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In diesem Raum befindet sich ein Kunstwerk. Sehen Sie es?
Wie funktioniert Kunst in Zeiten, in denen man Kunst nicht mehr erkennen kann? Zwei der wichtigsten Kulturtheoretiker, Bazon Brock und Lambert Wiesing, diskutieren über die drohende Zerstörung der Kunst durch ihre Käufer
Beim Philosophie-Festival PhilCologne in Köln trafen sich zwei der wichtigsten Kunsttheoretiker Deutschlands, Bazon Brock und Lambert Wiesing, um über ein zentrales Thema des Kulturbetriebs zu diskutieren: „Die Zerstörung der Kunst durch ihre Käufer“. Das Gespräch moderierte der Journalist Stefan Koldehoff, FOCUS bringt es hier in gekürzter Form.
Herr Brock, wenn wir uns jetzt die Kataloge der großen Kunstauktionen dieses Frühjahrs gemeinsam anschauen würden, könnten Sie dann am Ende sagen, was aus diesem Angebot gute Kunst und was schlechte Kunst ist?
Brock: Bei den großen Versteigerern ist das immer gut sortiert und ausgewählt. Zum größten Teil ist das alles erstrangig.
Herr Wiesing, was meinen Sie?
Wiesing: Ich glaube, wir sollten nicht nach guter Kunst oder schlechter Kunst fragen, sondern danach, ob die Bilder, die da zum Verkauf stehen, eine besondere ästhetische Qualität haben, etwa einen tollen Pinselstrich oder ein eindrucksvolles, geistreiches Motiv oder sonstige sinnliche, faszinierende Eigenschaften. Der Streit über gute Kunst oder schlechte Kunst führt schnell zu sehr abstrakten Fragen, die in der Regel nichts bringen. Aber über Kriterien, ob ein Bild eine hohe Qualität besitzt oder nicht, kann man sich meist einigen oder zumindest sinnvoll diskutieren.
Welche Kriterien meinen Sie?
Wiesing: Wir befinden uns heute in einer ganz eigenartigen Situation. Es gibt für die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Kunst keine Kriterien mehr, weil man gar nicht weiß, was Kunst überhaupt ist. Aber wir können nach wie vor darüber reden, ob eine Skulptur oder ein Gemälde differenziert und inspiriert gemacht ist. Genau das ist doch die normale Situation eines Kunstbetrachters: Er stellt sich vor ein Bild und sagt: „Das Bild ist geistreich und großartig gemacht, ich kann’s mir stundenlang angucken, ich finde es schön.“ In dieser Situation ist es dann auch einfach nur gleichgültig, ob ein Kritiker oder sonst wer sagt: „Das ist aber gar kein Kunstwerk.“ Umgekehrt sollte das Gleiche gelten: Wenn Sie ein Bild sehen und Sie finden es stinklangweilig, primitiv und kitschig, und dann kommt ein Kunsttheoretiker und sagt: „Das ist ein Meisterwerk der Kunst!“ – sollten Sie dann Ihr Urteil aufgeben und sich das angebliche Kunstwerk länger anschauen? Vermutlich nicht. Kurz gesagt: Die Diskussion, ob etwas Kunst ist oder nicht, spielt bei der Diskussion über ästhetische Qualität, die mich als Betrachter anspricht, keine große Rolle.
Brock: Herr Wiesing macht uns gerade klar, dass die Gattungen Malerei, Skulptur, Grafik etc. aus alten Handwerkstraditionen abgeleitet sind. Der Begriff der Kunst dagegen entsteht erst um 1400. Vorher hatten wir keinen Begriff für den Künstler oder Wissenschaftler. Man hatte Jahrtausende vorher erstrangige Meisterwerke der Malerei oder der Skulptur geschaffen. Aber sie wurden eben nicht als Kunst betrachtet. Die chinesische oder koreanische Handwerkstradition war der europäischen lange Zeit überlegen, mit Ausnahme der gotischen Kathedralbauten. Dennoch wurden diese Länder von Europa abgehängt, und Europa übernahm für 600 Jahre die Führung in der Welt der Künste und der Wissenschaft. Warum? Um 1400, also in der Renaissance, gewinnen plötzlich einzelne Individuen eine Autorität gegenüber den Ständen, der Kirche oder den politischen Herrschern. Das heißt, gegen die Kollektive treten Einzelne an, die sagen: „Auch das, was ein Individuum zu sagen hat, ist von Bedeutung, obwohl hinter ihm keine Armee, kein Papst, kein Vaterland steht.“ Mit diesem Prinzip ist Europa so mächtig geworden, wie es heute ist. Und danach müssen wir auch in der Kunst fragen: ob die Traditionen der bloß handwerklichen Orientierung fortgeführt werden oder ob das, was spezifisch war für Europa, nämlich die Autorität durch Autorschaft, fortgeführt wird. Dieses Prinzip hat nach 1400 die unglaubliche Entwicklungsdynamik des Westens gegenüber viel älteren Kulturen wie China möglich gemacht und zu dem Resultat geführt, dass Europa 600 Jahre in allen Hinsichten der Wissenschaft und der Künste führend geworden ist.
Herr Wiesing, wäre diese Entwicklungsdynamik der Künste möglich gewesen, ohne dass sich gleichzeitig ein privates Sammlertum, losgelöst von Kirchen und Höfen, entwickelt hätte?
Wiesing: Nein, diese Sammlerkultur des Bürgertums brauchte es für die Entstehung des modernen Kunstbegriffs unbedingt. Das Bürgertum war maßgeblich beteiligt an der Gründung von Museen. Das Kunstverständnis des Bildungsbürgertums ist stark geprägt worden von dem kantischen Gedanken, dass ich für die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks kein Geld brauche, dass ich das Kunstwerk nicht besitzen muss, um es zu verstehen und ästhetisch erleben zu können. Das Dumme ist nur, dass die Künstler da heute nicht mehr mitmachen und mit dieser Regel brechen. Künstler wenden sich gern gegen bildungsbürgerliche Vorstellungen von Kunst – und heute auch gegen deren Vorstellung von der richtigen Kunstrezeption. Im Moment wird, so glaube ich, die Autorität durch Autorenschaft abgelöst von Autorität durch Käuferschaft. Nicht mehr die Kunsttheorie oder der Kunstkritiker entscheidet, was Kunst ist, sondern der Käufer. Das liegt auch daran, dass es heute keine Kriterien für die Eigenschaften von Kunstobjekten gibt. Etwas ist ein Kunstwerk, so wie etwas ein Geschenk ist. Ein Beispiel: Wenn ich jetzt zu Ihnen sagte, im Nachbarraum steht ein Kunstwerk oder ein Geschenk, holen Sie es doch bitte, wie sollten Sie das machen? Woran sollen Sie es erkennen? Beides sind Dinge durch Deklaration. Der Kunstbegriff ist daher für deskriptive Zwecke sinnlos geworden, weil der Kunstcharakter einer Sache an keinerlei Eigenschaften mehr gebunden ist. In dieser Situation wird – so argumentiert zum Beispiel der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich – der Akt des Kaufs zu einer eigenwilligen, nicht bürgerlichen Form der ästhetischen Erfahrung.
Brock: Als junger Mann habe ich einmal in einer Galerie mitgearbeitet, um zu verstehen, wie man dort mit Kunst umgeht. Der Galerist sagte, wenn ein Sammler hereinkommt, verwickeln Sie ihn bitte in ein Gespräch darüber, was er hier sieht. Das habe ich getan, habe mich angestrengt und mögliche Käufer nach Kräften provoziert. „Haben Sie“, fragte ich sie, „die Bilder auch verstanden? Kennen Sie die Theorien des Künstlers?“ Woraufhin der Käufer sagte: „Hören Sie auf, ich kaufe das.“ Damit war der Fall für ihn erledigt. Wer kauft, braucht keine Argumente. Der ganze Kunstmarkt hat sich über diesen Mechanismus entwickelt. Die Bürger waren die Zumutungen leid, ständig sich rechtfertigen zu müssen angesichts der herausfordernden Arbeit der Kunst. Sie wollten diese ewigen Plagegeister los sein und sagten: „Hören Sie auf zu reden,
ich kaufe das.“ Denn wer kauft, insinuiert bei den anderen, er habe Argumente, warum er kauft.
Ist dieser Versuch, sich durch schnellen Kauf zu befreien aus einer Argumentationsnot, nicht ganz schön kostspielig geworden durch die rasante Preisentwicklung
auf dem Kunstmarkt?
Brock: Nein. Glaube ich nicht. Für diese Käufer spielt es gar keine Rolle, ob sie mal eben fünf oder sechs Millionen für dieses oder jenes ausgeben. Das ist für sie, wie wenn wir zehn Euro ausgeben für einen Blumenstrauß. Auch an das Argument, dass teure Kunst den sozialen Status repräsentieren und den Neid der Nachbarn erregen soll, glaube ich nicht mehr. Ich glaube, es ist wirklich nichts anderes als die Lust an der Verfügung über die Macht, etwas in seinen Besitz bringen zu können, und zwar ohne jede Bedenken, ohne Nachfragen, ohne irgendwelche Auseinandersetzungen.
Wiesing: Wir sollten den Gedanken an den Prestige-, den Protzfaktor beim Kauf von diesen gigantisch teuren Kunstwerken nicht ausschließen. Bei dem einen ist es der Versuch, mit seinem Reichtum anzugeben, bei dem anderen ist es der Kaufakt, der ihm besondere, vielleicht auch ästhetische Erlebnisse verschafft. Aber wichtig ist: In beiden Fällen ist unwichtig, wie der gekaufte Gegenstand aussieht, um was es sich dabei als sichtbares Ding handelt. Denn es gibt kein Kriterium mehr, durch das sich ein Kunstwerk heute von anderen beliebigen Gegenständen unterscheiden ließe. Fragte man einen solchen Käufer: „Warum hast du denn für so einen banalen Gegenstand 1,6 Millionen Euro ausgegeben?“, würde er in der Antwort mit Sicherheit das Wort „Kunst“ verwenden. Kaufte aber einer ein Gemälde von, sagen wir, Hugo Pratt oder David Hockney, könnte er eine Antwort geben, ohne diesen Begriff zu verwenden. Wir müssen lernen, bei der Beschreibung von Kunst, insbesondere ihres Wertes, auf den Begriff Kunst zu verzichten, um so besser festzustellen, was ästhetisch interessante Dinge sind. Wenn man auf den Kunstbegriff verzichtet, verliert man im Umgang mit ästhetischen Dingen gar nichts – im Gegenteil: Man gewinnt Unabhängigkeit im Urteil über die Sache selbst.
Brock: Jedes Jahr werden rund 480 000 Absolventen von Kunstakademien in die Welt entlassen. Was veranlasst diese jungen Leute, sich auf das riskante Leben eines Künstlers einzulassen? „Ich will etwas mit Kunst machen“, ist die übliche Antwort. Und dann gehen sie auf eine Kunsthochschule. Aber die Hochschulen haben vergessen, was ihre eigentliche Aufgabe ist, nämlich ihre Studenten mit der Aussage zu konfrontieren: „Wenn du dich darauf einlässt, musst du eine entfaltete Persönlichkeit sein, musst du in der Lage sein, deine Individualität auszubilden.“ Wie macht man das? Nicht allein durch den Erwerb von handwerklich-technischen Fähigkeiten. Für einen Autor gilt nur die Autorität anderer Autoren. Sonst nichts. Nicht die Autorität des Marktes. Nicht die Autorität des Papstes oder eines Präsidenten.
Wo kann diese Fähigkeit denn entwickelt werden?
Brock: Die wichtigste Aufgabe solcher Hochschulen ist, den jungen Leuten nach drei, vier Jahren klarzumachen, dass sie nicht geeignet sind für die Arbeit als Künstler. Die Kunsthochschulen sollten uns von den 480 000 Hochschulabgängern pro Jahr 400 000 vom Halse halten. Die restlichen 80 000 hätten vielleicht eine Chance, sich als Autoren zu definieren. Der Ausschluss der Studenten aus der Hochschule dürfte aber nicht als Scheitern betrachtet werden. In der Wissenschaft gilt es als großer Erfolg, wenn ein Forscher seine Hypothese schließlich widerlegen kann. Das gilt als Wissenszuwachs. Genauso ist es ein Wissenszuwachs, wenn ein Student begreift, dass er für das Studium, das er gewählt hat, nicht geeignet ist. Er hat etwas gelernt. Deshalb sollte jeder, der aus der Hochschule ausscheidet mit der Gewissheit, als Künstler nicht geeignet zu sein, einen Doktortitel bekommen, denn er hat etwas verstanden.
Herr Wiesing, in einem Ihrer Bücher nennen Sie die Kunst eine besondere Form des Luxus. Die Kunst ist, schreiben Sie, eine besondere Art von Opposition gegen Zweckrationalität.
Wiesing: Luxusgüter gehen über die reine Zweckmäßigkeit hinaus. Luxus ist aufwendig, unvernünftig, verschwenderisch. Und das Besondere am Luxus ist, dass der Besitzer das weiß. Man muss dem Besitzer eines übertrieben aufwendigen Autos nicht sagen, dass er seine Kinder auch mit einem einfachen Auto zum Kindergarten fahren kann. Das weiß er selbst. Beim Kunstbesitz und Kunstsammeln haben wir ein ähnliches Moment der bewussten Verweigerung des Vernünftigen und Zweckmäßigen – dies allerdings mit Dingen, die im Gegensatz zu Luxusgütern keinen Zweck erfüllen: Kunst ist in gewisser Hinsicht zweckloser Luxus.
Brock: Das stimmt heute nicht mehr. Für uns ist Luxus eine rational ökonomisch begründete Handlungsweise. Wenn ich mir bei der Wohnungseinrichtung ein antiquarisch wertvolles Stück anschaffe, dann ist das nach 30 Jahren noch wertvoller als vorher. Luxus kann eine Strategie zur Optimierung sein auch im ökonomischen Sinne. Genauso wie die Kunst.
Wiesing: Ich will nicht „die“ Kunst mit Luxus gleichsetzen, zumal es in meinen Augen gar kein Kriterium für „die“ Kunst mehr gibt. Aber es gibt neuerdings ein unstrittiges Phänomen: Es werden eigenwillige Objekte zu vollkommen irrationalen Preisen gekauft. Weshalb? Eine mögliche Deutung des Phänomens scheint mir zu sein, dass ein Käufer ästhetische Erfahrungen durch Besitztum oder durch den Akt des Kaufens hat. Bei einer bestimmten Art von Kunst – die Wolfgang Ullrich wunderbar treffend Siegerkunst nennt – liegt der ästhetische Gewinn im irrationalen Kaufakt selbst. Machen wir ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie erben ein traditionelles Kunstwerk, ein Gemälde von Rubens zum Beispiel. Dann können Sie als Erbe an diesem alle die ästhetischen Erfahrungen machen, die die Philosophen und Kunsthistoriker der vergangenen Jahrhunderte beschrieben haben. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie erben einen „Balloon Dog“ von Jeff Koons. Sie wissen: Ihr Vater, Ihre Mutter hat den für zig Millionen Dollar gekauft. Und sie merken, dass der „Balloon Dog“ zu der Kunstform gehört, bei der das ästhetische Erlebnis an diesen irrationalen Kaufakt von damals gebunden ist, also an den Moment des Kaufens – nicht an die Sache, die ist banal. Was machen Sie dann mit dem „Balloon Dog“ heute?
Zurück zur Fragestellung unserer Diskussion: „Zerstören die Käufer die Kunst?“
Brock: Der Markt zerstört unsere Fähigkeit, überhaupt noch auf diese Autorität des Einzelnen, auf Künstler und Wissenschaftler einzugehen und anzuerkennen, was es bedeutet, dass ein Einzelner gegen ganze Kollektive, Kulturen und Religionen antreten kann mit seiner Aussage. Diese Wahrnehmungsfähigkeit wird zerstört durch den Markt.
Herr Wiesing, wird die Kunst durch die Käufer zerstört?
Wiesing: Nein, überhaupt nicht. Erst mal sollte viel mehr Kunst gekauft werden. Denn oft wird erst durch den Kauf einem Künstler ermöglicht weiterzuarbeiten. Aber das sollte uns nicht übersehen lassen, dass neuerdings außerdem eine andere Form von Kunst entstanden ist, die einzig deshalb bemerkenswert ist, weil sie jemand zu überteuerten Preisen kauft. Insofern würde ich auf keinen Fall sagen, dass der Käufer die Kunst zerstört. Aber der Vormarsch dieser Siegerkunst bedeutet nicht, dass es nicht auch noch weiterhin Künstler gibt, die fantastische Werke produzieren.
Brock: Die werden aber leider auf der Documenta nicht gezeigt.
Wiesing: Da bin ich ganz deiner Meinung.
Eine Aufzeichnung der Diskussion wird am 15. Oktober auf WDR 5 im Radio gesendet.