Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
18.01.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
18.01.1994

Beschwörung

Mit welcher Selbstgewißheit unsereins doch das Lamentieren der Bürger über Staat und Politik, Schule und Familie, Arbeitsmarkt und Asylanträge als Stammtischgewäsch disqualifiziert! Kein hochmögender Durchblicker komme ohne die für brillant gehaltene Feststellung aus, die Dummheit des Volkes habe die Lufthoheit über den Stammtischen erobert.
Aber die Erfahrung lehrt den, der lernen will: Ministerdiskussionen am Kabinettstisch, Expertenrunden im Fernsehen und professorale Symposien vor Publikum unterscheiden sich kaum von Vereinstagungen der Kleintierzüchter oder eben von Stammtischen. Mit der hämischen Abqualifizierung von Kommunikationsnot und Gedankenblässe der anderen versucht man, sich den Anschein zu geben, als sei man von der Vernunft persönlich geleitet und autorisiert. Der Normalbürger ist für diese Richter und Denker grundsätzlich verhetzt und aufgestachelt, sobald er anderer, also schlechtweg unqualifizierter Meinung ist. Seinen politischen Gegnern unterstellt man einerseits, mit Hetzen Wähler ködern zu wollen. Andererseits legt man aber auf die Zustimmung des Volkes zur eigenen Position größten Wert, um demokratisch legitimiert zu sein.
Legitimation durch Menschen, die man für leicht manipulierbar, für gedankenlos, unmündig, rassistisch und autoritätsgläubig hält? In allen entscheidenden Fragen unseres Zusammenlebens gilt das Volk als inkompetent, aber durch seine Zustimmung lassen wir uns unsere Kompetenz bestätigen.
Gegenwärtig hagelt es tagtäglich Beschimpfungen, die perfiderweise als Mitbürgerinnen und Mitbürger umschmeichelten Wähler liefen faschistischen Rattenfängern hinterher; selbst deren groteskeste Antworten auf soziale und politische Fragen durchschauten die Wähler nicht als völlig haltlos. Ja, sind denn unsere eigenen Antworten auf Massenarbeitslosigkeit, Völkerwanderung, Verlust kultureller Verbindlichkeiten haltbarer als die der Rattenfänger?
Dabei behaupten wir doch, es besser zu wissen als die Verderber der Völker. Warum sagen wir es dann nicht? Warum führen wir die verantwortungsbewußte Diskussion nicht, anstatt sie nur zu beschwören und das Gerede aller anderen für verantwortungslos zu halten? Wenn wir der Gefahr des Totalitarismus glaubwürdig für die Mitbürgerinnen und Mitbürger entgegentreten wollen, kommen wir nicht umhin, die Fragen selber zu beantworten, die zu stellen wir bereits als Ausdruck faschistischer Gesinnung schmähen.