Ausstellungskatalog Peter Bömmels: Bilder, die die Welt bedeuten

Ausstellung: Museum am Ostwall, Dortmund: 16.10.-4.12.1983

Erschienen
1982

Autor
Brock, Bazon | Scheurig, Dirk

Herausgeber
Bömmels, Peter

Verlag
Museum am Ostwall

Erscheinungsort
Dortmund, Deutschland

Umfang
79 Seiten

Seite 38 im Original

2.3 Kopfbohrer und Armsäger

In die Vergleichsreihe zum Themenkomplex "Kopfbohrer und Armsäger" haben wir acht Werke aufnehmen können. Für die Varianten A 1, 2, 3, die auch in unterschiedlichen Techniken gearbeitet sind, lassen sich als Grundtypus folgende Elemente herausstellen:
Die Allegorie (Personifikation) des Flusses mit abgewinkeltem Oberkörper; ihre Arme (im Fortbewegungsgestus) münden in Krücken. Der Flußkörper ist flaschengrün gehalten, auf ihm reflektiert gelbes Sonnenlicht. In A 2 ist die Flußlandschaft durchgängig rot verschattet; der Himmel strahlt Sonnengelb! Die Flußrichtung verläuft von links nach recht. Im Flußkörper drei Schwimmer in unterschiedlichsten Reaktionen auf das Wasser. Den fließenden Flußleib umfängt ein Gebilde, das aus einem Stock besteht, der durch die Nasenlöcher eines en face wahrnehmbaren Männerkörpers gebohrt ist. Der bogenartig gekrümmte Stock tritt etwas rechts von der Schädelmitte wieder aus dem Kopf hervor. Am oberen Ende des Stockes ist an einer Bogensehne ein blau angelaufener linker Arm angehängt. Dieser linke Arm greift über den Flußleib an das untere Ende des Kopfbohrer-Stockes, so daß der Arm den Stock, an dem er selbst hängt, zu halten vorgibt.
Die Variante A 1 zeigt die Flußallegorie in einem atmosphärischen Irgendwo - umgeben von gelben, konturierten Menschen-Schemen in unterschiedlichsten Bewegungen. Die Krücken des Flusses sind kufenlos.
Variante A 2 und A 3 zeigen unter der Allegorie des Flusses einen in einer Landschaft situierten Flußlauf. Die Allegorie tunkt eine ihrer Kufenkrücken in den Fluß. Die andere Kufenkrücke wird über das Flußufer geführt. Den Bildhorizont bilden einige dankbare Formen (gekappte Hochhäuser), die wie eine Bergkette ineinander verzahnt sind!
In A 2 stößt der Kopfbohrer-Stock durch die Uferzone des Flusses. Die angedeuteten Wasserspritzer legen die Vermutung nahe, daß der Kopf-Stock gerade durch den Schädel bewegt wird. Der Blick des Aufgespießten richtet sich aus dem Bild auf den Betrachter. Der Augenausdruck verrät ängstliche und schmerzlich-überraschte Selbstwahrnehmung.
A 3 (abgesehen von der Technik) faßt den Themenkomplex im wesentlichen in ein anderes Bildformat. Obwohl wir hier die Auswirkung der Techniken und der Besonderheiten der von Bömmels verwendeten Medien nicht thematisieren, sei doch angemerkt, daß er als Autodiktat manchmal - überraschenderweise - graphische und malerische Eigentümlichkeiten fast wie Lehrbuch-Profis zu unterscheiden und einzusetzen versteht.

[BILD A3]
Finis 1981
Tusche auf Papier
30x 30 cm
Paul Maenz, Köln

[BILD A1]
Finis 1981
Öl auf Papier
30x 40 cm
Paul Maenz, Köln

[BILD A2]
Finis 1981
Dispersion auf Nessel
138 x 215 cm
Gerd De Vries, Köln

Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß seine schwarzweiß-dominanten Arbeiten gegenüber den farbmalerischen die Themen begrifflich härter, unerbitterlicher und unausweichlicher vortragen. Ein Grund dafür? Wahrscheinlich hat Bömmels für sich auch eine Farbikonographie entwickelt, der ich aber bisher noch nicht nachspüren konnte. Bömmels hält sein Farbklima übertragungsstark wie die uns kaum vertrauten Farbwertigkeiten eines geöffneten Körpers. Jedenfalls kann man von Bömmels her sehr gut nachempfinden, welch' befreiende Kraft im 17. Jahrhundert die malerische Darstellung geöffneter Leiber erzeugte.
Damals pries man Gott, daß er auch das verschlossene Innere der Körper in lebensheftigen Farben gehalten habe: diese Farben boten die Vergewisserung, daß das menschliche Innere prinzipiell von seinem Äußeren nicht verschieden sei, so daß die bedrohlichen Dimensionen des unzugänglichen Körperinneren nicht mehr durch die bloße Anmutung als dunkelhöllische Sphäre böser Dämonen vermutet werden mußten.
Mir bietet das Bömmelssche Farbklima eine ähnliche Anmutung, die das Auge und die Vorstellung von den düsteren, gefährlichen Erscheinungen des Unbekannten befreien.
Unsere Thematisierungen übersetzen ja - wie schon gesagt - nicht das Unverstandene ins Verstandene, aber sie verändern unsere Annäherung an und unser Verhalten gegenüber dem bedrohlich Unbeherrschbaren.

In B erarbeitet Bömmels eine vollplastische Fassung des Kopfbohrers in Gips und Pappmaché, zum Teil koloriert. Die zu Berge stehenden Haupthaare sind hornförmig ausmodelliert. - Auch mit den Bömmelsschen Plastiken können wir uns hier nicht beschäftigen, zumal es bis heute keine Möglichkeit gibt, eine hinreichende Anzahl von ihnen im Vergleich zu betrachten.
Auffällig ist jedoch, daß Bömmels' Plastiken fast durchweg Übersetzungen ehemaliger Bild-Ideen zu sein scheinen. Einer der Gründe für die plastische Umsetzung reiner Bild-Ideen dürfte darin liegen, daß die Plastiken die begrifflichen und anschaulichen Zumutungen des Bild-Elements stark erhöhen. Zudem darf man sicher sein, daß Bömmels für seine Bilder zwar vorgestellte, aber doch als real vorgestellte Bildräume entwickelt. Diese Bildräumlichkeiten, diese Körperlichkeit der Bildideen werden durch plastische Umsetzungen verdeutlicht.

Im ersten Skizzenbuch seiner künstlerischen Arbeiten - Sommer 1980 - kritzelt Bömmels das Urmotiv des Themas "Kopfbohrung". Von diesem Urmotiv gibt es eine spätere Fassung als konturgenauen Ausriß in Pappe, die ein früher von Bömmels bevorzugtes Zwischenstadium zwischen Bild und Plastik darstellt. Diese "shaped canvas"- (eigentlich: objekthaft konturierter Bildträger-)Version zeigt die bemalte Kopfstange noch in natürlicher Analogie zur Fahnenstange, die den Kopf in Augenhöhe durchschneidet. Aus dem breitmauligen, eisfarbigen, schattenwerfenden, durchtrennten Schädel entweicht ein Schemen in Menschenfigur: ein Schwimmer in der Atmosphäre, der sich einen Fisch in den Hintern steckt. Die Fahnen- oder Wimpelstange wird gehalten von einem blaubetuchten Mann, der in einer Landschaft über ein Brückensegment gebeugt ist und der die Wimpelstange in einen Flußlauf oder ins Meer tunkt. Das Brückensegment wird aus einem Stiefel gebildet, auf dem der beschuhte Mann steht.

[BILD B]
Finis 1981
Dispersion auf Pappmaché
120 x 52 x 30 cm
Paul Maenz, Köln

[BILD D]
Sich Grämen und Hoffen 1982
Kupferbronze und Dispersion auf Pappmaché
120 x 80 x 30 cm
Paul Maenz, Köln

Die aus dem Stiefel quellende gelbe Socke kippt schlapp weg. Stiefel und Sockenschaft assoziieren die kartographische Gestalt der Halbinsel Italien. Vor und hinter grünem Gebüsch agieren ein gelbleibiger und ein rotleibiger Schemen-Mensch - etwa in der Größe des fliegend entweichenden Sphären-Schwimmers. Bömmels plazierte seinerzeit das Werk als Ausriß reliefartig vor und auf der Galeriewand.

In C, "cross over magica': schreitet der Unterleib einer Figur, von hinten gesehen, über's Wasser, wie der Hafentorgigant von Alexandria. Seine Füße stecken in schiffsleibigen Schuhen. Die Magica, über die er hinwegschreitet, sind: ein mit erhobenen Händen versinkender Schwimmer, eine hochgehievte Kinderlaterne und ein Leuchtturm. Der magische Gigant besteht von der Hüfte aufwärts aus einem riesigen Kopf, aus dessen Maul sein eigener Unterleib hinabwächst. Der en face ansichtige Schädel ist bis zur Nase gespalten. Aus der rechten Hälfte erwächst ein Arm. Die Hand dieses Armes ist mit einem Sägeblatt verwachsen, das von schräg oben nach unten hinter den Schädel geführt wird. Am anderen Ende des Sägeblattes setzt ein Ellenbogen-Gelenk mit Unterarm und Hand auf. Die Hand umgreift in Höhe des Backenknochens die linke Gesichtshälfte des gespaltenen Gigantenkopfes. Die linke Schädelhälfte mündet in aufgerichtete Haarbüschel. Die plastische Version dieser Bild-Idee in Pappmaché und Gips (D: "Sich grämen und hoffen") entspricht weitgehend der Bildvorlage, obwohl die Körperteile gelängt erscheinen. Unterleib und Sägeblatt haben blutrote Farbaufträge. Das für mich Überraschendste dieser Version ist nicht die Idee der Reflexivität, die sie veranschaulicht (reflexiv: die sich selbst haltende Halterung), sondern, daß Bömmels Reflexivität gerade im Typus einer sich selbst zerteilenden Figur zeigt. Die Begründung dafür kann ich hier nicht wiederholen. Man lese sie unter dem Stichwort "Lorenzettis Divisio" in der Buch-Veröffentlichung über die ersten fünf Jahre Petrarca-Preis nach (Hanser, München, 1981)! Zusätzlich vergleiche man Bosch, Goya, Ensor. Dazu läßt sich wohl erst etwas Gewichtiges behaupten, wenn das Werk von Bömmels umfangreicher sein wird! Offensichtlich kommt man immer noch nicht um die Jungschen Hypothesen einer Archetypenlehre herum, denn andere Annahmen über die merkwürdigen Parallelität der Bildvisionen von Menschen denkbar verschiedenster Epochen und Kulturlandschaften scheint es immer noch nicht zu geben.

[BILD C]
Cross Over Magica 41 ... für Goethe 1982
Dispersion auf Papier
104 x 84 cm
Wolfgang Alvano, Köln

[BILD]
o. T. 1980
Bleistift auf Papier
21 x 15 cm
Besitz des Künstlers

Die Antriebe für die Verdichtung gestalterischer Vorstellungen in dem Kopfbohrer und dem Armsäger können wir vielleicht den Arbeiten E1 und E2 entnehmen.
E 1 zeigt den Kopf eines Liegenden, Gesicht himmelwärts. Ins rechte Auge ist ein vierkantiger, auch nach oben zugespitzter Pfahl gerammt. Die Perspektive verstärkt die Wucht, mit der der Ramm-Pflock in die Augenhöhlung und in den Schädel eindringt. Durch das zugespitzte obere Ende des Pflocks läuft ein Kanal mit deutlich herausgearbeiteten Austrittsumrandungen. Durch den Kanal zieht sich u-förmig himmelwärts ein Nervenband, das durch die Münder zweier Maskengesichter hindurchflattert.
In der Haarbild-Version E 2 flattert das Nervenband durch eine schematische Version des Kopfsägers ohne Unterleib. Die Umhüllung des Gesichts und des Schädels sind nicht starr fixiert. Die äußere Konturlinie verläuft durch eine Öffnung in der inneren Hülle: Die Schädelform scheint vergrößerbar oder verkleinerbar zu sein.
Bömmels bekundet auf Befragen, mit dieser Arbeit "Zahnschmerz" thematisiert zu haben!
Ich muß leider auch darauf verzichten, in diesem Zusammenhang auf die Besonderheiten der Technik der Haarbilder einzugehen. Doch möchte ich anmerken, daß die stärker graphische Haarbild-Version Übertragungswirkungen vom Bild auf den Betrachter ermöglicht, die in ihrer unverkennbaren Zwiespältigkeit, in ihrer anziehenden Ekelhaftigkeit und in ihrer fühlbaren Unwirklichkeit die physische und psychische Selbstwahrnehmung des Bildbetrachters auf die Spitze treiben.

[BILD E1]
Sich Grämen und Hoffen 1983
Pastellkreide auf Papier
29,5 x 14,5 cm
Sammlung FER

[BILD E2]
Sich Grämen und Hoffen 1983
Öl und Menschenhaare auf Nessel
240 x 180 cm
Paul Maenz, Köln