Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 370 im Original

Band IX.1.1 Lebendig begraben

Heftige Klopfzeichen bei der vorschnellen Beerdigung des Rationalismus und des Funktionalismus im Design

Vortrag zum Internationalen Design-Kongreß ›Erkundungen‹ in Stuttgart, Mai 1986

In den vorausgegangenen fünfzehn Jahren scheinen sich die Fronten zwischen Funktionalisten und Postmodernen auch im Design so verhärtet zu haben, weil alle Beteiligten sich in demütigender Form gezwungen sahen, für eine der beiden Seiten vorbehaltlos Partei zu ergreifen. Die Auseinandersetzung zwischen Gefühlscollagisten und Edelstahlekstatikern wird sich so lange keinen Millimeter weit voranbewegen, wie die Bekenntnisgruppierungen nicht bereit sind, sich auch mit den Mankos ihrer Positionen zu konfrontieren, anstatt immer nur auf denjenigen Argumenten zu beharren, die durchaus sinnvoll vertreten werden können.

Das Manko des klassischen Funktionalismus hätte schon in den Jahren seiner Entstehung eingesehen werden können; denn lange bevor Sullivan das funktionalistische Credo »form follows function« formulierte, war in allen anderen Arbeitsfeldern, auf denen man sich mit der Evolution in Natur und Kultur beschäftigte, unter Verweis auf Darwin ein für allemal eingesehen worden, daß die Form keineswegs der Funktion folgt. Der Giraffenhals ist eben nicht lang, weil er die Funktion hat, dem Tier Zugang zu hochhängenden Blättern als Nahrungsquelle zu verschaffen.

Es war ein folgenschwerer Irrtum, den Funktionalismus im Design auf den längst überholten Lamarckismus zu stützen. Andererseits ist es ebenso fatal, mit postmodernistischen Attitüden den Zusammenhang von Form und Funktion prinzipiell zu leugnen, »Form follows fun or fantasy« mag als belebende Pointe aufgegriffen worden sein. Als Beleg für das schöpferische Potential von Beliebigkeit ist sie nicht ernst zu nehmen.

Durchaus vertretbar sind die Auffassungen der Funktionalisten, daß Formsprachen wesentlich durch die Bedingungen der Produktion, Distribution und Funktion bestimmt werden; alles geht nur, wenn es unter den Bedingungen seiner Hervorbringung und seines Gebrauchs sinnvoll ist.

Unter den Auffassungen der postmodernen Schüler und Nachfolger von Ettore Sottsass sind sicherlich diejenigen hervorzuheben, die Form auch als eine Funktion gewertet wissen wollen, weil sie davon ausgehen, daß die sinnliche Vergegenständlichung einer Formidee und eines Funktionskonzeptes sich in hohem Maße zu verselbständigen vermag – im extremen Fall überformt ein dorischer oder gotischer Stil sogar das nackte technische Konzept einer Dampfmaschine oder eines Wasserwerks.

Im Kern ist der produktive Teil der Auseinandersetzungen zwischen Funktionalisten und postmodernen Vertretern freier Formvalenzen durch die Frage bestimmt, wie Kunst und Technik zu einer Einheit gebracht werden können. Künstlerische Produktionsweisen sind im wesentlichen durch den einzelnen Künstler geprägt, was keineswegs bedeutet, daß er von vorgegebenen Bedingungen seines Arbeitens vollständig abzusehen vermag. Die industrielle Güterproduktion ist hingegen immer das Resultat eines extrem schwierigen Zusammenwirkens vieler Arbeitsteams, die in höherem Maße den ihnen vorgegebenen Produktionsbedingungen unterworfen sind als der einzelne Künstler. Aber auch diese hochgradige Abhängigkeit geht nicht so weit, daß die technisch-industrielle Produktion den Arbeitenden jegliche Entscheidungsfreiheit nähme.

Unter diesen Gesichtspunkten muß man den funktionalistischen und postmodernen Grabenkriegern immer wieder in Erinnerung rufen, daß ihre Auseinandersetzung ja nicht erst seit gestern geführt wird, sondern die gesamte Geschichte der angewandten Künste bestimmt hat; und ebenso alt sind die Versuche, eine Synthese zwischen den beiden extremen Positionen zu ermöglichen. Der letzte folgenreiche Versuch, Kunst und Technik zu einer neuen Einheit zu verhelfen, ist dem Bauhaus zu verdanken. Selbst wenn wir anerkennen, daß es keine einheitliche Auffassung von den Arbeitszielen des Bauhauses gegeben hat, dürfen wir für unsere Erörterung auf eine entscheidende Auffassung des Problems zurückgreifen, wie sie der durch viele Entwicklungsphasen hindurchgegangene Bauhausdirektor Walter Gropius nach reiflicher Überlegung post festum vorgetragen hat. Dieser ›Blick zurück‹ eines Protagonisten des Bauhauses ist um so unverdächtiger, als zu dem Zeitpunkt, als er seine historische Perspektive skizzierte, es gerade in der Öffentlichkeit wenig opportun war, die technisch-industrielle Entwicklung durch Verweis auf künstlerische Positionen in die Schranken zu fordern.

Zur Eröffnung der Hochschule für Gestaltung in Ulm, Oktober 1955, machte Gropius mit großem Nachdruck darauf aufmerksam, daß gerade die Bauhäusler keine Funktionalisten im üblichen Sinne gewesen seien, keine Verherrlicher der Maschinenwelt, keine selbstgerechten Befürworter der Reduktion von Lebensprozessen auf vermeintlich unabdingbare technische Entwicklungen. Gropius beschwert sich verständlicherweise über die bewußte Verfälschung der Portraits von Pionieren des Designs zu Technofreaks, die nicht verstanden hätten, daß etwa Schönheit, Poesie und Magie als psychologische Bedürfnisse der Menschen anzuerkennen seien. Es sei aber den Pionieren wie ihm selbst nicht um eine derartige ›Entgeistigung‹ des Lebens gegangen, zumal gerade sie erfahren hätten, daß technisch vollendete Werkzeuge nichts auszurichten vermögen, wo es bestenfalls verworrene und kaum jedoch moralische, das heißt sozial gerechtfertigte Ziele der Entwicklung von Individuen und Gesellschaft gäbe. Gropius schreibt den Ulmern nachdrücklich in ihre Gründungsurkunde, daß die Entwicklung der Technik schon seit Beginn der ersten industriellen Revolution nur als Strategie der Besserung und Behebung sozialer Probleme gerechtfertigt werden konnte; ja, daß die Technik als Erlösungsstrategie die haltlos gewordene Position der christlichen Religion einnehmen sollte.

So hat beispielsweise Saint Simon die Aufgabe der Technik zur Überwindung von Nationalismus und Militarismus hervorgehoben; selbst für Herbert Spencer war die technische Evolution kein Freibrief für rücksichtsloses Handeln. Der technische Fortschritt sei nur insofern einer, als er einen sozialen Fortschritt bewirke. Auch Experimentalphysiker, wie der zur Jahrhundertmitte international führende Claude Bernard, bezogen ihre Grundlagenforschung stets auf gesellschaftliche Entwicklungsziele; ganz abgesehen von den gigantischen Manifestationen des technischen Fortschritts, wie der Weltausstellung in London 1851, die man insofern als bedeutsam ansah, als sie tatsächliche Manifestationen für Weltfrieden und Zusammenarbeit waren.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts repräsentierten Persönlichkeiten wie Rathenau in ihrem alltäglichen Wirken den Anspruch, technisch-wissenschaftliche, künstlerische und soziale Entwicklungen daraufhin zu thematisieren, wie ihre Synthese zu ermöglichen, ja zu erzwingen sei. Die Pioniere der Moderne waren gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgefordert, auf jener Synthese zu beharren, als sich eine Reihe von johanneischen Kosmikern wie Steiner, Klages, Schönberg und Kandinsky als Vasallen Richard Wagners darauf kaprizierten, die christliche Welterlösungsstrategie bloß zu modernisieren (im 19. Jahrhundert hatten die Romantiker den gleichen Versuch gemacht, der wissenschaftlich-industriellen Entwicklung den Primat des Geistigen entgegenzusetzen). (Vgl. zur Moderne: ›Kunst als Kirche‹, S. 53-57.)

Das Gesamtkunstwerk (vgl. hierzu ›Der Hang zum Gesamtkunstwerk‹, S. 58-64) ist eben nur als Kunstwerk, nicht aber als soziale Strategie ernst zu nehmen; wo es unter Umgehung von Wissenschaft und Technik, von gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsformen den Menschen mit den Bedingungen seiner Existenz auszusöhnen verspricht, verliert das Gesamtkunstwerk seinen Anspruch auf Geltung; es verkommt zu einer unzeitgemäßen Beschwörung von Geisterglauben. Wenn das Geistige in Kunst und Wissenschaft, in Staat und Kirche sich alle irdischen Schranken übersteigende Kraft zuspricht, anstatt seine eigene Begrenztheit zu erkennen, werden die Menschen zu willfährigen Opfern von Prophetenhokuspokus und Übermenschengetue hinabgestuft.

Gropius war sowenig wie irgendein anderer Exponent der Moderne ganz frei von der verführerischen Ambition, selbst ein Prophet oder gar schon der neue Mensch der Zukunft zu sein. Am Bauhaus gab es, weiß Gott, Kosmiker die Menge. Aber die Arbeit all dieser seltsamen Gestalten, dieser Johannesgefährten und Politkommissare wurde unnachgiebig daran gemessen und danach beurteilt, ob sie die soziale Evolution zu befördern oder zu hemmen vermochten.

Derartige Kriterien müssen nicht vage bleiben. Von heute aus gesehen, lassen sich aus der Geschichte der angewandten Künste und Wissenschaften vier spezifische Postulate ausmachen, denen Umsetzungen von künstlerischen, wissenschaftlichen und weltanschaulichen Konzepten in die Lebenspraxis genügen müssen. Womit in gar keiner Weise gesagt werden soll, daß den vielfältigsten Spekulationen von Philosophen oder Physikern, von Theologen oder Staatsrechtlern, von Propheten und Revolutionären in irgendeiner Form Einhalt geboten werden müsse. Erst die Umsetzung solcher Spekulationen in die soziale Realität gilt es, mit aller Konsequenz zu überprüfen und gegebenenfalls strikt abzulehnen.

Die Resultate aller Anwendungen von Spekulationen zur Welterlösung auf die Lebenspraxis von Individuen und Gesellschaften, also auch die von Formvorstellungen auf Güter des alltäglichen Lebens, müssen den vier Kriterien Rationalität, Funktionalität, Gestaltqualität und Moral genügen.

Auf die Designproblematik eingeschränkt, meint das Rationalitätsgebot: Die einzelnen Produkte müssen in übergeordneten Zusammenhängen rechtfertigbar sein. Gegenwärtig haben sich Produktion, Distribution und Funktion von Gebrauchsgütern darin zu rechtfertigen, ob sie beispielsweise ökologischen Anforderungen genügen (Verschwendung von knappen Material- und Energieressourcen, Entsorgung nach Gebrauch als Müll, Gesundheitsverträglichkeit und ähnliches).

Das Funktionalitätsangebot verlangt, daß die Güter als solche tauglich sind, also im umgangssprachlichen Sinn tatsächlich funktionieren; daß ihr Anschaffungspreis gerechtfertigt ist, welche Lebensdauer sie haben und ähnliches.

Mit der Forderung nach hinreichender Gestaltqualität ist gemeint: Die Güter haben nach Form und Funktion benutzerfreundlich zu sein; sie sollen nicht unter Verwendung von billigem Oberflächenfinish betrügerisch behaupten, etwas anderes zu sein, als sie sind; sie sollen hinreichend ausdrucksstark und sinnlich stimulierend gestaltet sein.

Mit der Unterwerfung unter moralische Kriterien ist schließlich zu erreichen, daß die Entwickler, Gestalter, Produzenten und Verkäufer von Produkten Werthierarchien anerkennen, sich zur Einhaltung von Geschäftsbedingungen bekennen, bewußte Übervorteilung der Konsumenten oder gar deren Täuschung nicht akzeptieren.

Wer es unternimmt, auch nur in der eigenen Alltagspraxis nach diesen Kriterien Gebrauchsgüter zu beurteilen, kommt zu verheerenden Ergebnissen, angesichts deren es ganz und gar unverständlich bleibt, wie man annehmen kann, es gäbe für Designer kaum noch etwas Entscheidendes zu tun.

Mein Montblanc ›Meisterstück‹, eine museumsbeglaubigte Glanzleistung des Designs, leckt nicht nur nach Transport in Flugzeugen, sondern auch bei normalem Tragen in der Rocktasche; die aufgeschraubte Kappe löst sich schon nach wenigen Gehbewegungen ab; ein wahres Meisterstück, das ständig Jacken und Finger verschmiert, und das alles zu einem Preis von DM 260,–.

Das teuerste Modell eines Fernsehgerätes, das die Firma Quelle als ›Universum hifi Stereo Super Color Multi System Monolith‹ (Hersteller Grundig) anbietet, stinkt selbst nach eineinhalbjährigem Gebrauch unerträglich nach brennendem Kunststoff; auch dieses Gerät wurde bereits durch ein anderes der gleichen Serie ersetzt, ohne Erfolg. Die Versicherung der Firma, Besserung werde sich nach entsprechender Einlaufzeit einstellen, beweist sich als schlichte Ausrede. Meine Saper-Tizio-Lampe, ein anderes Highlight der Designgeschichte, erzeugt in Funktion einen derartigen Brummton, daß ich unter dem Licht, das sie zugegebenermaßen erwartungsgemäß spendet, keinerlei konzentrierter Arbeit nachgehen kann. In ähnlicher Weise kann ich die mangelnde Funktionalität der in der Familie angeschafften teuersten Herkules-Fahrräder, einer Cartier-Uhr, eines Mercedes 190 E, ja fast aller Neuerwerbungen vorführen, die ich bewußt ausgewählt habe, weil man deren Mißfunktion gegenüber nicht den naheliegenden Einwand erheben kann, man dürfe bei billigen Produkten nicht erwarten, daß sie allen Anforderungen gerecht werden.

Die eben genannten Produkte besitzen durchweg eine hohe Gestaltqualität, die aber wenig besagt, wenn diese Produkte weder dem Rationalitäts- noch dem Funktionalitätsgebot und weitgehend auch nicht dem Moralgebot genügen. Ich will das nicht im einzelnen schildern, jedermann dürfte hinreichend eigene Erfahrung ins Feld führen können. Jenseits der individuellen Erfahrung muß das Urteil noch vernichtender ausfallen. Daß Entwicklung Produktion und Konsum von Gütern in unserer angeblich so hochentwickelten Wirtschaftsgesellschaft weder dem Rationalitätsgebot, noch dem der Funktionalität, Moral und Qualität nach heutigen Standards genügen, vermag man durch bloßes Zeitunglesen zu erkennen. Einige Beispiele:

– Mit großem Wirbel prämiert die deutsche Landwirtschaftsgesellschaft DLG alljährlich Erzeugnisse der deutschen Ernährungsindustrie. Daß jedoch selbst die mit dem großen Preis der DLG dekorierten Produkte (»Pioniere der Qualität«) nicht das Feinste sind, ergab ein Test des chemischen Untersuchungsamtes Wuppertal. Von 33 Wurstsorten, die den Preis erhielten, sind nach Feststellung des Amtes fünfzehn Prozent bußgeldverdächtig, neun Prozent an der Grenze des Erlaubten … DLG-Kommentar: Es könne nur der Geschmack, nicht die tatsächliche Qualität geprüft werden.

– Hausfrauen werden animiert, für die Behebung von Verstopfungen in Abflußrohren der Küche und des Bades das Produkt ›Rohrfrei‹ zu verwenden. Nach entsprechender Benutzung des Produktes ohne sichtlichen Erfolg wird eine Spezialfirma gerufen, deren Repräsentant nach langen vergeblichen Bemühungen um Behebung des Übels geradezu erlöst verkündet, die Hausfrau habe sicherlich das Produkt ›Rohrfrei‹ benutzt, dessen Wirkung bekanntermaßen darin bestehe, zementharte Rohrverschlüsse zu erzeugen.

– Jüngst las man, daß Italien im Inland nur Gemüse unterhalb bestimmter Grenzwerte radioaktiver Verseuchung zum Genuß zulasse. Für den Export gelte freilich diese Maßgabe nicht.

– Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs muß verstärkt Gerichte anrufen, um Unternehmen zur Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zu zwingen. Das Ausmaß der Verstöße hat sich auf hohem Niveau stabilisiert.

– Selbst der produzentenfreundlichsten Reagan-Regierung gehen die Machenschaften der Unternehmen zu weit. Die Regierung initiierte eine Kampagne für bessere Moral unter den Anbietern am Markt. Auf derartige Beispiele pflegen Designer mit dem Brustton der Überzeugung, der eher wie ein Tarzanschrei klingt, zu antworten, daß ihre Arbeiten bei solchen Mißständen nicht zur Rechenschaft gezogen werden könnten; zum einen hätten sie keinen Einfluß auf die Produktion als solche, zum anderen resultierten die Mankos aus technischen oder sonstigen Bedingungen der Produktion, gegen die sie nichts zu unternehmen vermöchten. Eben, eben!

Das so hochgehaltene funktionalistische Credo sollte es dem Designer verbieten, technische oder sonstige Mängel durch Gestaltung zu vertuschen. Das ist sicherlich erreichbar, wenn der Designer einen anderen Aspekt seines funktionalistischen Selbstbewußtseins ernst nimmt, demzufolge sich die Gestaltung eines Produktes nicht auf das imageträchtige Oberflächenfinish reduzieren läßt.

Nach hundert Jahren Diskussion und praktischer Erfahrung mit dem Design als Wirtschaftsfaktor und Kulturwert sollten Designer in der Lage sein, den Unternehmern gegenüber sich zu behaupten. Gute Gründe für die Behauptung gibt es jede Menge, zum Beispiel: Design ist eine der billigsten Komponenten der Neuentwicklung von Produkten; es sollte also kaufmännischer Logik entsprechen, den Designern ein höheres Maß an Mitsprache bei der Entwicklung von Marktangeboten einzuräumen. Oder: Kulturelle Werte, die unter anderen auch vom Design entwickelt und repräsentiert werden, spielen für die Käuferentscheidung eine immer größere Rolle. Der kulturelle Sektor ist inzwischen zum bedeutendsten Wirtschaftssektor geworden; demzufolge ist Design Chefsache – sinnvoller Weise aber nur, wenn der Chef auch Designer ist oder zumindest anerkennt, daß der Designer für ein erfolgreiches Unternehmen genauso wichtig ist wie ein guter Hersteller, Personalplaner oder Finanzexperte.

Machen wir's kurz: Wer als Designer nicht in der Lage ist, eine seinem Selbstbewußtsein entsprechende Rolle in Unternehmen zu spielen, ist kein überzeugender Designer, ja wahrscheinlich kein guter Designer; denn zur Aufgabe des Designers gehört nicht nur gestalterische Arbeit im unmittelbaren Sinne, sondern auch die Verpflichtung, seinen Konzepten und Realisationen sowie den sie tragenden Überlegungen Geltung zu verschaffen. Gegebenenfalls müssen die Designer eben selber Unternehmer werden.

Es ist doch einfach nicht zu verstehen, daß achtzig Prozent der Konsumenten nachdrücklich ökologischen Problemen und solchen der Lebensqualität höchste Priorität zugestehen, der Markt aber andererseits zu neunzig Prozent Produkte anbietet, die diesen Prioritäten nicht gerecht werden. Lärmschutz beispielsweise für Rasenmäher, Exhauster, Ölheizungen, Staubsauger, Motorfahrzeuge fällt in das Aufgabengebiet des Designers ebenso wie die Wahl gesundheits- und entsorgungsfreundlicher Materialien; von der Verantwortung des Designers für die optische Umweltverschmutzung, auf die die Mehrzahl der Konsumenten inzwischen kritisch reagiert, mal ganz abgesehen.

Es sollte doch eine Lust sein, heute als Designer zu arbeiten; wir leiden nicht an einem Zuviel an Rationalität, Funktionalität, Gestaltqualität und moralischen Implikationen, sondern an deren weitgehender Vernachlässigung. Inzwischen erkennt jedermann, was dabei herauskommt, wenn man diese Werte der Gestaltungspraxis außer acht läßt oder sie nur in betrügerischer Absicht vorschiebt; dafür ist die Entwicklung der Nachkriegszeit schreiendes Beispiel.

Es kann gar keine Rede davon sein, daß in der damaligen Architektur, der Innenarchitektur, der Gebrauchs- und Investitionsgüterproduktion Rationalismus und Funktionalismus Triumphe gefeiert hätten. Heinrich Klotz zeigte jüngst schlagend, daß der damalige Funktionalismus bestenfalls ein Baugewerbefunktionalismus gewesen ist, der mit den gleichnamigen Postulaten des Werkbundes, des Bauhauses, ja selbst der Kampagne »Schönheit der Arbeit« nicht das geringste zu tun hatte. Und das war allen Beteiligten bewußt; sie redeten nur von Rationalität und Funktionalität, um ihre Machenschaften der Kritik zu entziehen. Diesem Schwindel muß ein Ende gesetzt werden: Eine Aufgabe, wahrhaft würdig eines jeden, der von sich behauptet, ein Designer zu sein. In besonderem Maße ist das Aufgabe für Lehrer jeglicher Art an den Ausbildungsstätten für Designer, die sich nicht mehr dafür hergeben dürfen, auf dem Papier Qualifikationen zu bescheinigen, die die Ausgebildeten gar nicht erworben haben.

Fünf gute, das heißt problembewußte Absolventen pro Institut sind für die Gesamtgesellschaft wichtiger als die vielen Dutzend Examinierten, deren angeblich erfolgreicher Studienabschluß die Professoren nur vor den Bildungspolitikern rechtfertigen soll.

Auch die Unternehmer, denen doch angeblich so viel an der Sicherung der freien Marktwirtschaft und der sie tragenden gesellschaftlichen Grundordnung gelegen ist, sollten die potemkinschen Fassaden ihres vermeintlich funktionalen, rationalen, qualitätsbewußten und moralgeleiteten Handelns abbauen. Man kann unser Gemeinwesen nicht vor der weiteren Selbstzerstörung bewahren, wenn man die zwischenmenschliche Kommunikation über Güter reguliert, die den obengenannten Kriterien nicht standhalten.

Der Schund, den sie produzieren, ist nicht durch den Verweis auf die angeblichen Konsumwünsche zu rechtfertigen, auch wenn die Unternehmer sich selber sinnigerweise als Prototypen ihrer Konsumenten einschätzen. Sie sind weder der Maßstab für das Wohl noch für das Wehe der Konsumenten. Nur in dem Umfang, in dem sie bereit sind, sich den Geboten der Rationalität, Funktionalität, Qualität und Moral zu unterwerfen, können sie Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft in Anspruch nehmen.