Buch Christine Burlon

Struktur und Raum

Christine Burlon. Struktur und Raum, Bild: 2017.
Christine Burlon. Struktur und Raum, Bild: 2017.

Christine Burlon ist eine bildende Künstlerin. Sie studierte Kommunikationsdesign an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal bei Prof. Bazon Brock und Prof. Uwe Loesch und Malerei bei Prof. Badura. Heute lebt und arbeitet sie in Bergisch-Gladbach.

Katalog zur Ausstellung „Innere Werte“ in der Galerie Fischer, Dortmund (11.08.-3.09.2017). Mit Texten von Bazon Brock, Klaus Fehlemann, Gisela Schwarz und Antje Utermann.

Erschienen
2016

Erscheinungsort
Bergisch-Gladbach, Deutschland

ISBN
-

Umfang
92 S.

Einband
Softcover

Seite 89 im Original

Aspekte zu den Arbeiten von Christine Burlon

Darstellung ist Erkenntnis

Aus der Frühzeit der gemeinsamen Entstehung von Kunst und Wissenschaften durch Abkopplung aus den Kulturen und ihren zentralen Herrschaftsideologien, nämlich den Religionen – aus dieser frühen Zeit zwischen 1350 (Francesco Petrarca beginnt zu wirken) und den 1750er Jahren ist ein für die Geschichte der bildlichen Darstellung wichtiges Ereignis hervorzuheben. Mitte des 16. Jahrhunderts erfasst Andreas Vesalius zum ersten Mal die Anatomie des Menschen. Zwar hat es vorher einzelne Studien gegeben, z.B. von Leonardo da Vinci, aber eine systematische, komplette Erfassung des Menschen gab es zuvor nicht. Offenbar war es bis dahin nicht denkbar, den wichtigsten Aspekt dieser Darstellung zu begreifen. Dieser Aspekt, auch bezeichnet als ut pictura poesis, beinhaltet die folgende Theorie: Wenn ich etwas darstellen kann, ist die Art der gelungenen Darstellung bereits ein Großteil der Erkenntnis bzw. des Weges zur Erkenntnis der Sache selbst. Die Darstellung der Anatomie des Menschen ist also der Versuch gewesen, sich dem menschlichen Körper als einem Organismus im Zusammenspiel der unterschiedlichen Organe und Systeme zu nähern, und zwar ausschließlich durch das Herausbilden der Fähigkeit, ihn darzustellen.

Christine Burlon verfolgt heute ein Parallelverfahren, indem sie die anatomische Darstellung des Menschen, die inzwischen vollständig kodifiziert wurde und in der Lehre der Medizin Gültigkeit besitzt, zurückverwandelt in eine malerische Ebene der Repräsentation. Als Grundlage dient ihr die von der Realität des Körpers bereits in eine grafische Darstellung überführte Reduktion in Form von Zeichnungen aus Lehrbüchern der Anatomie.

Die Frage, die sich hieraus ergibt ist, wenn ut pictura poesis schon eine Form des Erkennens ist, wie dann bei Burlon die Verwandlung der Erkenntnis in eine Darstellung als Malerei die Wandlung des Bedeutungsschemas nach sich zieht. In ihren anatomischen Arbeiten beschäftigt sich Christine Burlon nicht mit konkreten menschlichen Körpern, sondern mit den Darstellungen in der Anatomie, also der poesis. Auf diese Weise wird eine Darstellung in die nächste überführt. Farben werden so z.B. von ihrer Funktion der Unterscheidung nach Gewebestrukturen, Blutzufuhr etc. entbunden und in eine malerische Bedeutung verwandelt.

Daraus ergeben sich zwei Fragen:
Zum einen, was wäre eigentlich aus der Anatomie geworden, wenn von vornherein die malerische Darstellung gewählt worden wäre, wie das bereits in den Renaissance-Malereien seit 1400 der Fall war, Körper also als malerische Objekte, als Gegebenheiten in einem sinnlichen Feld der Orientierung, auf eine Malerei ausgerichtet und nicht mehr auf ein figuratives Darstellungsschema?

Zum anderen, wie änderte sich die Bedeutung aller technischen Zeichnungen, aller anatomischen Wiedergaben des Zusammenspiels von Organen zum Organismus, wenn man sie nicht mehr als ein Problem der Erkenntnis des vorliegenden Körpersystems Mensch oder der Säugetiere prinzipiell auffasst, sondern als ein Problem der Erkenntnisgeschichte selbst? Es träte ein Wandel der Darstellungsformen selbst ein, nicht mehr durch immer neuen Zugang der Darsteller zum Dargestellten, sondern dadurch, dass die Darstellungsformen, alle Formen der Erkenntnis untereinander und ineinander verwandelt würden. Christine Burlon wendet dieses beispielgebende Verfahren an; wissenschaftlich oder technologisch gegebene Darstellungen werden als Erkenntnisformen ihrerseits dargestellt, aber im Sinne einer Transformation in Malerei.

Das ist doch ein Busen – ganz eindeutig!

Die Werkgruppe der auf Holz gemalten und den Holzstrukturen folgenden Arbeiten ist verständlich aufgrund des Transformationsverfahrens. Um die Jahrhundertwende vom 15. zum 16. Jahrhundert entwickelt Leonardo da Vinci einen Hinweis auf die innere Logik eines solchen Verfahrens der translatio, der Überlagerung, Transformation, indem er sagt, diese Transformationsprozesse seien die Sprache des Geistes selber: lingua spiritualis. Er macht dies klar anhand eines Beispiels von auffälligen Kalkausblühungen im Mauerwerk. Diese, durch Bewässerung entstandenen, amorphen Formen, deren Gestalt sich dem Zufall verdankt, verwandelt der Wahrnehmungsimpuls des Betrachters in etwas, was seiner Orientierung auf die Außenwelt entspricht. Die lingua spiritualis ist also die Sprache des Geistes als eine Sprache der Verformung bzw. der Überformung oder des Wandels, die auch bei Burlon deutlich wird. Indem sie Holz als Bildträger verwendet, hebt sie aus der Maserungsstruktur des Holzes im leonardischen Sinne einen Anlass für die lingua spiritualis heraus, um diesen dann in Malerei umzusetzen.

Die lingua spiritualis ist zu unterscheiden von der Art und Weise, wie wir diesen Erscheinungen Bedeutung geben, bei Leonardo, wenn die Ausblühungen auf einer Kalkwand als Wolken oder als Gesichter wahrgenommen werden, die wir bis heute individuell noch nachvollziehen können, bei Burlon als Figuren, Köpfe, Wachstumsstrukturen.

Zwei Schlüsselelemente sind hierbei von besonderer Bedeutung:
Erstens das Phänomen der Entwicklung von Fern- und Nahsicht. In der Ferne sind die Dinge zunächst nur andeutungsweise identifizierbar, je näher man kommt, umso eindeutiger können sie bestimmten Bedeutungskategorien zugeordnet werden. Dabei gilt: Je früher ein Bedeutungszusammenhang hergestellt werden kann, umso schneller kann eine Reaktion erfolgen, umso eher kann man sich noch bei Gefahr in Sicherheit bringen.

Bei der Bedeutungszuordnung durch Unterscheiden liegt ein weiteres, zweites Schema zugrunde, nämlich die Unterscheidung zwischen Zugehörigkeit oder Fremdheit, Gewinn oder Bedrohung, Inklusion oder Exklusion. Aus dieser tief verankerten, überlebensnotwendigen Kategorisierung entsteht die Logik des Unterscheidens. Jede Bedeutung entsteht letztlich ausschließlich durch Unterscheidung. Ist etwas angstmachend oder Lustbetonend? Ist es einbeziehbar in das eigene System der Identitätssicherung, d.h. eher freundschaftlich oder ist es potenziell gefährlich, die angemessene Reaktion also eher Angreifen oder Ausweichen?

Diese beiden Prinzipien (ut pictura poesis und lingua spiritualis) machen den Charakter der Arbeit von Burlon aus, die nicht als Übung in der malerischen Praxis zu bewerten ist, sondern immer die oben genannte Doppelebene einbezieht, die aus der Geschichte der Malerei bekannt ist. Die Motive entfernen sich zwar von dem Zusammenhang, aus dem sie stammen (anatomisch, floral etc.), aber so, dass es dem Betrachter gelingt, Verknüpfungen z.B. im Freudschen Sinne mit Sexualsymboliken oder mythologischen Figuren etc. herzustellen. Insofern ist ein wichtiges Kriterium für Qualität gegeben, indem die Anschlussfähigkeit gewährleistet und die Fähigkeit zur Verknüpfung erhöht wird.

Bei Burlons Arbeiten spielt weniger die Art der Darstellung (geometrisch, anatomisch, organisch-figürlich) die entscheidende Rolle, sondern die Ebene, auf der die Bedeutungen hergestellt werden durch Übertragung, durch Transformation, durch ineinander Überführen im Sinne der erzählerischen Darstellung. Abgeleitet von Organismen, die wir aus der Anschauung kennen, wie auch solchen, die wir nicht aus der Anschauung kennen, z.B. die wir nur unter dem Mikroskop oder beim Aufschneiden eines Körpers sehen könnten, sind die Darstellungsmittel wichtig, und zwar im Hinblick auf ihre Eignung, die Unterscheidung als bedeutungsstiftend herauszuheben.

Prof. Dr. Bazon Brock
Emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal, Künstler und Kunsttheoretiker