Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
24.12.1993

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
24.12.1993

Verbrüderung

Ein etwas unangenehmer und beschämender Bruder; er geht einem auf die Nerven, es ist eine reichlich peinliche Verwandtschaft. Ich will trotzdem die Augen nicht davor verschließen, denn besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß ist das Sich-wieder-Erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten, möge sie auch die moralische Gefahr mit sich bringen, das Neinsagen zu verlernen. Mir ist nicht bange deswegen - schrieb Thomas Mann 1938 über Bruder Hitler; und er gab damit eine erfahrungsgesättigte Empfehlung an uns: Erscheinungsformen des Künstlertuns mit schlechtem Gewissen, mit Wut auf die Welt, mit explosiven Kompensationswünschen und dem zäh arbeitenden Bedürfnis, eine in Angst, Liebe, Bewunderung und Scham vergehende Welt zu unseren Füßen zu sehen - wir, die wir uns verschmäht glauben im Drang zur Überwältigung und Unterwerfung.
Ihm war nicht bang, mir schon.
Dem Sich-wieder-Erkennen im Hassenswerten gelten die Bruderküsse.
Zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten fehlt mir das Bewußtsein des Überlegenen. Ist die Identifikation mit den Tätern tatsächlich produktiver, reinigender durch Schrecken, als die Einübung in die Opferrolle? Jedenfalls rät der Polizeipsychologe, auf keinen Fall Schwäche zu signalisieren, Unterlegenheitsangst oder Fluchtbereitschaft. Trainieren die Konsumenten von Gewalt-TV, jederzeit mit dem Schlimmsten zu rechnen, damit die Angst weniger Macht über uns gewinnt? Sich nicht verladen lassen, indem man unmißverständlich in Haltung und Verhalten demonstriert, daß man zurückschlagen wird - natürlich nur, wenn man nicht schwächer ist als die Gewalttäter, widerruft der Polizeipsychologe die Empfehlung.
Das liefe darauf hinaus, sich je nach Opportunität als Täter oder als Opfer definieren zu dürfen. Zum Beispiel so:
"Honecker war der erste politische Gefangene der DDR, ein Werkzeug von Leuten, die vor ihm gekrochen sind", beschreibt Heiner Müller dessen Rolle. Die Täter sind Opfer der Täter, die gemeinerweise die Rolle von Opfern spielen. Der DDR-Staat war das Opfer "einer feindlichen Bevölkerung, die es schätzte, daß sie den Staat ständig betrügen konnte".
Man kann verstehen, wie sich Täter als Opfer gerieren wollen; denn jedermann möchte gerne die Furien des Gewissens besänftigen. Auch ist bekannt, aber weniger akzeptierbar, daß man den Opfern vorwirft, sie hätten durch diese ihre Rolle die Täter provoziert. Daß aber jemand sich für ein Opfer der DDR-Bevölkerung und nicht des DDR-Regimes ausgibt, um sich jetzt als Richter über die Unschuldigen statt über die Schuldigen zu legitimieren, erfüllt jene höchsten Ausprägungen der Hitler-Bruderschaft, die Thomas Mann entdeckte. "Gefährlich sind die Unschuldigen", konstatiert Müller wie jeder Polit-Kriminelle, literarische Lakai der Geistfeindlichkeit oder primitivitätsverliebte Professor. Immer galt den intellektuellen Koryphäen von Gestapo, GPU und Stasi die Unschuld als Beweis der Schuld der Unschuldigen. Welche Schuld? Nicht zu sein wie die Täter!
Nach dieser Faustregel hält sich die Mafia für eine staatstragende Vereinigung, die Akademie der Künste für den Olymp der Kulturgötter und der Genfer Balkantisch für eine Tafelrunde von humanistischen Friedensstiftern.
Praktiziert Müller möglicherweise die Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten, um seinen Opfern das Bewußtsein von Überlegenheit zu demonstrieren? Wie Heidegger, Carl Schmitt und Legionen von "Dasschlimmsteverhinderern" wollte und will er gerade die übelsten Täter erziehen, die Mächtigsten lenken und die Mörder trösten über das schwere Los, das ihnen ihre Opfer zumuten.
Wir sollen uns wiedererkennen im Hassenswerten - gut; sich mit ihm zu identifizieren, ist seit antiken Theaterzeiten ein fragwürdiger Versuch der Mäßigung. Sich aber über alles Hassenswerte zu stellen, weil man sich noch den zynischsten Verächtern und brutalsten Schlächtern überlegen weiß - diese Singularität der großen Männer verhunzt die Bruderschaft der Menschen, wie wir sie nur von Göttern kennen, eben von Müllergöttern, den Kulturmüllern. Alle Müller werden Götter, denn die Götter sind schon Müll.
Nein! Unsere Ehre heißt Reue.
Reue, schöner Täterfunke, Tochter aus Diktatorzeit.