Zeitung Die Welt

Durchs Wurmloch in die nächste Welt, Bild: Die Welt, 16.03.2019.
Durchs Wurmloch in die nächste Welt, Bild: Die Welt, 16.03.2019.

Erschienen
16.03.2019

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Seite 35 im Original

Durchs Wurmloch in die nächste Welt

Erwin Wurm ist einer der bedeutendsten Formpoeten unserer Zeit, sagt der Kunsttheoretiker Bazon Brock nach dem Besuch der Galerie König in Berlin. Wir haben ihn gebeten, uns die Kosmologie des österreichischen Künstlers zu erschließen.

Einst stifteten, erdachten und beschrieben zwei Dichter, Hesiod und Homer, die Gestalten des olympischen Götterhimmels, der wichtigsten Einflussgrößen der griechischen, der römischen Antike bis hin zur Renaissance und der Archäologie der Moderne.

Heute stiften Künstler das Leben der Formen, wie sie einst das Leben der Götter stifteten. Einer der gegenwärtig bedeutsamsten Formpoeten ist Erwin Wurm. Die durch Verwandlung eines Sakralraums in einen Kunstraum entstandene, also höchst zeitgemäße Galerie König präsentiert jetzt bis zum 21.4. im großen Schiff eine ganze Wurm'sche Morphologie, analog zur Hesiod'schen Theogonie.

Man sieht horizontal in Augenhöhe in leichter Kurvatur den „Pull Over“ einer nur denkbaren monumentalen Gestalt. Einstmals gab so der Peplos, der Wollmantel der Göttin Pallas Athene, den Sterblichen das Zeichen, sie habe ihnen nun den Gründerheros ihrer Stadt gegeben. Im Wurm'schen Stoff der großen webenden Zeit nisten einige der Formkörper, zum Teil mit Farbpräservativen getarnt, die außerhalb der Monumentalerscheinung den Ereignisraum besiedeln wie Himmelskörper das All.

Von unterschiedlichen Standpunkten des durch den Raum gleichsam schwebenden Betrachters aus verbinden sich die auf kaum sichtbaren Stäben montierten himmlischen Erscheinungen zu immer neuen Konstellationen als Schwarm oder Rotte oder Wolke. Im Ganzen also eine Versammlung jener Formen, denen Wurm seit Jahren Mächtigkeit verleiht.

Gleich am Eingang, vor der Treppe aufwärts in die Präsentation, erhält der Besucher einen unübersehbaren Hinweis auf Wurms Formkraft. Über eine aufrecht stehende mannshohe Gurke von bürgerlicher Leibesfülle ist ein Nierentischchen gestülpt, ungefähr in der Höhe, in der die Mutter das Kind auf dem Arm trägt oder der Kellner das mit Speisen beladene Tablett durchs Restaurant balanciert, kurz in Höhe der Nierenpartie. Denn das heute zur Antiquität geadelte Designobjekt der 50er-Jahre erhielt seinen Namen aus der Analogie zu organischen Formen, eben den Nieren. Und damit überreicht Meister Wurm dem Betrachter das Passepartout des Verhältnisses von Gestalt und Form, besser bekannt als Metaphysik, also die Frage, wie das bloß Denkbare mit dem materiell Gegebenen in Beziehung tritt.

Unsere immer noch griechisch geprägte Formwelt der Geometrien orientiert sich an der Kombination von Dreiecken und Kreisen in mathematisch ausdrückbarer Relation. So halten wir die gute alte Erde trotz aller Gegenbeweise für die vollkommene Gestalt einer Kugel, obwohl sie tatsächlich einem strapazierten Fußball ähnelt, kurz bevor ihm die Luft ganz ausgeht. Und wenn sie nicht einem traurigen Fußball ähnelt, dann einer saftigen Kartoffel. Die Erde gleicht einer zur Rundheit gereiften Freilandkartoffel und das regte Erwin Wurm an, die Kartoffel als kosmischen Körper generell an die Stelle der Bilderbuchgeometrien zu setzen. Kartoffelförmigkeit repräsentiert die Formkraft des Weltgeschehens in weit höherem Maße als Zirkel und Lineal.

Das ergibt eine völlig neue Morphologie, also Erzählung über das Leben der Formen, und diese Erzählung ist Wurm zur Leidenschaft geworden. Analog zur Niere ist für ihn der Magen, die Kalebassenform, das Modul genereller Formgebung. Die Kalebasse, auffälligste pflanzliche Urform, heute noch durch seit Millionen Jahren existierendes Leben repräsentiert, manifestiert sich für ihn in Gurke, Zucchini, Aubergine oder Kürbis der unterschiedlichsten Wachstumsstadien. Die Kalebassenkörper bilden dann als Einzelne wie in Paarstellung, als Haufen oder Schwarm die kosmischen Erscheinungen im Galerieraum. Sehr anschaulich wird in der Ausstellungsinszenierung die Verbindung zwischen den einzelnen Formwolken, die für den zeitgemäß wachen Betrachter mit erfreulicher Sinnfälligkeit als Wurmfraß, als Tunnelröhren zwischen den Phänomenen des Multiversums zur Vorstellung werden.

Haben wir noch alle Gläser auf dem Tablett? Der souveräne Kunstkopf Wurm sorgt vor. Er bietet dem Besucher auf dem verkörperten Tischchen historisch Alkoholisches wie etwa Kirschlikör. Leider gibt es keinen Toast Hawaii, die Oblate des kosmischen Fernwehs nach der Zeit der großen Ausweidung menschlicher Körper, genannt Zweiter Weltkrieg. Immerhin darf man prognostizieren, dass die Urformen Leber, Herz und Darmgeschlinge von Wurm demnächst staunenswert ins Weltgewürge eingeführt werden. Für die Wirksamkeit solcher Verweltlichung des Menschen durch Expression seiner Körperlichkeit lieferten wiederum die ollen Griechen das Beispiel aller Beispiele. Sie konzentrierten sich auf das Knie, von dessen griechischem Namen die generelle Kennzeichnung des Menschengeschlechts abgeleitet ist. Man dachte nicht nur mit dem Knie im Übergang von der Archaik zur Klassik, man sah in ihm das metaphysische Organ schlechthin. Denn wenn ein Mensch zum Beispiel durch eine Waffe von außen oder Angststress von innen ins Knie bricht, beginnen sich seine Körperformen zu jenen Erinnerungen zu wandeln, in denen er nach dem Gestorbensein für die Nachlebenden unsterblich ist.

„Wurm, Hoch und Heil“ den durch Einverleibung unsterblich gewordenen Formen von Kürbis, Gurke und Aubergine! Damit holt Wurm einen höchst bedeutsamen Zweig der Kunst- und Kulturgeschichte in die aktuelle Diskussion. Es ist die Groteske, die Karikatur, die Parodie und Paradoxie, denen wir die entscheidende Durchsetzung von Gedankenfreiheit verdanken, vor allem aber auch den Ausdruck von Bekenntnisekel, wenn man gezwungen wird, angesichts jeder Lächerlichkeit des Alltags heroisch die politische Korrektheit zu heucheln. Das aber verlangt andererseits, dass wir nicht jeder beliebigen Behauptung, „etwas mit Kunst gemacht“ zu haben, das Pathos der Rechtfertigung durch Markterfolg zugestehen. Da regt sich der Erkenntnisekel vor der durch Kaufkraft angemaßten Autorität der Verkunstung. In dieser Situation ist die Haltung von Künstlern wie Erwin Wurm notwendiger als jede andere. Geboten ist nicht nur ein bisschen ironischer Stunt, satirische Umschreibung oder Zynismus der Unvernunft, sondern Entstellung bis zur Kenntlichkeit.

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