Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
30.05.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
30.05.1994

Rhetorikoder: Führende Worte

Eines jedenfalls ist klar: der bessere Redner ist Johannes Rau. Wer ihm nicht nur bei hoheitlichen Gelegenheiten, sondern vor Gewerkschaftlern und Hochschullehrern, vor Arbeitern und Unternehmern, auf dem Marktplatz und im Seniorenheim zuhören konnte, muß ihn bewundern für seine Situationskomik und seine Klarheit im Grundsätzlichen, für seine intellektuelle Bandbreite und vor allem für die Mühelosigkeit, mit der er sich auf sein Gedächtnis verlassen kann und mit der er sich im schnellen Wechsel auf die unterschiedlichsten Themen und Situationen zu konzentrieren vermag. Kurz, Rau ist ein brillanter Redner. Genau das aber gilt in Deutschland nicht als Auszeichnung, sondern als verdächtig. "Rhetorisch" ist beinah ein Synonym für oberflächliches Reden, Politrhetorik gar wird als hohe Schule der Geläufigkeit verstanden, um die Zuhörer zu blenden oder wenigstens zu überrumpeln. Eleganz der Formulierungen scheint den Vorwurf mangelnder Seelentiefe hervorzurufen, intellektuelle Überlegenheit wird als arrogante Besserwisserei gewertet.

Seit langem ist in Deutschland gut beraten, wer Stottern als Kunstform ausbildet und quälende Unbeholfenheit als Beweis seiner gedanklichen Schwerarbeit zur Geltung bringt. Ja, und dann die Gefühle. Klarheit der Gedankenführung deutet auf emotionale Kälte hin und die wiederum auf Desinteresse an dem Allzumenschlichen, denn jeder Hörer will von seinem Seelenführer vor allem eines hören: "ego te absolvo"; vor Dir und Deinen Taten zwinkern wir nicht nur einvernehmlich mit dem Auge, sondern drücken beide zu.

Natürlich weiß das alles Johannes Rau, und in diesem Wissen hielt auch er unmittelbar nach der Präsidentenwahl eine Rede vor den SPD-Wahlleuten, in der er sagte: "Wenn die BürgerInnen ... allen Politikern abspürten, daß es nicht zuerst darum geht, ob unsere Gedanken richtig sind, sondern daß wir sie mögen und daß wir deshalb Politik machen und daß wir darum neue Gedanken suchen..." Inhaltlich scheint dies auf die biblische Weisheit zu verweisen, daß es nichts hülfe, wenn wir die ganze Welt gewönnen, aber sie nicht zu lieben vermöchten. Als rhetorische Figur zielt sie auf den Konsens mit den Zuhörern beim Eingeständnis des gemeinsamen Scheiterns, also in einem kritischen Moment. Wer das aber, ganz deutsch, gerade nicht als Rhetorik nimmt, setzt sich einer intellektuellen Zumutung aus, Scheitern als höhere Form des Gelingens bedenken zu sollen. Nur die Kraft, das Scheitern sich selbst zuzuschreiben und die Erfahrung von Ohnmacht vorbehaltlos anzunehmen, eröffnet eine Perspektive auf die Zukunft: dann suchen wir nach neuen Gedanken.

Heinemann hatte gemeint, man könne nicht die Menschen, sein Volk, die Welt lieben, sondern nur seine Frau. Rau schwächt das Lieben zwar auf Mögen ab, aber er sagt, daß man die lieben sollte, für die Scheitern und Ohnmachtserfahrung die Lebensperspektiven bestimmen. Von der Politik der Machtgesten und des selbstbewußten Auftrumpfens von Siegern führt solche Liebe zur Suche nach neuen Gedanken, aber nicht notwendigerweise zu den richtigen, mit denen man endlich auch siegt. Denn Nächstenliebe statt Politik, das wäre nun wirklich reine Rhetorik.