Zeitung Frankfurter Rundschau

Erschienen
16.01.1976

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
16.01.1976

Wollen wir wagen von heiliger Malerei zu sprechen? – zu Gotthard Graubner

HAMBURG. Die Hamburger Kunsthalle (Leitung Werner Hofmann) demonstriert gegenwärtig, was eine gute Ausstellungskonzeption leistet, wobei zur Konzeption gerechnet werden muß, daß auch nicht Geplantes, sondern zufällig sich Ergebendes sinnvoll integriert werden kann. Mit Hofmanns Worten: "Es ist eine glückliche, sinnvolle Fügung und kein Zufall, daß Graubners Ausstellung in der Kunsthalle auf Caspar David Friedrich folgt und William Turner vorausgeht." In der Tat: Die Ausstellungsplanung wird so zu einem Vermittlungskonzept, nicht nur, weil Graubner sich selbst auf Friedrich und Turner beruft, sondern weil jedermann sichtbar ein Zusammenhang zwischen den Malereien der beiden Großmeister und Graubners besteht: Ja, mancher Ausstellungsbesucher könnte vermuten, daß Graubners Bilder verselbständigte Teile eines Turner-Bildes seien: Von Perlongaze überspannte Farbnebel; lippenartig vorgewölbte Farbkissen; ausgespannte Farbhäute; gestopfte Bildkissen, auf die Farbschleim abgestreift wurde von Stoffballen, die Graubner anstelle von Pinseln verwendet.
Oberflächlich mag es in der Tat so anmuten, als habe Graubner die von Turner über seinen Bildgegenstand (Landschaften) gezogenen farbigen Lichtschleier nur so weit verdichtet, daß die bei Turner noch dargestellte gegenständliche Welt unsichtbar wird. Hazlitt beispielsweise hat schon die Bilder Turners als "Landschaften des Nichts und dem Nichts äußerst angemessen" bezeichnet, als Bilder der Elemente Luft, Erde und Wasser. Adalbert Stifter verweist auf Malerei wie die Turners mit seinem berühmten Leitmotiv der 'Lichtmusik', das analog zu der uns vertrauten Musik für die Ohren eine Musik des Auges formuliert. Die Harmonie des Lichts, vergegenständlicht in Farbe, wird diesem Konzept zufolge in einem gleichen Verhältnis zur gegenständlichen Welt empfunden wie die Harmonie der Töne (Harmonie bezeichnet aber nicht Wohlklang, sondern ein komponiertes Tongefüge = Gestalt).
Um dieses Verhältnis zu kennzeichnen, wird allgemein von der Befreiung der Farbe aus ihrer Bindung an Gegenstände gesprochen, von einer Autonomie der Farbe als Material. Graubner sagt: "Es gilt, die Farbe von jedem literarischen Inhalt zu befreien, so daß Rosa nicht Haut, Grün nicht Natur, Grau nicht Traurigkeit meint. Farbe besitzt eigenes Leben, eigene Sensibilität." Dieser Verselbständigung der Farbe als Material scheint Graubner zu widersprechen, wenn er andererseits sagt: "Meine Bilder sind immer noch Porträts - Darstellung mit dem Mittel der Farbe." Was so porträtiert wird, sind offensichtlich Empfindungen und Wahrnehmungen von Räumlichkeit einer Fläche, der Körperlichkeit des Lichts und der Diffusion der begrenzenden Linie.
Mit diesen drei Aspekten der porträtierten Empfindungen und Wahrnehmungen wird demonstriert, daß von Verselbständigung der Farbe gar keine Rede sein kann, daß in Malereien wie der Graubners nicht auf Inhalte verzichtet wird. Die von Hofmann im Vorwort des Ausstellungskatalogs angeführte These von der "Ästhetik der Monotonie" ist ganz sicher falsch, soweit sie im Kern von einem "Indifferentismus absoluter Gestaltlosigkeit" ausgeht. Zwar wertet Hofmann den Begriff der Gestaltlosigkeit auf, wenn er von vorgestaltlicher Bewegung spricht (in Hofmanns Sprachkolorit "prämorpher Flux" genannt); indem er sich aber auf Varietas (Mannigfaltigkeit) als Gegenbegriff zur Monotonie beruft, schränkt er Malereien wie die Graubners auf Metaphern der Grenzenlosigkeit im "ungestalteten Chaos der beginnenden Schöpfung" ein. Hofmann wird gegen seinen Willen gezwungen, intellektuelle Konzeptionisten und sinnliche Materialkneter unter den Künstlern zu unterscheiden. Konzept und Sinnlichkeit, Monotonie und Varietas sind jedoch weder bei Graubner noch bei irgendeinem Maler sonst einander ausschließende Kategorien.
WIe sehr Graubner auf differenzierter Gestaltbildung besteht, beweist die Bedeutung, die er dem Begriff "Organismus" zuweist. Die Sentenz "Farbe = Verdichtung zum Organismus = Malerei" steht an erster Stelle jener vielen Sentenzen, mit denen Graubner im Katalog einen Versuch macht, "Malerei aufzuschließen". An zweiter Stelle stehen Zitierungen Leonardos - gewiß nicht wegen der Zelebrität des Namens, sondern wegen der Bedeutung Leonardischer Konzepte; denn die rein sinnliche Werkpräsenz Leonardos wird von Graubner, wie seine Ahnengalerie zeigt, nicht in Anspruch genommen.
Die Ahnengalerie ist eine Art imaginäres Museum, das teils im Katalog, teils in einem separaten Ausstellungsraum der Kunsthalle präsentiert wird. Graubner versammelt dort aus den Beständen der Hamburger Kunsthalle wie per Bildzitat auch aus anderen großen Galerien der Welt Werke der Malerei von Giotto bis Cezanne – außerordentlich dankenswerter Versuch eines Künstlers, seine künstlerische Selektionsfähigkeit durch Wahrnehmung an historischem Material zu demonstrieren und damit die historische Kontinuität von Problemkonstellationen und Problemlösung anzuerkennen. Das erst schafft jedem Anspruch auf Selbständigkeit, ja der Originalität eine Begründung. Als Warhol vor acht Jahren einen ähnlichen Versuch unternahm, blieb die Auswahl touristisch beliebig, weil zusammenhanglos.
Es ist erstaunlich, daß Graubner seine "Ahnengalerie" mit Giotto beginnt, einem Maler also, dem in allen Schulbüchern die Rolle eines Begründers der neueren Malerei zugeschrieben wird. Dieses Klischee vom Beginn der Neuzeit in der Malerei hindert ihn daran, sich auf ein Verständnis von Malerei zu beziehen, das der Farbe einen sehr ähnlichen Wert beimißt wie er selbst. In der gebotenen Kürze läßt sich das am besten an der Verwendung von Gold in der christlichen Malerei des Mittelalters zeigen. Die Kunstauffassungen des Mittelalters wie alle nachfolgenden gehen davon aus, daß die Bedeutung aller bild-, wort- und tonsprachlichen Mitteilungen nicht einsinnig, sondern vielschichtig ist, daß sie eine didaktische, moralische, eschatologische und wörtlichh-historische Sinnebene haben. Auch die Verwendung von Farbe als Bedeutungsträger muß im Mittelalter die Forderung nach dem vierfachen Zeichensinn erfüllen.
Gold beispielsweise war einerseits Darstellung von Kostbarkeit durch die Repräsentanz des Materials; das dinglich gegenständliche Material Gold war unmittelbarer selbst evidenter Ausdruck von Wert, vor allem auch als Tauschwert. Zweitens war Gold als Goldgrund der ciel d'oro, also die vergegenständlichte Anwesenheit des Himmels, des Reichs Gottes in seinem paradiesischen Vorschein des Lichts in der Welt. Drittens: Gold stimuliert die affektive Beziehung von Menschen zur Welt, zumindest in Form des Habenwollens, der Aneignung. Viertens: Gold als Farbe bedarf der Stütze auf andere Farben nicht; sie ist eine Qualität sui generis, sie ist eine Farbe, die nicht aus der Wahrnehmung der Alltagsumwelt ableitbar ist.
Als Yves Klein 1957 seine ersten Goldbilder präsentierte, hielt man sie für eine bloße Extravaganz. Auch Kleins mittelalterliche Verwendung des Marienblau wurde nur akzeptiert mit der Versicherung, es handele sich um monochrome Malerei. Wer wollte es heute wagen, angesichts der Graubnerschen Farbauffassung von der "Heiligen Malerei" des Mittelalters zu sprechen, ohne als extravagant zu gelten? Und doch ist es möglich, nicht nur im Hinblick auf Graubner, sondern auf eine ganze Reihe gegenwärtiger Künstler, eine solche merkwürdige Übereinstimmung mit mittelalterlichen Auffassungen nachzuweisen. Im einzelnen können hier die Begründungen nicht gegeben werden. Es muß genügen zu sagen: An die Stelle der dinglich gegenwärtigen Repräsentanz des Goldes tritt sowohl der ästhetische wie der Tauschwert der Malerei als Kunstwerk. An die Stelle der theologischen Begründung eines im Kunstwerk vergegenständlichten Gottesreiches tritt hier die humanistische Begründung der Erwartung, unsere Lebenswelt müsse insgesamt nur von Künstlern wie Graubner gestaltet werden, damit wir in ihr Sensibilität und Sinnlichkeit voll entwickeln könnten. Drittens stimuliert ein Graubnersches Bild unser Aneignungsverlangen, weil ein gesellschaftlicher Konsens über die kulturelle Werthaftigkeit der künstlerischen Arbeit besteht. Viertens haben (den Graubner-Zitaten zufolge) seine Bilder malerische Qualitäten sui generis, da sie in der alltäglichen Lebensumgebung nicht offenliegen.
Im Hinblick auf diese vier Sinnebenen, die immer auch außeralltägliche Erfahrungsbereiche einbeziehen, wird es zulässig, den Graubnerschen Bildern einen Stellenwert zuzuschreiben, wie ihn einst die mittelalterliche Malerei für die Reflexion besaß. Ob die Graubnerschen Bilder den Stellenwert eines mittelalterlichen "Weltbilds" oder heutigen "Denkbilds" erreichen können, hängt davon ab, wie die vielfachen Sinnschichten vom Rezipienten genutzt werden können.

siehe auch: