Zeitung Die Welt

 Zuerst in der Online-Ausgabe erschienen am 28.03.2020

Erschienen
30.03.2020

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Seite 9 im Original

Leben nach dem Virus

[Originaltitel: Wirus – Es wird sich gar nichts ändern. Aber Enttäuschung meint immerhin Aufklärung. Wirklich ist nur das, worauf wir keinen Einfluss haben.]

Die Euphorie der Visionäre ist groß: „Nach Corona wird die Welt nie mehr sein, was sie bisher für uns war!“ Welch ein Irrtum, aber offenbar ein naheliegender. Die digital berauschten In-die-Zukunft-Seher, angeführt von Peter Weibel in der NZZ, meinen, dass „eine Lehre des Virus darin besteht, uns mit Gewalt und Macht in das digitale Zeitalter zu schieben ... Man geht nicht mehr ins Restaurant, um zu essen, sondern lässt sich die Mahlzeit vom Pizzadienst zustellen.
Es gibt E-Commerce und E-Banking – alles virtuelle, nonlokale, körperlose Kommunikation und Transaktion ... Die Kultur wird zu einem Online-Paradies. Das Virus zwingt die Kultur zu einer Migration in virtuelle Welten – ein wichtiger Schritt für die Steigerung der Abstraktions- und Symbolisierungskraft des Menschen, d.h. für die Evolution.“

Na dann, paradiesisch neue Welt: Pizzamehl und Zutaten wachsen auf dem Bildschirm, der Transport zu den Kunden findet auf Landkarten anstelle von Straßen statt, weil „der Verkehrsfluss zum Zeichenfluss wird“; die Reste der Verdauungsprozesse werden virtualisiert, weil man sich das Kauen und Schlucken ohnehin nur noch vorzustellen braucht. Das wäre in der Tat ein wichtiger Schritt für die Steigerung der Abstraktionskraft der Evolution, nämlich ohne Leben auskommen zu wollen.

Ich rufe, wertester Peter Weibel, unsere sympathischen Leibesfüllen zum Zeugen, dass auch Du weißt, es kann keinen unverkörperten Geist geben, selbst die Naturgesetze wurden erst mit dem Beginn unserer kosmischen Embodiment-Phase im Urknall geschaffen. „Körperlose Kommunikation“ kann es nicht geben, weil die Kommunizierenden ja gegebene Adressaten in der Welt sein müssen, wenn zwischen ihnen und ihrer Umwelt Kommunikation stattfinden soll.

Es kommunizieren nicht die Handys miteinander (auch Körper), sondern es kommunizieren die Handy-Benutzer oder die Profiteure und Kontrolleure eben jener Kommunikation. Und auch wenn mein Körperteil Gehirn einen abstrakten Gedanken produziert, setzt es mich selbst oder andere als Anzusprechende voraus. Sogar Gott kommt als Adressat nur in Frage, wenn er sich im Menschen verkörpert. Es ist wenig erreicht, wenn die virtuellen Welten nicht mehr als eine theologische Magerformel für „Reich Gottes“ sein sollen.

Auch die bloßen Opportunisten der E- und Igitt-Werbung für die Zukunft wie Matthias Horx in „Horizont“ geraten in einen „regelrechten Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft ..., eine Art Neu-Sein im Inneren ...“. Das ist ein „Megatrend der Konnektivität und Prozess der Komplexierung“, so Horx. Ist das auch gesteigerte Abstraktionsleistung? Ist das Neu-Sein im Inneren endlich eine konkrete Fassung der virtuellen Welt?

Dann wären ja Intelligenz und Opportunität generell in der Gesellschaft vermählt, denn bisher kannten wir die Einheit von Verstandeskraft und Unterwerfungsbereitschaft nur als Auszeichnung von Mafiamitgliedern und natürlich jenen Unternehmern, die Herrn Horx als Führer bezahlen. Ganz unverblümt propagiert Horx das „Führersein derer, die die Sprache der Komplexierung sprechen“.

Welch ein „Megatrend“: Von der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges zur Corona-Pandemie, vom gespielt naiven Simplicius Simplicissimus, der es faustdick hinter den Ohren hat, zum tatsächlich ahnungslosen CEO Komplexius Komplexissimus! Wer dreist genug ist, seine Ahnungslosigkeit als Tiefsinn darzustellen, beurteilt Sachverhalte als „sehr komplex“.

Diese Formel deckt in der gesamten Führerschaft im Horxschen Sinne die Tatsache ab, dass sie Herausforderungen nicht gewachsen ist und deswegen keine Antwort auf entsprechende Fragen zu geben vermag. „Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars“, schreibt Horx, also zu neuen Führern, weil sie die Sprache der Komplexierung gut sprechen und das heißt ja, noch nach langen Wochen ihrer hoch subventionierten Arbeit nicht einmal auf die Frage antworten können, ob Covid-19 auch über Schmierinfektion übertragen werden kann. Selbst das Robert-Koch-Institut meint nur: „Vielleicht, vielleicht auch nicht.“ Vielleicht auf glatten Oberflächen, vielleicht für kurze Zeit oder auch gar nicht. Tausende von Forschern sind über diese Weltweisheit des Alltagsverstandes nicht hinausgekommen.

In einigen Ländern des Fernen Ostens werden öffentliche Verkehrsmittel täglich desinfiziert; in unseren Ländern westlicher Nähe hält man das, unabhängig von Fragen zur Schmierinfektion, für nicht nötig, weil nach Desinfektion die Businnenräume durch neue Passagiere sofort wieder infektiös würden. Dieser Logik der Dummheit folgt das Gros unserer Horxschen Führer nach dem Muster: Wenn die Busse an jeder Station stoppen müssten, ließe sich der Fahrplan nicht einhalten. Oder nach dem Muster der Eliten technischer Intelligenz der Fluggesellschaften, die seit Jahren erklären: „Der Grund für die Verspätung Ihrer Maschine ist das verspätete Eintreffen der Maschine!“

Da haben wir es, die Führer empfinden keinerlei Verantwortlichkeit, weil das Volk einfach zu dämlich ist. Denn sonst hätte dieses Volk als Kunde jenen längst die Fluglizenz entziehen müssen, die in hochanspruchsvollen Funktionszusammenhängen Tautologien für Antworten ausgeben. Und haben die Horxschen Führer als Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, Künstler nicht ganz recht mit der unausgesprochenen Annahme, wer solche Typen wie sie berufe, sei ohnehin nicht in der Lage, deren Arbeit zu kontrollieren? Und die von den Bürgern bestellten Kontrollinstanzen, zum Beispiel die Presse und allemal die öffentlich-rechtlichen Anstalten aller Genres (Fernsehanstalten, Hochschulen, Museen, unabhängige Forschungseinrichtungen, NGOs und Alternativen) ihrerseits aller Kontrollen entbehren müssen – nicht einmal Lektoren und Korrektoren gibt es mehr in den Redaktionen und Verlagen.

Und derartige vermeintliche Kleinigkeiten sollten wir ernster nehmen als das große Gerede von einer Weltbedrohung durch mutierende Viren und Bakterien. Die mutierenden Zinsen der Zentralbanken und aller Geldhändler sind für das Wohl der Welt zigmal gefährlicher als Covid-19 und Gesellen. Es ist auffällig, dass die Weibelschen oder Horxschen Visionen kaum auf irgendwelche politökonomische Bedingungen eingehen, von denen sie selber abhängig sind.

Eines ist die generelle Ahnungslosigkeit und Dummheit von jedermann als anthropologische Grundkonstanten, ein anderes ist aber, wenn derart geprägte Jedermänner Führer sein wollen, ohne etwas von ihrer eigenen menschlichen Vorurteilsbefangenheit je erkannt zu haben. Aufgeklärt und damit vertrauenswürdig sind nur Menschen, die diese unsere allgemeine Abhängigkeit von Vorurteilen kennen und dadurch den Geltungsanspruch ihrer Autorität zu kontrollieren wissen. Gefährlich dumm sind alle, die als Richter glauben, nur dem Gesetz zu folgen, oder als Ärzte, der Wissenschaft und nichts als der Wissenschaft verpflichtet zu sein, oder als demokratischen Verfahren genügende Politiker meinen, ausschließende Unterscheidungen dürfe es nicht geben, weil alle Urteile, Meinungen und Auffassungen gleich gültig sein müssten.

Und nun kommt es: Aufklärung heißt, Menschen eben aus diesen natürlichen Vorurteilen und Befangenheiten hinauszuführen, sie also von ihrer permanenten Selbsttäuschung zu lösen. Jemandem aber seine Täuschbarkeit klarzumachen, heißt, ihn grundlegend zu enttäuschen. Die unvermeidliche Enttäuschung prägt den Geist der Moderne als Aufklärung. Aufklärung verlangt also nach der Fähigkeit, Enttäuschung zu ertragen, und nicht nach Wechsel dogmatischer Verbindlichkeiten, Renegatentum oder Bekehrungsglück. Nach diesem Hinweis können wir endlich die Misere gegenwärtigen Katastrophengeplauders über gnadenlose Durchsetzung der Letztbegründung als Geldwert erfassen.

Wir sind alle maßlos enttäuscht, dass das angeblich so himmelhoch reiche und wohl organisierte Deutschland, noch vor fünfzig Jahren die Apotheke der Welt, keinen einzigen Grundstoff oder keine Weiterverarbeitungskapazität für Antibiotika besitzt, ja nicht einmal die offensichtlichste Behauptung zu stützen vermag, man sei auf der primitivsten Ebene für Eventualfälle von Epidemien und Pandemien gerüstet, weil man entsprechend viel Schutzkleidung vorrätig halte.

Wir sind alle maßlos enttäuscht, dass der angebliche Riesenerfolg der Globalisierung zu einem weltweiten Zusammenbruch der Wirtschaft führte, schon wieder führt, und wieder keiner der Verantwortlichen für diese erwartbare Fehlkonstruktion haftbar gemacht wird, weil wir es endlich wieder mit höherer göttlicher Gewalt jenseits des Menschlichen zu tun hätten. (Achtung: Im Namen Gottes spricht nicht nur der Papst, sondern auch die Bankdirektoren-Elite. Höhepunkt der Gottanmaßung bietet das Bankenkonsortium Blackrock, dem offensichtlich von der islamischen Gemeinschaft sogar erlaubt wurde, das innerste Heiligtum der Kaaba, den schwarzen Stein, zum Firmennamen zu wählen.)

Wir sind alle maßlos enttäuscht, also darüber aufgeklärt, dass Großmächtige der Ersten Welt vor vierzig Jahren glaubten, dem armen, machtlosen China die Drecksarbeit im Billiglohnbereich aufoktroyieren zu dürfen, ohne Verstand genug zu haben, den Aufstieg Chinas zur Weltführungsmacht zu antizipieren. Von allen anderen Machtmitteln abgesehen, reicht Chinas absolute Vorherrschaft bei der Antibiotika-Produktion aus, uns Europäer beliebig erpressbar werden zu lassen.

Wir sind alle maßlos enttäuscht, erneut ohnmächtig hinnehmen zu müssen, dass die Geldwelt des Kapitals mit ihrem Modell der Zyklen von Aufstieg und Fall die Macht geschaffen hat, selbst zu bestimmen, wann sie durch ihren Ausstieg aus dem Markt den Zusammenbruch herbeiführt und wann sie durch den Wiedereinstieg in den Markt die Zusammenbruchsrenditen mit sonst nie erreichbaren Margen kassieren darf. Wir sind alle maßlos enttäuscht, dass das humanistische wie christliche Ideal der Nächstenliebe dazu pervertierte, selbst perfideste Spekulanten zu retten, weil für die Folgen von deren Asozialität „unschuldige“ Menschen zu bezahlen hätten.

Wir sind alle maßlos enttäuscht, also aufgeklärt über den wahren Kern der demokratischen Gewaltenkontrolle, im Namen des Volkes sich zu legitimieren. Wir sind alle maßlos enttäuscht, dass trotz aller weltgemeinschaftlichen Einschwörung auf Menschenrechte und Friedenspflicht permanent Dutzende Kriege geführt werden, mit der schönen kapitalistischen Moral, man müsse Selbstverwirklichung der Völker durch Waffengebrauch unterstützen, um nach der Selbstzerstörung entsprechend am Wiederaufbau beteiligt zu werden. Motto: „Kaufen Sie unsere Waffen, denn wir geben nach deren Gebrauch die Garantie, am Wiederaufbau des Zerstörten mitzuverdienen.“

Am allermeisten aber kränkt und bestürzt uns gegenwärtig, dass eine kleinste Mutation der millionenfach das Leben ermöglichenden Mikroorganismen derart zu dominieren vermag, dass alle anderen Mikroorganismen, geschweige denn wir als deren Träger, zugrunde gehen können.

Wir sind maßlos enttäuscht über die brutale Natur, denn wir hatten uns hochmütig darauf verständigt, nunmehr selbst das jüngste Erdzeitalter mit unserem stolzen Gattungsnamen zu kennzeichnen. Und nun das! Das angebliche Anthropozän kennzeichnet nicht die Macht der Menschen, sondern die der Naturgesetze. Dass Wissenschaftler selber das Anthropozän zum Machtbeweis des Menschen über die Natur ausriefen, zeigt nur, dass Wissen nicht vor Dummheit schützt. Und dass die Gebildeten unter den Menschen die Ohnmacht des Wissens zu ertragen haben.

siehe auch: