildpathetik der 1930er Jahre diskreditieren zu müssen. Die Nutzung von Bildmacht in politischen Kontexten war hingegen ausgerichtet auf die Einheit von Expressionismus und Klassizismus, von Wille zur Macht und Vorstellung der eigenen Kraftentfaltung. Es geht Egger-Lienz aber um Vorstellungskraft und nicht um Vorbildlichkeit in der Gestaltgebung. Und zwar um die Kraft der Vorstellung, die sich aus der leibhaftigen Erfahrung des real Gegebenen gegen die tödliche Macht des Idealen wendet, anstatt sich ihr zu unterwerfen und sie auch noch zur Idealität zu überhöhen.

Die Konfrontation mit Werken von Egger-Lienz lässt Sinn und Notwendigkeit der Blickumkehr ganz besonders augenscheinlich werden. Denn die Stigmatisierung von Ausdrucksformen nach politischen Opportunitäten führt zur Erblindung der Bilder, als seien sie bloße Spiegelungen des außerbildlich Gegebenen. Die beste Vorkehrung gegen die Verpflichtung von Malereien auf die Autorität des außerbildlich gegebenen Realen ist der demonstrative Vergleich von Kunst und Kult. Es war und ist Praxis totalitärer Regime, in die Arbeit der Künstler einzugreifen und sie zu zwingen, statt Kunstwerken wieder Kultobjekte herzustellen. Denn für die größte Zeit der Menschheitsentwicklung richtete sich die gestalterische Kraft der Menschen auf die Ausbildung von rituellen und liturgischen Objekten der jeweiligen Kulte und der anderen Verbindlichkeitsgarantien menschlichen Zusammenlebens. Da die gestalterische Kraft aller Menschen aller Zeiten aus dem gleichen Potential des Menschenmöglichen hervorgeht, können Kultobjekte aller Zeiten und aller Kulturen so hochwertige Gestaltformen ausweisen, wie die westlichen Kulturen sie seit 600 Jahren als Kunst zu bewerten gelernt haben.

Gestaltung als Kunst muss ohne jeden Rückhalt durch die kulturellen Autoritäten von Sitte und Gewohnheit, von weltlicher und geistlicher Herrschaft, von Väterkraft und Meisterschaft auskommen. Das stellt besondere Anforderungen an die »Attraktivität und Überzeugungskraft« der Kunstwerke. Deshalb entwickelten sich Ausdrucksformen, die es im Bereich der Kulte so nicht gegeben hat. Das aber ist kein Zeichen der Überlegenheit der Kunst über den Kult, sondern eine entscheidende Verschiebung der Urteilsautorität von kulturellen Kollektiven auf künstlerische Individuen. Das war nur möglich durch die theologische Begründung der Unmittelbarkeit eines jeden Menschen zu Gott ohne jegliche kulturelle Vermittlungsinstanzen. Es gibt Künstler, zum Beispiel Koloman Moser, die für die Formen des Alltagslebens, wie etwa das Wohnen, höchstwertiges Kultdesign liefern und sich andererseits als »Kunstmaler« auf die Autorität durch Autorschaft berufen.

Leider ist bis heute in aller Welt die Gleichsetzung von Kunst und Kultur scheinbar fraglos, also gedankenlos gegeben. Es hat aber fatale Folgen, Kunst und Kultur als gleichbedeutend, als Synonyme zu gebrauchen. Das bestärkt zum Beispiel die Autokraten, die alles Geschaffene unterschiedslos in seine Brauchbarkeit für politische, soziale oder religiöse Kultdienste einordnen. Die gedankenlose Gleichsetzung von Kunst und Kultur hat auch unabsehbare Konsequenzen hinsichtlich der Forderung nach Rückgabe von Museumsbeständen an Kultgemeinden, die heute zumeist gar nicht mehr in der Form bestehen, dass sie die Objekte entsprechend nutzen könnten. Diese Objekte aber in formaler Hinsicht, also als attraktive Kunstwerke zu betrachten, ist ja keine Leistung der Herkunftsgesellschaften, sondern verdankt sich gerade ihrem Gegenteil, der Kunst, die als Autorität von Individuen erst den Blick auf die gestalterische Qualität des Kollektivausdrucks im Kultobjekt ermöglichte. Erst durch Picassos und Braques Besuche der Pariser Sammlungen von afrikanischen Kultobjekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts lernten die Zeitgenossen, deren gestalterische Kraft und Macht wahrzunehmen. So gut wie alle Künstler stellten sich der Herausforderung, ihren individuellen Gestaltungsausdruck an dem der Kultobjekte zu messen. Besonders auffällig wurden in diesem Zusammenhang Reisen westlicher Künstler in Regionen afrikanischer oder ozeanischer Kulturen. Im Mittelpunkt stand die sowohl wissenschaftliche wie künstlerische Frage, in welchem Verhältnis die Wirksamkeit der Kultobjekte zu der von Kunstwerken in offenen Gesellschaften steht. Die meisten von ihnen erkannten die Gefahr der Rückverwandlung von Kunstarbeit in Kulturarbeit durch die unübersehbare Tatsache, dass sich in den westlichen offenen Gesellschaften Formen der kultischen Kunst-Verehrung entwickelten. Heute gehören vor allem die Auktionen zu solchen Kulten der Kunstverehrung. Da ist es erst recht die Aufgabe von Museen, für die erkenntnisträchtige Unterscheidung von Kultur und Kunst zu sorgen und zu würdigen, dass wir erst in den letzten 600 Jahren durch Künstler die ungeheure Gestaltungskraft der Kultobjekte zu erkennen gelernt haben. Wer behauptet, dass etwa die delikateste farbliche Gestaltung von Teppichgeweben im nordöstlichen Persien vor Jahrhunderten genau auf die gleiche Weise zu würdigen sei wie z.B. die Werke eines Rothko, begeht einen grundsätzlichen Fehler. Wir haben erst durch Rothkos Arbeit, die Arbeit eines ausgebildeten Profikünstlers, gelernt, die malerische Qualität der Teppiche aus der Kollektivproduktion von Analphabetinnen zu schätzen und als hochwertige Artefakte anzuerkennen. Das bekunden Museen wie das Leopold, indem sie in die Präsentation von Kunstwerken auch die Kultobjekte des modernen Design aufnehmen. Das bedeutet eben nicht die Vermischung von Kult und Kunst, sondern ihre wechselseitige Erhellung.

Anmerkungen
(1) Kaiser Wilhelm II: »In Bremerhaven, 27. Juli 1900«, in: Die Reden Kaiser Wilhelms II. 1896–1900, Bd. 2, hrsg. von Johannes Penzler und Bogdan Krieger, Leipzig 1897–1913., S. 210f.
(2) Kaiser Wilhelm II. in einem Brief an Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld, 9.12.1896.
(3) Zitiert nach: Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., hrsg. von Ernst Johann, München 1977, S. 99–103; zugrundeliegend: Wilhelm II 1897–1913 (wie Anm. 1).
(4) Friedrich Nietzsche: »Zur Genealogie der Moral«, in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München 1988, S. 275.
(5) Siehe hierzu seine Werke Selbstakt mit gespreizten Fingern (1911), Prediger (1913), Der Tänzer (1913) oder Der Lyriker (1911).

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