Buch Lothar Götz

Erschienen
2016

Verlag
domabaal editions in association with Leeds Art Gallery

Erscheinungsort
London, Großbritannien

ISBN
978-1-905957-58-3

Einband
brosch.

Seite o. S. im Original

Lothar auf der Himmelsleiter

Die grundlegenden Koordinaten unseres Weltverhältnisses sind die Horizontale und die Vertikale, die Entfernung in der Fläche und in der Höhe. Die Menschen haben sich für die Kreuzungspunkte von Hoch und Weit in besonderem Maße interessiert, seit sie sich in den Savannen aufrichteten, um eine bessere Vorsicht im Nahbereich des Lebensraums zu gewinnen. Dann wurden Bäume und Hügel besetzt, um die visuelle Kontrolle auszuweiten. Erste bauliche Formen der Supervision, Grundelement jeder Herrschaft, entstanden als Exponierpodeste für die Anführer und Wächter. Noch bis in den späten Hellenismus hinein war es heilige Pflicht des Königs, von der Spitze des Berges Haimon aus durch rituelle Drehung um die eigene Körperachse die Einheit des Horizonts über volle 360 Grad und damit die Einheit der Welt zu garantieren.

Früh hat sich auch der Topos der Raumgestalt der Treppe herausgebildet. Treppen sind die erfolgreichsten Modelle der Vermittlung von Horizontalität und Dynamik der Voranbewegung jenseits der bloß gedanklich spekulativen Vorstellung der Himmelsleiter für Jakob. Spektakulär wie Traumgestalten sind die auf uns gekommenen frühen Treppenbauten von den Treppenpyramiden der alten Ägypter, dem Turmbau zu Babel, dem Leuchtturm als Koloss von Rhodos oder den Treppentürmen der Westwerke christlicher Kathedralen. Im Burgfried oder in den Geschlechtertürmen entwickelte man die Treppe als Verwirklichung des Traumbildes der rettenden Himmelsleiter: Oben, näher zu Gott, sollte man am sichersten sein. Ganze Städte in Felsmassiven waren Entfaltungen von Treppenräumen, die sogar mit Zugtieren und Wagen bewältigt werden konnten. Schließlich wurde die Einheit von Traumbild Himmelsleiter und Architektur der Treppe im technischen Entwurf des Fahrstuhls zum weltweiten Modell zur Erschließung der Scheibenhorizonte im Höhenraum.

In der jüngsten Vergangenheit unserer Kunstgeschichte sind drei „Treppenwitze“ in so gut wie jedermanns Gedächtnis eingeführt. Der Topos Treppenwitz bezeichnet ursprünglich das Geraune von Küchenpersonal, das in Großbürgerhäusern den Raum unter den Treppen bewohnte und auf den Hintertreppen Witze über die hohen Herrschaften riss. Der Autor dieses Textes gehört selber zum niederen Dienstpersonal der Kunst, dessen hohe Herrschaften die Künstler sind. Wir schreiben für Niedriglohn über Kunstwerke, die für Millionen und Abermillionen Dollar gehandelt werden.

Treppenwitz Nr. 1: Marcel Duchamp liefert der Armory Show in New York kurz vor dem Ersten Weltkrieg sein Gemälde eines „Aktes, die Treppe hinabsteigend 1“.

Treppenwitz Nr. 2: Erik Charell entwickelt für die 20er Jahre Berlins die Show-Treppe, über die Glamourgirls aus der Imagination des Herrenpublikums auf die reale Bühne herabsteigen.

Treppenwitz Nr. 3: Oskar Schlemmer gestaltet das Treppenhaus des Dessauer Bauhauses, um eine Umwidmung des Gebäudes durch die Nazis zu erschweren.

In der Dynamik der Vereinheitlichung von Anschauung und Vorstellung durch die von Ezra Pound angeführten Vortizisten werden die drei damals schon meistdiskutierten Treppenwitze in Bewegung gesetzt. Vortizismus meint ja eine schnelle Drehbewegung, wie sie Wasserstrudel und andererseits Wüstenwindsäulen kennzeichnet. Den analog zu diesen Wirbelsäulen imaginierten Farb-, Wort- und Musikstrudeln liegt die Figur der archimedischen Schraube zugrunde, das technische Grundmodell einer Drehbewegung in fester Position. Robert und Sonja Delaunay schraubten die Farbräusche bis in die Eiffelturmspitze hinauf, wo sie in die Regenbögen des transzendentalen Brückenbaus einzugehen schienen.

Und nun Lothar Götz, dessen deutscher Nachname jeden Verständigen dazu verführt, die Kunstwerkerei als Götzendienst zu verstehen. Achtung: Vom Mathematikgenie Schrödinger wissen wir, dass Götzen auch wirksam sind, wenn es sie gar nicht gibt, und von den Psychologen erfahren wir, dass Placebos auch wirken, wenn man von ihnen Kenntnis hat, also weiß, dass Wirksubstanzen fehlen, aber durch Psychodynamik spielend ersetzt werden. Und etwas spielend zu ersetzen, darin sind Künstler Profis.

Gewohnheitsgemäß pflegen wir visuellen Attraktoren, etwa durch Malerei vorgegeben, durch horizontale Bewegung vor ihnen zu entsprechen. Die nackte weiße Galeriewand ist das Placebo des Kuratierens, um selbst Vereinzeltes noch in einem erahnbaren Zusammenhang zu sehen. Auf jeden Fall geht in der Horizontalen der Blick über die Malereien vor und zurück und wieder vor; der Vergleich der visuellen Positionen wird so zur Beglaubigung von Kontinuität. Diese Kontinuität hat Lothar immer schon durch Arbeit in mehreren kleinen Räumen des einen Baus durchbrochen. Die Treppe als Raumorganisation ist geradezu ideal für die Aufrechterhaltung der Kontinuitätserfahrung durch Ebenenwechsel. Der soeben durchlaufene Farbraum wird zur Erinnerung und die in der Treppenbewegung erwartbaren nächsten Raumebenen rufen Antizipationen hervor, die bei jeder weiteren Bewegung zum erfrischenden Erleben der Differenz von Erwartetem und Gesehenem führen. Die auf jeder Treppenebene erlebte Farbgestalt steigert sich durch die gleichzeitige Erweiterung um Erinnerung und Antizipation, der Vorwegnahme des Kommenden. Das zielt auf klassische Formen der Übersetzung oder der rites de passage, des Zustandswechsels im stehenden Augenblick, dem ewigen Augenblick des nunc stans. Auch der Wandlungsvorgang (bis hin zum stehenden Bild der wirbelnden Luftsäule) vermittelt noch die Erfahrung des Glücks von Dauer. Aufs Ganze gesehen, ist, klassisch gesagt, der ständige Wechsel die einzige Form bestätigter Dauer, wie es die Fata morgana jedem Wanderer durch die Wüsten des Lebens anschaulich werden lässt. Wie alles Wissen um die wahre Natur der Fata morgana den Menschen bis heute die reale Erfahrung des Virtuellen, der Vorstellung, der Imagination, der Einbildungskraft nicht ersparen oder nehmen konnte, so kann uns die Entzauberung aller Kraft der Gestaltung als handwerkliches Künstlerkalkül das Phantasma der Realisation des Irrealen, genannt Kunst, nicht nehmen. Also bewege ich mich himmelwärts auf der Treppenschraube durch Lothars raumschaffende Kraft der Farben, himmelsraumschaffend.