Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 280 im Original

Band VIII.4 Heim ins innere Reich der Harmlosen

In: Paul Kruntorad (Hrsg.): A.E.I.O.U., Wien 1985

1977 habe ich den Ruf an die Hochschule für angewandte Kunst in Wien nicht zuletzt deshalb sofort angenommen, weil ich auf diesem Wege einen österreichischen Paß bekommen würde. Jeder ordentliche Professor an einer österreichischen Hochschule hat Österreicher zu sein. Wenn er es nicht ist, verleiht ihm der Bundespräsident diese Eigenschaft ex lege. Ex lege, also nicht auf eigenen Antrag. Ich durfte als Österreicher Deutscher bleiben; ich durfte als Deutscher Österreicher werden.

Was war daran so verlockend?

Vielleicht eine persönliche Nacharbeitung der Geschichte? Als nachgeholter Anschluß Österreichs oder als Bußopfer für den Bruder Hitler, der ja schließlich Österreicher war?

So stählern romantisch es auch klingen mag: Ich glaubte, mit einem österreichischen Paß besser für Fluchten aller Art gerüstet zu sein. Ich glaubte, mit einem österreichischen Paß sowohl im Westen wie im Osten Anspruch auf Schutz und Verständnis zu haben; Versprechen, die durch Persönlichkeit und Amtsauffassung des Kanzlers Kreisky glaubwürdig gemacht wurden.

Möglicherweise wäre in dieser Hinsicht ein Dokument der Eidgenossenschaft noch wertvoller gewesen, aber zum Schweizer fühlte ich mich nicht gereift, ganz davon abgesehen, daß mir die Schweizer keine Chance eingeräumt hatten, mich ihnen anzuschließen.

In der Bundesrepublik regierte damals ein Mann, Helmut Schmidt, der sich wie ein schnarrender Kommißkopp alter Schule jeglichen Hinweis auf die lebensbedrohenden Probleme verbat, da er selber am besten wisse, was als ernstzunehmendes Problem aufzufassen und was als hysterische Angst abzutun sei.

Der Mann gab sich als musikalisch begabter Liebhaber der deutschen Expressionisten und als Städtebauer von Herzen aus, disqualifizierte aber sämtliche Hinweise auf die Unwirtlichkeit unserer Städte, auf die Zerstörung der Umwelt und auf den denkbaren atomaren Holocaust.

Heute verkündet der gleiche Mann, scheinbar eines Besseren belehrt, was man ihm damals vergeblich zu verstehen gab: "Eines Tages werden die Politiker dafür angeklagt werden, daß sie nicht rechtzeitig das Problem gesehen haben. Wir haben viele Probleme nicht gesehen. Aber die Politiker haben, wie andere auch, ein Anrecht, von der Naturwissenschaft und von der Technik zu verlangen, daß sie erstens die Wirkungszusammenhänge zu erkennen versuchen, um dann zweitens über die möglichen Therapien nachzudenken."

Von dieser Art von intellektueller Unfähigkeit im höchsten politischen Entscheideramt sah ich mich, wie unzählige andere, bedroht; der Drohung war vielleicht, wenn auch gegen jedes vernünftige Kalkül, durch eine Flucht zu entgehen.

Bruno Kreisky schien mir ganz das Gegenteil jenes präpotenten Herrn zu sein, der für sich politische Entscheidungsmacht in Anspruch nahm, aber Wissenschaftler und Techniker dafür verantwortlich machte, wenn die Entscheidungen sich als falsch erwiesen. Bruno Kreisky schien verstanden zu haben, daß es nicht um technisch-wissenschaftliche Lösungen gehen kann, bevor man nicht bereit ist, die entsprechenden Sachverhalte als problematisch anzuerkennen.

Genau das brachte der deutsche Weltstaatsmann nicht fertig. Er pochte auf sein Recht als Machthaber, daß andere (Wissenschaftler und Techniker) mit ihrer Arbeit ihm gefälligst das Problem vom Halse zu halten hätten - etwa nach dem Motto: Wo eine Rüstung zu rechtfertigen ist, erfinde man die Vorrüstung des Gegners, um selber problemlos nachrüsten zu können. Diese Erfindung machte der deutsche Kanzler damals und wurde damit, worauf er auch noch stolz war, zum Urheber der Nachrüstungsbeschlüsse .

Vor so viel objektivem Wahnsinn auf dem Throne schien die Flucht nach Österreich wenigstens ein vorläufiger, wenn auch kleiner Trost zu sein. Kreisky hatte den Wahnsinn, in dieser Art zu denken, stets gegeißelt, was um so mehr zählte, als er Israelis und Arabern, Sowjets und Amerikanern gegenüber gleichermaßen unbestechlich blieb. Er war wirklich zu Einsichten fähig, derer es dringend bedurfte, um die sich so ideologiefrei und sachzwanglogisch gebenden Macher als Tätertypen zu entschleiern, deren vermeintliche Standfestigkeit nichts weiter als das Resultat ihrer Phantasiearmut und intellektuellen Beschränktheit ist.

Ich floh also nach Österreich in die Arme eines Wunders; denn für einen DDR- oder BRD-Deutschen muß es ein wahres Wunder gewesen sein, daß Österreich innerhalb weniger Nachkriegsjahre Vielvölkerstaatsbewußtsein und großdeutsche Herrenrassenideologie durch etwas so völlig Neues wie die nationale Identität der Österreicher ersetzt hatte. In der Tat, genau das gab es nunmehr - eine österreichische Identität, die sich weder als späte historische Frucht der Niederlage von Königgrätz darstellen läßt noch als Reaktion auf das Scheitern großdeutscher Weltherrschaftsträume.

Darstellen läßt sich diese Identität als Konsequenz jener Ereignisse nicht; historische Entwicklungsgesetzmäßigkeiten sind uns nicht bekannt - von zwangsläufigen Entwicklungen würden wir auch gar nicht ausgehen wollen, da eine solche Annahme uns weitgehend zu bloßen Opfern des Laufs der Dinge degradieren müßte.

Umgekehrt (und damit ja auch eigentlich kaum verwunderlich): Nicht Königgrätz und Stalingrad schufen das neue Österreich, sondern Österreicher schrieben ihre Geschichte neu unter dem Druck vielfältiger historischer Ereignisse. Der Druck dieser Ereignisse ließ sie Risiken einer Gedankenarbeit eingehen, die bis dahin als weitgehend unsinnig oder undenkbar galten. Es ist müßig zu fragen, ob eine solche produktive Freiheit, sich eine neue Geschichte zu schreiben, in Wahrheit nicht eine Fälschung darstellt, an der die neue österreichische Identität über kurz oder lang zerbrechen müsse. Jede Geschichte wird aus jeweiligen Gegenwarten heraus nach rückwärts geschrieben; die vermeintlichen Traditionen stellen stets Aneignungsversuche der Historie dar und sind nicht bloß Fortschreibungen des Gewesenen.

Sollte ich ein Werk nennen, das in unnachahmlich klarer und eindeutiger Weise Zeugnis von jener Arbeit ablegt, deren Ausdruck die neue österreichische Identität ist, dann würde ich ohne zu zögern Friedrich Heers ›Der Glaube des Adolf Hitler - Anatomie einer politischen Religiosität‹ nennen, das 1968 erschien.

Für die BRD und die DDR gibt es bis auf den heutigen Tag keine vergleichbar radikale und mutige Darstellung des neuen sozialistischen Preußens oder des neuen multinationalen Europas heiliger römischer Reichsphantasien. Die Bundesrepublikaner sind Europäer, weil nur in diesen Dimensionen heute ein ansehnliches Reich konzipierbar würde; sie wollen das aber nicht zugeben, weil sie weiterhin von Europa reden, um den Vorwurf zu widerlegen, sie seien die alten Nationalisten geblieben. Die DDR-Deutschen stellen zwar die Reiterstandbilder preußischer Könige wieder auf ihre alten Plätze, versichern aber, daß sie sich nur auf die guten, fortschrittlichen Seiten ihrer Vorgänger einlassen könnten, da die bösen und reaktionären Züge schon von den Feinden des preußischen Sozialismus Besitz ergriffen hätten. Die DDR-Deutschen sind sozialistisch, um weiterhin preußisch sein zu dürfen.

Aber dies sind eigentlich schon Einsichten, die sich aus dem großartigen Werk von Friedrich Heer ergeben. Dessen Ansatz kann zunächst bedenklich erscheinen, da Heer nichts Geringeres behauptet (gestützt auf zahlreiche authentische Äußerungen Hitlers und seiner Gefolgschaft), als daß Hitler die katholische Kirche als Weltmacht nachzuahmen und schließlich zu ersetzen beabsichtigte, indem er deren Prinzipien und Rechtfertigungsstrategien wörtlich genommen und sie mit gnadenloser Konsequenz durchzusetzen versucht habe.

Hitler bewunderte die Kirche als Weltmachtgefüge wegen ihrer kaum vergleichbaren historischen Dauer, ja Geschichtsferne. Hitler habe allerdings gemeint, daß dieser von ihm bewunderte Machtapparat für falsche, das heißt veraltete, historisch überwundene Erlösungsziele der Menschheit eingesetzt würde. Hitlers Wirkungsabsicht sei letztendlich darauf ausgerichtet gewesen, den weltumspannenden Machtanspruch der katholischen Kirche auf Ziele anzusetzen, die er für zeitgemäß, ja fortschrittlich hielt.

Hitler habe, wie schon Luther, der Kirche vorgeworfen, einer verlogenen, abergläubischen, oberflächlichen Frömmigkeit Vorschub zu leisten! Er habe wie Luther gefordert, daß an die Stelle der kleinbürgerlich spießigen Frömmelei mitleidlose Ehrlichkeit, unverhüllte Radikalität und das fanatische Selbstopfer derer zu treten habe, die nicht mehr naiv glauben könnten!

Friedrich Heers grandiose Leistung besteht nun darin, den Unterschied zwischen der Kirche und der Hitlerschen Nachahmung auf den Punkt zu bringen. Er zeigt, daß Hitlers Kirche der Weltbau jener werden sollte, die zum Glauben unfähig sind und die ihre Verlassenheit, ja Verlorenheit selbstmitleidig zur Rechtfertigung jeglicher Rücksichtslosigkeit gegen andere benutzen. An dieser Stelle möchte ich bereits andeuten, worauf (nach Heers Analyse) das neue, für mich so überzeugende Selbstverständnis der Österreicher gegründet zu sein scheint: auf Pragmatismus bis zur Prinzipienlosigkeit; auf Skeptizismus aus Vernünftigkeit; auf gesunder Oberflächlichkeit aus nüchterner Einschätzung des Heroismus; und auf kleinbürgerlicher Selbstbescheidung aus der historischen Erfahrung, daß es in der Welt genügend Verrückte gibt, deren Arbeitsfanatismus und Weltbeglückung man gegen Zahlung entsprechender Devisen zu bewundern bereit sein darf.

Ganz im Ernst: Das halte ich mit Heer für eine aufgeklärte Position. Heer begründete seine Auffassung etwa in dem Sinne, wie schon der langjährige Reichspressechef Otto Dietrich sich das Scheitern Hitlers erklärt hatte: "Hitler war als Politiker im Leben der Völker eine Gestalt der Vergangenheit, nicht der Zukunft. Er lebte in mittelalterlichen Vorstellungen von Heroismus und Herrentum und in den machtpolitischen Ideen der deutschen Kaiserzeit. Sein Lebensraum war die Geschichte, jegliche andere Zukunft blieb seinem Geiste verschlossen." Heer fügt hinzu: "Gerade diese atavistische, der Vergangenheit zugewandte Seelenlage des Konservativen Adolf Hitler schuf ihm eine breite Resonanz in deutschen Bevölkerungsschichten, die heute noch in verwandten Seelenlagen eingehaust sind." Aus diesem Haus als Gefängnis befreien die neuösterreichischen Nothelfer Skepsis, Anpassungsfähigkeit, gesunde Oberflächlichkeit. Hingegen verkünden die neuen Kreuzritter der westlichen Freiheit gegen den asiatischen Despotismus und seine kommunistische Ideologie nur allzuoft durch den Mund ihres Führers Mr. Reagan, daß sie an Unzeitgemäßheit nicht hinter Hitler zurückstehen. Kreuzzugsideologen bleiben immer Gefangene der Geschichte.

Meine Begründung für die Attraktivität jener neuösterreichischen Nothelfer will ich ein wenig ausführlicher wiedergeben. Nach meiner Auffassung stand hinter den Hitlerschen Machtstrategien und Kriegszielen in erster Linie die Bereitschaft, aufs Ganze zu gehen; das ist eine äußerst effektive und historisch viele Male eingesetzte deutsche Spezialität. Sie ist so effektiv, weil sie den jeweiligen Gegnern als blanker Irrsinn erscheinen muß; denn - das ist logisch auf deutsche Art - es kann derjenige ja nicht verstanden werden, der aufs Ganze geht, weil diese Bereitschaft gerade in der Aufkündigung jeder Berechenbarkeit und jeden vernünftigen Kalküls besteht. Friedrich der Große und Bismarck, zwei der bedeutendsten Vabanquespieler, haben dazu philosophischen Tiefsinn von sich gegeben, der es mit dem Hitlers aufnehmen kann.

Ich weiß, daß mich als Kind in den letzten Kriegsjahren, gewiß aber danach, die Erscheinungsformen dieser deutschen Tugend des Vabanquespiels, der Bereitschaft, aufs Ganze zu gehen, auf eine mir zunächst unerklärliche Weise fasziniert haben. Ich fragte mich, warum für diese Deutschen das natürliche Verlangen nach Selbsterhaltung keine Begrenzung ihrer Opferbereitschaft darstellte. Viele der irrwitzigsten Vabanquespiele der deutschen Geschichte, besonders aber die Hitlers, schienen mit völliger Einsicht, bewußt eingegangen worden zu sein. Ich kann mich noch deutlich entsinnen, daß ich mich bei der Schullektüre von Sartre und Camus fragte, warum diese französischen Existenzialisten so deutsch zu denken vermochten - wahrscheinlich, weil sie samt und sonders Kollaborateure waren.

Studienrat Gieselmann erhöhte unsere Vervirrung mit der Aufforderung, die eigenen Grenzen ausfindig zu machen, indem wir uns völlig bedingungslos einer Lebenssituation oder der Beziehung zu einem anderen Menschen ausliefern sollten.

Waren die Deutschen ihrem Selbstverständnis gemäß eine so bedeutende Nation, weil sie es jenseits aller kulturellen und zivilisatorischen Humanisierung wagten, die nackte Logik der Menschennatur durchzusetzen? Es ist belegt, daß Hitler immer wieder den Glauben an den Endsieg mit dem Argument anfachte, daß die Gegner Deutschlands nicht dazu bereit sein würden, in genau der Weise aufs Ganze zu gehen wie die Deutschen, und daß sie deswegen schlußendlich unterliegen müßten. Die Logik der natürlichen Dummheit des Menschen läßt ihn glauben, daß Rücksichtnahme, Rechtsstaatlichkeit und Duldung von Widerspruch zwangsläufig Nachteile darstellten. Vollständige Bedingungslosigkeit, Radikalität und Gleichschaltung seien in jedem Fall von Vorteil bei der Durchsetzung von Zielen.

Diese Auffassung hat sich mit grausamer Kontinuität von der Lutherischen Reformation und der Gegenreformation des Dreißigjährigen Krieges über die Romantik und die Freiheitskriege sowie Wagners Totaltheater und die Jüngerschen 'Stahlgewitter' bis zu Hitlers 'Kampf' und dem Ost-West-Konflikt auf deutschem Boden erhalten.

Bis auf den heutigen Tag bleibt es eine Aufgabe, diese Bereitschaft zum Vabanquespiel als Konsequenz der Logik der natürlichen Dummheit (Vgl. hierzu ›Die Logik der Dummheit‹ in diesem Band S. 299-303) des Menschen zu erkennen. Das ist für den einzelnen, zumal den Künstler, vielleicht noch schwerer als für eine Gemeinschaft der Konkurrenten. Harmoniestreben, Verlangen nach Ganzheitserfahrung und systematischer Konstruktion eines Zusammenhangs der Welt stehen beim Künstler beständig in Konflikt mit der Freiheit des Fragmentarischen, mit der schöpferischen Kraft der Zerstörung und mit der Willkür und Spontaneität des ziellosen Handelns.

Die Schöpferideologie legt es dem Künstler nahe, den eigenen Anspruch auf Größe darin beweisen zu wollen, daß er das eigene Leben, die Gesundheit und die Wohlfahrt rückhaltlos dem künstlerischen Werk opfert. Die Bereitschaft, aufs Ganze zu gehen, scheint ein Charakteristikum des großen Künstlers zu sein, sowohl in der Hinsicht, daß er es vorzieht, lieber gar nicht zu leben, wenn es ihm nicht gelingt, sein schöpferisches Genie zu entfalten, als auch in der Hinsicht, daß die schöpferische Kraft darin besteht, das einsichtige Kalkül, die bestätigten Erfahrungen und die Rituale des Gewohnten aufzukündigen.

Jede nähere Beschäftigung mit diesen Einstellungen führt aber zu der Einsicht, aufs Ganze zu gehen, sei nur Reaktion von Menschen, die bereits völlig ohnmächtige Opfer ihrer eigenen Logik beziehungsweise der Logik der natürlichen Dummheit aller Menschen geworden sind.

Ich konnte und ich kann mich auf das Vabanquespiel nicht einlassen, selbst wenn es als Kernstück der einzig akzeptierten Künstlerideologie gilt, weil mir bewiesen zu sein scheint, daß bisher noch in keinem einzigen Fall weder ein einzelner Künstler noch eine Nation etwas Sinnvolles durch Vabanquespiel zustande gebracht oder gewonnen hat; etwas Sinnvolles außer einem lachhaft feierlich überhöhten Chaos und der pathetischen Versicherung, daß der Tod nicht banal sei. Nur Opfer sind genötigt, die Banalität des Todes zu leugnen und die Lachhaftigkeit nächtlicher Beschwörungsfeiern der Größe des Todes nicht zu empfinden.

Ich sehne mich nach der Entschlossenheit der neuösterreichischen Gesellschaft, ihren eigenen Künstlern und Wissenschaftlern den Beweis der Größe durch die Bereitschaft zum bedingungslosen ›Aufs-Ganze-Gehen‹ nicht mehr abzunehmen. Wer sich in dieser alteuropäischen Ideologie als Wissenschaftler und Künstler über den menschlichen Durchschnitt erheben will, sagt sie, möge das gefälligst außerhalb der Grenzen des neuen Österreichs tun. Immerhin sei man ja bereit (auch wiederum gegen entsprechende Entschädigung), das bewundernde Publikum zu spielen für jene, die bei den noch unbelehrten Völkern als Helden des Geistes und als Giganten der Schöpferkraft gefeiert werden. Der Neuösterreicher verachtet in höflicher Gleichgültigkeit die Beweihräucherung der Künstler als Opfer, zu denen sie sich willentlich haben machen lassen. Man beneidet sie, weil sie womöglich schneller als man selbst alles bisher Verfolgte hinter sich lassen können.

Ich wollte in dieses neue Österreich ziehen, weil ich noch nicht dagegen gefeit war, völlige Bedenkenlosigkeit als Stimulans künstlerischer Freiheit gelten zu lassen. Mir imponierte in gewisser Weise noch der Heroismus jener, die bereit sind, sich mit dem Wahnsinn zu infizieren, obwohl ich andererseits ziemlich genau zu wissen glaubte, daß, sich dem Wahnsinn zu überlassen, bloß der letzte Versuch ist, dem Wahnsinn zu entkommen. Ich war noch durch das Verlangen nach Harmonie und nach gemeinsamen Verpflichtungen auf ein Ziel geprägt, obwohl ich wußte, wie sehr dieses Verlangen dem Wunsch des Kindes entspringt, die Übermächtigen berechenbar werden zu lassen, indem man mit ihnen Verträge schließt. Schon dem Kind ist der Gedanke, mit Göttern Verträge schließen zu wollen, ziemlich unsinnig, denn wieso sollten sich die so viel Mächtigeren bereit finden, ihre Allmacht gegenüber den Schwachen durch Verträge einschränken zu lassen? Aber das Kind durchschaut, daß sich die Mächtigen zu solcher Beschränkung verführen lassen durch den unabweisbaren Wunsch, von den ihnen Unterworfenen anerkannt zu werden. Weil dem Kind überlegene Macht darin zu bestehen scheint, den eigenen Willen durchzusetzen, indem man unberechenbar willkürlich handelt, entwickelt schon das Kind Strategien produktiver Zerstörung, die auch als Charakteristikum künstlerischer Fähigkeiten angesehen wird. Gelten deshalb die Künstler reifen Neuösterreichern als große Kinder?

Nichts bewegt die kindliche Seele so vollständig wie Selbstmitleid; ein für Alt-Wiener, aber eben nicht für Neu-österreicher charakteristischer Zug. Die Wiener sind die deutschesten Österreicher, nicht die Linzer, die dem Hitlerregime fünf seiner grausamsten Schlächter stellten. Selbstmitleid ist die Wurzel des deutschen Opferpathos und die mit ihm bis in die Gegenwart verknüpfte Einstellung zum Tode, wie sie in der weithin akzeptierten Logik verständlich werden, man müsse sein Land, um es zu verteidigen, auch zu vernichten bereit sein. Die Neuidentität des Österreichers (mit Ausnahme der Wiener Künstler und Wissenschaftler) wird durch dieses Opferpathos Gott sei Dank nicht mehr geprägt. Sie ist nicht mehr zur Perversion in der Selbstrechtfertigung gezwungen, derzufolge die Größe des Leidens ein Maßstab für die Größe des Gedankens sei.

1915 hat Hugo von Hofmannsthal in einem Aufsatz für die 'Vossische Zeitung' in Berlin die Aufgabe formuliert, der sich das neue Österreich tatsächlich gestellt hat. "Österreich ist kein schlechthin Bestehendes, sondern eine ungelöste Aufgabe. Vieles, was in dem 1870 begründeten neuen Reich seine Lösung nicht finden konnte und doch deutsche Aufgabe war, inneres deutsches Leben, ein Wirkendes, von der Schickung Gewolltes, soll und wird hier gelöst werden. Österreich ist die besondere Aufgabe, die dem deutschen Geist in Europa gestellt wurde. Es ist das vom Geschick zugewiesene Feld eines rein geistigen Imperialismus", so umschreibt Friedrich Heer Hofmannsthals Forderung. Das innere Reich der Deutschen, der deutschen Sprache, ein Reich des Geistes als Aktionsraum jener Kräfte, die in der Welt der Ökonomie, der Politik, des Militärs bloß Tod und Verderben erzeugen? Wie kann man die Konzentration der Künstler auf die Welt des schönen Scheins beschränken und sie daran hindern, ihre Systemkonstruktionen, ihre Paradiesentwürfe und Welterlösungspläne auf die soziale Plastik, die Gemeinschaft der lebenden Menschen zu übertragen? Sind Antisemitismus, lmperialismus und Welterlösungsglaube so lange akzeptabel, wie sie auf die Scheinwelt der Bayreuther Bühne beschränkt sind?

War es nicht unvermeidlich, daß der größte Künstler aller Zeiten sich gerade darin als solcher erwies, daß er die künstlerischen Phantasien über die Rampe hob, sie also von der bloßen ästhetischen Scheinhaftigkeit ins wirkliche Leben der Millionen überlieferte? Von Karl Kraus über Wittgenstein bis zu den Meistersatyrikern um Helmut Qualtinger scheint der wahre Öterreicher als Nörgler, Miesmacher, Raunzer, Lethargiker der geborene Auflklärer gegen das Pathos der großen Vollendung zu sein, ein Vorbild für die immer noch leicht verführbaren Deutschen, zumal in Zeiten, in denen der jüdische Geist der Zersetzung durch programmgemäße Ausrottung daran gehindert ist, seinem Anspruch gegen die Philosophien der heroischen Tat und die Theologien der Welterlösung durch Untergang in die Parade zu fahren.

So etwa erlebte ich die neue österreichische Selbstverpflichtung; sie schien glaubwürdig gerade durch die weltmaßstäbliche Unbedeutendheit des neuen Österreichs. Eine Frau, und das war schließlich ebenso erwartbar wie nichtssagend, verführte mich dazu, schon 1980 nach Deutschland zurückzugehen. Sie sang zwar nicht wie Wagners Göttinnen, aber sie sprach so. Es war auch keine Frage der sexuellen Attraktivität; das Triebpotential der Menschen kennt keine nationale Identität, ebensowenig wie die natürliche Dummheit. Es war eine deutsche Liebe, die sich darin gerechtfertigt sieht, das Unmögliche zu wollen; ja, die sich als Liebe erst darin erfüllt, die Lieblosigkeit zu ertragen. Es war also nicht die Liebe, sondern der ganz deutsche Versuch, sie zu erzwingen, indem man aufs Ganze geht. Die Liebe der Liebesunfähigen, die Kirche der Gottlosen.

Jetzt möchte ich wieder zurück ins neue Österreich, wo man sich nicht nur wie überall damit entschuldigt, daß das Böse nun einmal banal sei und der Faschismus alltäglich; sondern auch anerkennt, daß das Heilige banal ist und die Erfüllung des Lebens, ja seine paradiesisch rauschhafte Entfaltung nicht erst in der fernen Zukunft besserer Welten erwartet werden muß. Der durchnittliche Wiener Schwadroneur kann mir lieber sein als das größte literarische Gegenwartsgenie; der Straßenbahnschaffner scheint mir verläßlichere Auskunft über den Weltenbau zu geben als der gewiefteste Systemanalytiker, der sich als genialer Österreicher in der Welt einen Namen gemacht hat. Ich will heimkehren in die Gewöhnlichkeit und Harmlosigkeit, Bescheidenheit und Oberflächlichkeit und Leichtigkeit und Alltäglichkeit.

siehe auch: