Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
24.05.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
24.05.1994

Höllenfahrt

Die Kirchen entdeckten das sittlich Gebotene im Iran und in Algerien, in der Türkei, im Nord-Sudan und überall dort, wo Repräsentanten des Islam und gläubige Mohammedaner sich mit allen Mitteln gegen den säkularen Staat und die westliche Zivilisation wehren: eine erfolgreiche Offensive der fundamentalistischen Sittlichkeit. Da kann man es verstehen, daß unsere Kirchen dieses Erfolgsrezept übernehmen wollen. Ein erster Schritt ist getan: Die Kirchen bieten offiziell Asyl - Inseln des Rechts in einem Ozean von Rechtlosigkeit. Denn nur, wenn wir, wie die Kirchen offenbar beweisen wollen, nicht mehr Rechtstaat sind, macht die Gewährung von Hoheitszonen des Asyls zur Wahrung von Recht einen Sinn. Oder waren wir nie ein Rechtstaat, was uns die vielen Märtyrer ihrer eigenen Sittlichkeit, d.h. Insassen überfüllter Gefängnisse, gerne bescheinigen würden?

Das letzte Mal, als eine Kirche sich aus Geboten der Sittlichkeit für Asylgewährung aus eigener Machtvollkommenheit lebhaft engagierte, verhalf sie nicht nur mit passiver Duldung, sondern mit aktiver Förderung bis zur konspirativen Ranküne Tausenden von gesuchten Kriegsverbrechern zum Verschwinden aus ihrem Wirkungsfeld in Deutschland, Ost- und Südosteuropa - zumeist nach Südamerika, dessen Länder für ihre strikte Rechtstaatlichkeit notorisch berühmt sind. Aus der Kritik an dieser Eigenmächtigkeit hat man offensichtlich gelernt. Diesmal versucht man es mit unschuldigen Flüchtlingen, das hebt die Glaubwürdigkeit, aber nur vorübergehend, denn was geschieht mit den Menschen nach Beendigung des Kirchenasyls? Wer sich auf Urteile aus eigener sittlicher Vollkommenheit beruft, muß natürlich die Folgen tragen, versichern die Kirchenoberen ihren Gläubigen; also sollten die Kirchen diejenigen, denen sie Asyl gewähren, auch auf alle absehbare Zukunft ernähren und behausen, sie gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit versichern.

Das Programm "Kreuze zu Pflugscharen, Kirchen zu Wohnhäusern, Pfarrer zu Hausmeistern und Oblaten zu täglich Brot" ist begrüßenswert, aber natürlich nicht mit staatlich eingetriebenen Steuermitteln, denn wer wird schon Gelder aus der Hand eines Unrechtstaates annehmen bei hoch entwickeltem sittlichen Gewissen? Wer wird sich schon als kirchlicher Repräsentant bei jedem Staatsakt in vollem Ornat in die erste Reihe setzen? Wer wird noch Behörden oder Ordnungskräfte wie die Polizei und den Grenzschutz Prozessionen begleiten oder Kirchentage regulieren lassen, wenn deren Vertreter doch nur den Unrechtstaat, die Unmenschlichkeit und die Blindheit bürokratischer Formalismen exekutieren?

Gewaltige Veränderungen stehen uns ins Haus. Der Schlaf des Gewissens gebiert Ungeheuer, die jetzt erwachen - sind die bei Goya nicht alle schwarz gekleidet? Unsere Pfarrer können nicht gemeint sein, denn die tragen längst Jeans und Discobunt. Ist das Gewissen selbst ein Ungeheuer, weil es außer sich nichts gelten läßt?