Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erschienen
28.02.1969

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
28.02.1969

Die Überwindung der Kunst durch die Kunst. Franz Erhard Walther als Beispiel

Gegen alle Voraussagen hat sich die Tendenz zur Nationalisierung des Kulturbetriebs verstärkt, vor allem deshalb, weil sich die kulturelle Explosion Amerikas gegen die europäischen Praxismuster durchsetzen mußte. Nur in einem Punkte kann man der deutschen ästhetischen Praxis eine Vorrangstellung wieder einräumen. Die Theoriebildung, die die Bedingung heutiger ästhetischer Praxis ist, ist hier am weitesten fortgeschritten. Theoriebildung ist als künstlerisches Produktivmittel in einigen entscheidenden Produktionen entfaltet.
Eine dieser überaus bedeutsamen Produktionen stammt von Franz Erhard Walther.
Sie heißt 'Objekte benutzen'. Walther realisiert seine Arbeit in Buchform (Verlag Gebr. König, Köln) und auf der Konfrontationsebene Ausstellungsraum (in diesen Tagen in der Galerie ZWIRNER, Köln, 26.2. bis 25.3.69).
Generell hat es ästhetische Praxis mit zwei gleichwertigen Faktoren zu tun: der Produktion und der Rezeption, den Kunstwerken und ihren Aneignungsformen. Diese Faktoren waren nicht immer gleichwertig - sie sind es dadurch geworden, daß sich der materiale Charakter ästhetischer Produktion veränderte. Die produzierten Objekte waren nicht mehr dadurch materialiter bestimmt, daß sie überhaupt erschienen, sondern sie wurden erst durch die Art und Weise ihrer Aneignung zu dem, was sie sein sollten oder konnten. Kinetik, Happening, Environment kennzeichnen die Stationen der zunehmenden Bedeutung der Rezeption für die ästhetische Praxis. Inzwischen zeigt sich jedoch, daß diese Bedeutung der Rezeption unausgenutzt bleibt, wenn die Aufnehmenden, die Rezipienten unfähig sind, dem Maß der ihnen von der Produktion zugestandenen Aktivität zu entsprechen. Das Publikum zeigt sich unfähig, Rezeption überhaupt als Tätigkeit zu begreifen: es verharrt in der Haltung des Konsumierenden, die der klassischen Kunstproduktion gegenüber durchaus angebracht war.
Überlegungen, das Publikum auf den augenblicklichen Stand ästhetischer Praxis zu bringen, zielen darauf, das Publikum zur Rezeption durch Ausbildung zu befähigen: wie es Schulen für Kunstproduzenten gibt, sollte es auch Schulen für Kunstrezeption geben. Bisher ist dafür so gut wie gar nichts geschehen.
Wieder andere Überlegungen gelten der Überwindung des Unterschieds zwischen Produzenten und Rezipienten: Das Publikum sollte in die Lage versetzt werden, seinerseits ästhetisch zu produzieren. Diese Tendenz zum 'Do it yourself' ist zwar stark, dennoch aber zum Scheitern verurteilt, weil die bestehenden Schwierigkeiten nur verschoben werden. Die 'allgemeinen' Künstler hätten dann mit ihren eigenen Produkten dieselben Sorgen, wie sie sie jetzt mit den Produkten der Künstlerkünstler haben.
Noch anders wird versucht, die Differenz zwischen dem Kunstobjekt und dem Subjekt der Wahrnehmung aufzuheben: Mixed Media und Psychodelic Shows möchten durch gleichzeitige Aktualisierung von Produktion und Rezeption die Personalunion von Künstler und Publikum erzwingen. Solche Veranstaltungen entraten aber aller Bestimmungen dessen, was da aktualisiert wird, wenn man nicht Bestimmungen wie 'Vergnügen bereiten' oder 'Dabeisein' akzeptieren will.

In der angedeuteten Situation kann man nun die Walthersche Arbeit als einen großen Schritt voran betrachten, denn in Walthers Arbeit materialisiert sich bereits jene Beziehung zwischen Produktion und Rezeption. Sie ist selber konkret gewordene Beziehungsform. Seine Objekte sind materialgewordene Bestimmungen des Produkts. die nicht mehr vor dem Objekt bleiben. wie etwa die Anweisungen von Happenisten zur Rezeption des Materials vor ihm bleiben.
Walther produziert keine Objekte als Kunstwerke. die erst der Rezeption ausgesetzt werden müssen. Die durch die Rezeption zu erbringenden Leistungen des 'Publikums' sind schon für das Objekt konstitutiv. Die WaIthersche Arbeit ist eine exemplarische Manifestation ästhetischer Praxis als Prozeß. "Dort. wo der Prozeß zur Ruhe kommt, ist das Objekt", schreibt Walther. Das Objekt selbst ist nur ein Abfallprodukt des Prozesses. das allerdings insofern doch aufgewertet wird, als die Bedingungen der Zirkulation von Produziertem in unserer Gesellschaft etwas Materiales voraussetzen, an dem sich die Attribute ansammeln können, die wir als Warencharakter bezeichnen. Da nur Waren zirkulieren können, erfüllen die Objekte diese Voraussetzung. Anders würden wir WaIthers Arbeiten niemals zu Gesicht bekommen. Immerhin ist WaIthers Arbeit zu verstehen als Form der langsamen Entmaterialisierung ästhetischer Praxis. d.h. langsam werden die materialen und konkreten Formen der Objekte als Produkte verschwinden, weil die Künstler keine materialen Gebilde mehr herstellen werden. Die ökonomischen und ideologischen Bedingungen der Zirkulation von Produziertem erzwingen heute noch von jedem sofortige Objektivierung des Objekts zum Kunstwerk.
Darin liegt der Grund, warum entgegen den Bekundungen der Künstler, objektiv keine Kunstwerke mehr zu schaffen, das Publikum und die institutionalisierte Kritik doch sogleich wieder von Kunstwerken, von Dramen von Bildern, von Essays sprechen. Dieser Zwang, sich aus der eigenen Erfahrung in die vorgegebenen Verständigungsformen zu flüchten, wird heute fast zum Objektivierungswahn: Die Entfaltung der eigenen Subjektivität wird abgewehrt, weil man sie nicht aushalten kann - Erfahrungen an der eigenen sozialen Tätigkeit werden nicht mehr gemacht. Dieser Objektivierungswahn erfaßt heute alle Bereiche gesellschaftlicher Praxis bis hin zu Sprachgestus, Kleidung und Verhalten der Einzelnen. Die Walthersche Arbeit liefert für die Überwindung solchen totalen Objektivierungswahns Beispielhaftes.
Mit Walthers Objekten geht man nicht wie mit Kunstwerken um, man benutzt sie.
Man gebraucht sie. Man schleppt sie wie Rucksäcke, hantiert sie wie Zelte oder Rasenstücke. Nur eben doch nicht "wie", was man merkt, wenn man die ersten willkürlichen Assoziationszwänge überwunden hat. Da ihr Gebrauch in ihrem Materialcharakter erscheint, benutzt man die Objekte, wie man eben noch nie einen Rucksack benutzt hat, wie man nie ein Rasenstück oder ein Zelt gebraucht hat. Vorläufer Walthers haben nur ein Zelt oder Rasenstück seiner Funktion entkleidet, um es zum Kunstwerk zu objektivieren. DUCHAMPs Flaschentrockner ist nur als Kunstwerk Gegenstand der Wahrnehmung, nicht aber als dieser so beschaffene Gegenstand 'Flaschentrockner'. Walthers Objekte haben ihre Funktion unmittelbar durch das, was sie materialiter sind.
Diese Funktion wird von dem sozialen Subjekt 'Benutzer' erfahren, und zwar durch Veränderung seines Verhaltens, indem er die Objekte benutzt. Entspricht man dieser Funktion nicht, dann sind die Objekte auch nicht wahrnehmbar. Sie sind dann alle gleich, nämlich weiße Säcke mit Aufschriften wie 'Objekt, um Brutalität zu erfahren', 'Objekt zum Vergessen', 'Objekt für Wechsel', 'Gehobjekt', 'Ichobjekt'. Diese Namen deuten auf den Rahmen der möglichen Erfahrung, die im Benutzen der Objekte zu machen sind. Diese Erfahrungen sind nicht vom Inhalt der im Objektnamen transportierten Information abhängig. Sie sind Erfahrungen von der Objekthaftigkeit des eigenen Körpers: Erfahrungen einer neuen Art zu gehen, zu sitzen, sich zu gebrauchen. Helmar FRANK hat nachgewiesen, daß selbst der Pantomime Marcel MARCEAU nur 70 Prozent der Möglichkeiten nutzt, die Menschen zur Koordination von Bewegung prinzipiell haben. Die etwas poetischen Bezeichnungen der Waltherschen 'Objekte' dienen dabei der Abwehr abfälliger Assoziationen zu eingedrillten Gebrauchsmustern. Denn die durch Walthersche Objekte produzierten Verhaltensweisen sind den uns geläufigen kaum vergleichbar. Walther hat die von ihm entdeckten und wiederentdeckten Funktionen und Verhaltensweisen samt deren Materialisationen in ein System der Objekte eingebracht, wozu natürlich auch Namensgebungen gehören. Dieses System ist im Buch 'Objekte, benutzen' festgehalten, wobei Buch hier nicht eine literarische Kategorie meint, sondern einen Ort der Konkretisierung von Bestimmungen: etwa wie Logbuch oder Haushaltungsbuch.
Die Posten des Buches sind einzeln abrufbar, denn die Form des Buches ist nicht durch seinen Inhalt bestimmt. Das Buch ist seinerseits nicht als Objektbuch angelegt. Die Daten sind Rahmen des Prozesses, der im Objekt stillgestellt wird oder versiegt. Der Prozess umfaßt den Gebrauch der Objekte. Die Daten bedürfen also der Ergänzung, weil jeder Gebraucher andere Annäherungswerte erzielen wird, als es die Walthers sind. Im Buch ist genügend Raum freigelassen, damit der Benutzer der Objekte seinen eigenen Erfahrungsrahmen ausbilden kann. Das Buch gibt die Hintergrundsbestimmung des Prozesses, es ist nur mit ihm sinnvoll. Das hat bisher nur für wissenschaftliche Bücher gegolten.
Entscheidend ist, daß von Walthers Objekten nicht der Kunstfreund oder Kenner oder Liebhaber betroffen wird, Die gesamte soziale Persönlichkeit in ihren Verhaltensweisen wird völlig neu bestimmt. Für sie gelten heute in erster Linie Probleme wie Organisation des konkreten Tageslaufs durch Ritualisierung, um nicht permanent Entscheidungskonflikten ausgesetzt zu sein. Die Waltherschen Objekte ermöglichen Ritualisierung insofern, als ihre Benutzung durchgängige kontinuierliche Handlung ermöglicht. Unsicherheit über die Frage, wie man mit den Objekten umzugehen hat, weil man aus sozialem Druck richtig mit ihnen umgehen können will, gibt es nicht, denn das Objekt stellt seine Benutzung durch seine Erscheinungsform aus.
Für die gesamte soziale Persönlichkeit des Benutzers liefern Walthers Arbeiten ein Beispiel, wie richtigerweise das. was man über sich in Erfahrung bringen kann, zur Bedingung eigener Tätigkeit werden muß.
Es dürfte einsehbar geworden sein, welcher generellen Tendenz Walther entspricht oder welche er gar wesentlich erst selber hervorgebracht hat. Es ist die Überführung der ästhetischen Praxis in die gesellschaftliche Praxis. Das ist das Höchste, was man der Arbeit von Künstlern heute zuerkennen kann. Die Überwindung der Künste durch die Kunst selber schreitet voran.

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