Magazin DIE DAME

DIE DAME, Bild: 1/2017.
DIE DAME, Bild: 1/2017.

Neuinszenierung des stilprägenden Klassikers aus den 20er Jahren / Erscheint als Magazin sowie Sammler-Ausgabe in Buchform / Herausgeber ist Christian Boros / Mit Beiträgen u.a. von Maxim Biller, Helene Hegemann, Antonia Baum, Mara Delius, Martin Eder, Bazon Brock, Margit J. Mayer, Ronja von Rönne, Lydia und Andreas Rosenfelder, Thomas Ruff / 292 S.

DIE DAME erschien zwischen 1912 und 1937 im liberalen Ullstein-Verlag. Nach der Enteignung Ullsteins durch die Nationalsozialisten wurde DIE DAME bis 1943 vom „Deutschen Verlag“ herausgegeben, ehe sie nach Kriegsende zunächst in Vergessenheit geriet. Insbesondere in den 1920er Jahren war DIE DAME eine der herausragenden freigeistigen Publikationen mit Beiträgen weltbekannter Autoren und Künstler wie Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz, Bertolt Brecht, George Grosz oder Tamara de Lempicka.

Auf 292 Seiten erfährt DIE DAME eine Neuinszenierung unter Mitwirkung namhafter Autoren, Fotografen und Layouter: Fotokünstler Thomas Ruff legt die Vorderseiten historischer Porträts aus dem alten Hollywood und die mit Notizen versehenen Rückseiten dieser Aufnahmen, mit denen sich Schauspieler für Filmrollen bewarben, digital übereinander und entwickelte daraus Titelmotiv und Bildstrecke im Magazin. Der Schriftsteller Maxim Biller veröffentlicht die Kurzgeschichte „Das falsche Spiel der Margarete Bloch“, Martin Eder – bekannt für seine Frauenaquarelle – malt für DIE DAME eine Bildstrecke mit Männermotiven. Margit J. Mayer, Stilexpertin und ehemalige Chefredakteurin von "Harper's Bazaar", spricht mit Ästhetik-Professor Bazon Brock über die Dame als Sozialcharakter. Andreas Rosenfelder, Leiter Feuilleton bei WeltN24, schreibt gemeinsam mit seiner Frau, der Journalistin Lydia Rosenfelder, eine „Neue Deutsche Traumnovelle“ – in Anlehnung an die berühmte Novelle von Arthur Schnitzler, die ab 1925 kapitelweise in DIE DAME erschien. Außerdem im Magazin: WELT-Autorin Ronja von Rönne über das Altern als Paar, ein Essay von Mara Delius, Leiterin der Literarischen Welt, über das Auto als Sehnsuchtsort. Helene Hegemann, Schriftstellerin und Filmemacherin, über weibliche Formen der Selbstbestimmtheit sowie Gedanken zum Thema Stillen von Schriftstellerin und Autorin Antonia Baum. Dazu kommen Modestrecken fotografiert von Philip Gay, Bela Borsodi, Ronald Dick und Antje Peters.

Erschienen
01.03.2017

Herausgeber
Boros, Christian

Verlag
Axel Springer

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
1/2017

Seite 114 im Original

Die Dame als Sozialcharakter

Margit J. Mayer spricht mit Bazon Brock

MM Herr Professor Brock, ich schlage vor, dass wir uns dem Thema ganz leichtfüßig nähern. Bevor wir also in die tieferen Aspekte des Bio-Phänomens »Dame« eintauchen: War Marlene Dietrich eine Dame?

BB Sie hatte sehr wohl die Attitüde einer Dame, nämlich diese ungeheure Distanziertheit. Selbst wenn sie als Pin-up-Girl im Dienste der Militärpropaganda unterwegs war, blieb die Dietrich unnahbar. Genau wie ihr schwedisches Pendant, Greta Garbo. Die in Gestalt der »Kameliendame« ja die Seelen-Großdarstellerin überhaupt wurde. Das Kernland für unser Thema ist aber sicher England, nicht nur wegen der Anrede Lady oder Dame als weiblichem Rittertitel. Und das Schöne ist, dass die jetzige Regierungschefin den klassischen Typus der Dame exakt repräsentiert.

MM Um Karl Lagerfeld zu zitieren: tolle Beine.

BB Als man Theresa May auf ihre Beine ansprach, sagte sie: »Nun, ich zeige sie, weil ich sie habe.« Unsere Frau Kanzlerin macht ja immer Hosen drüber.

MM Bei Frau Merkel ist dieser offensive Umgang mit körperlichen Attributen nicht möglich.

BB Da geht es nicht, korrekt. Also: Theresa May ist das aktuelle Muster oder Modell einer Dame. Und wir stellen fest: Aha, zum ersten Mal seit Langem ist eine lupenreine Dame Führerin einer Regierungsmannschaft, also eines Landes. Das kam ja doch ziemlich überraschend. Margaret Thatcher war ja eher der Typ »ehrgeizige Sekretärin des Chefs« oder sowas. Oft völlig unsouverän und deshalb so aggressiv in ihrem Auftreten nach außen. Generell müsste es in jeder deutschen Stadt ab 60.000 Bewohnern mehrere Damen geben – Frauen, die gesellschaftlich und überhaupt Autoritäten sind. In Wuppertal zum Beispiel gab es eine Dame, die hieß Stella Baum. Sie war eine Mäzenin, Sammlerin, Senatorin der Universität und die Frau eines Textilmenschen (Gustav Adolf Baum, 1965 bis 1981 Direktor der Igedo, d. Red.). Zierlich, fast durchscheinend, engelhaft. Aber ungeheuer taff und fähig, Dinge auf den Weg zu bringen. Wenn sie gesagt hat: »Wir machen das jetzt so und so, Herr X«, dann hat sie dafür gesorgt, dass das auch funktionierte. Und die Männer standen da und staunten.

MM Verzeihung, aber wie passt das jetzt zu dem, was Sie bei unserem Vorgespräch erklärt haben: dass es, aus den verschiedensten Gründen, eigentlich keine Damen mehr gibt?

BB Ganz hervorragend. Denn: Es gibt eine dringende Notwendigkeit, im anthropologischen Bereich, also in der Menschenkunde, etwas nachzuholen, was in Geologie, Archäologie und Kunstgeschichte längst betrieben wird. Dort geht es in den 1750er Jahren damit los, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Da werden die Griechen, Römer und Hethiter im Antikenmuseum präsent gehalten; genauso wie die Figuren auf Gemälden von Tizian oder Rubens in den Sammlungen der Herrscher, aus denen dann unsere Kunstmuseen entstanden sind. Zugespitzt kann man sagen: Das Vergangene ist in unserer Kultur das Einzige, was nicht vergeht.

MM So etwas Vergangen-Unvergängliches ist also die Dame.

BB Genau. Im Vergangenen liegt eine Kraft, die es uns ermöglicht, den in die Zukunft gerichteten Aufgaben der Gegenwart besser gewachsen zu sein. Denn wie sich gezeigt hat, funktioniert am Ende nur diese Form der affektiven Appellstruktur. Ich meine, die Leute, die mit den Museen angefangen haben, waren ja keine Idioten. Sie haben erkannt: Wer keine Vergangenheit hat, hat nichts – zumindest nichts von Bestand. Und wir tun gut daran, sie präsent zu halten, weil sie uns beim Bewältigen der Zukunft hilft. La presenza del passato. Deswegen sind Museen heute die wahren Kathedralen: Dort wird das präsentiert, was nicht vergeht. Und es ist höchste Zeit, so etwas auch in der Anthropologie einzuführen, für den Menschen. Also neue Ankerfiguren, die zeigen: Es ist nicht eine Frage der objektiven Verhältnisse oder der Schicksalsergebenheit, sondern es geht um unseren sozialen Gestaltungswillen und unseren Willen zur Selbstbehauptung. Nicht Autorität durch den Papst, nicht Autorität durch den Herrn, durch die Zustimmung des Pöbels, durch den Markt oder was auch immer. Sondern Autorität durch Autorschaft seiner selbst. Darum geht es beim Typus »Dame«. Der um das Jahr 1000, 1100 beginnt, mit den Madonnendarstellungen, die damals im Tympanon der Kirchen aufkommen ... Können Sie mir überhaupt folgen?

MM Keine Sorge, ich habe mal Philosophie und Kunstgeschichte studiert.

BB Aha, na gut. Also: Damals begannen die Bildhauer, über den Kirchentüren nicht nur Christus oder den Gottvater darzustellen, sondern auch Maria. Oft mit Jesuskind, aber auch allein und mit großem ikonografischem Pomp inszeniert, etwa als Mariä Himmelfahrt. Damals wird aus dem Marienkult ein neues Frauenbild abgeleitet. Das dann, historisch parallel, im säkularen Minnekult die Dame hervorbringt. Also eine Frau, deren suggestive Attraktivität Bewunderung erzeugt, ohne dass je die Erfüllung eines Begehrens ihr gegenüber erreicht werden kann. Die Attraktion der höfischen Minne bestand ja gerade darin, dass die Dame prinzipiell unerreichbar war. Dass jegliche Aneignung des Mannes, durch Grabschen oder auch mehr, von vornherein ausgeschlossen war.

MM Wie bei der Madonna.

BB Die Madonna können Sie nur über das Gebet erreichen. Genauso kann die höfische Dame des Mittelalters von den Herren am Hofe nur dadurch geehrt werden, dass man sie aus der Distanz andichtet. Diese Parallelschaltung von Religion – also Madonnenkult – und Philosophie – also Minnekult der Troubadoure – war eine ungeheuerliche Idee. Die Unerfüllbarkeit des Wunsches als weitere Steigerung des Wunsches: fantastischer Gedanke. Daraus entsteht in Südfrankreich und Nordspanien der Ritterroman, der Roman überhaupt. Und damit werden Frauen zu den entscheidenden Regulatoren der männlichen Anbindung an die soziale Welt. Nicht als Mütter, sondern in Form der Dame als Attraktionsprovokateurin. Denn sie zwingt zur ständigen Kontrolle der Reaktion auf die Reize, die sie als Frau auslöst. Durch Distanziertheit.

MM Könnte es sein, dass dies ein entscheidender Unterschied ist zwischen unserer Kultur und der von islamischen Ländern?

BB Ja, im heutigen Islam gibt es keine derartige Kontrolle durch die Frau. Sie wird im Gegenteil erniedrigt, zur Befehlsempfängerin männlicher Dummheit. Männer kennen nur Unterwerfung oder Dominanz, also entweder Herrschen oder Kriechen. Alles andere hat man den Frauen zu verdanken.

MM Was unterscheidet die Dame von einer Königin?

BB Die Königin ist nur durch Genealogie legitimiert. Sie gehört zu einer Dynastie oder wird ihr zugeführt, und spielt dann diese Rolle.

MM Das heißt, die Tudor-Regentin Elizabeth I. war keine Dame?

BB Doch, die schon. Denn Elizabeth hatte nicht von vornherein die Möglichkeit, sich als Nachfolgerin ihres Vaters zu etablieren. Vielmehr hat sie aus eigener Kraft einen völlig neuen Typus der weiblichen Führungsperson geschaffen: in der Einheit von religiöser und weltlicher Autorität. Warum konnte sie das? Ihr Vater Heinrich VIII. hatte 1534 die anglikanische Kirche gegründet. Er ist aus der katholischen ausgestiegen, damit er die nächste seiner vielen Frauen heiraten konnte. Und seine Tochter vereinigt zum ersten Mal in der Geschichte die weltliche Rolle der Hofdame, also der angebeteten Minnefrau, mit dem Marienkult. Weil sie gleichzeitig der Chef dieser neuen Religion war.

MM Die perfekte Dame.

BB Elizabeth I. ist die Dame schlechthin. Sie ist auch die Dame von Shakespeare, von Sir Walter Raleigh, von allen Künstlern und Eroberern ihrer Epoche. Das absolute Vor-Bild. Auch im Hinblick auf die Konflikte, die sich daraus ergaben. Denn es gab ja eine zweite Frau im Spiel, nämlich Maria Stuart. Die es aber in ihrer Katholizität nicht fertigbrachte, zugleich die weltliche Schiene aufzunehmen. Maria Stuart bleibt immer jemand, der kraft seiner Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und zur katholischen Stuart-Partei Autorität beansprucht.

MM Maria Stuarts Fehler ist also: Sie geht nicht weit genug.

BB Sie hat ihre eigene Erzählung nicht so weit entwickelt, dass man ihre Aktionen nicht mehr nur ihrer Rolle zuschreibt, sondern ihr selbst als Individuum.

MM Machen wir einen entschlossenen Sprung nach vorn: Wer waren die Damen des 19. und 20. Jahrhunderts?

BB Um 1900 sind Frauen wie Virginia Woolf oder Edith Sitwell der Inbegriff der Dame. Wobei die Sitwell noch eine dritte Komponente einbringt: die Tradition der English Eccentrics. Das waren völlig autarke Angehörige des Hochadels, die durch ihre Ländereien Geld hatten und dann die berühmte Grand Tour mitmachten, also gebildet wurden durch die Aneignung der europäischen Geschichte und des gesamten Humanismus. Unter Führung von Alexander Pope fingen sie ab 1715 an, so etwas wie das »Goldene Zeitalter« der Einheit von politischem, künstlerischem und sozialem Wirken auszurufen. Nach dem Vorbild des römischen Kaisers Augustus. Was natürlich eine Fiktion war, aber egal: Damals entsteht der Gedanke einer Repräsentation in Menschengestalt nicht nur auf der national-dynastischen Ebene, sondern als »Vertretung der Menschheit« insgesamt. Das heißt, sie oder er wird Träger einer bestimmten Idee von der Entfaltung des Menschen.

MM Wie in der Renaissance.

BB Wie in der Renaissance. Rein theoretisch gedacht. In diesem Führungsanspruch steckte – und das war die eigentliche Tradition der Eccentrics – die Verpflichtung darauf, dass eine solche Person, Mann oder Frau, tatsächlich ein Modell repräsentiert für die Ausbildung des idealen Menschen.

MM Hatte Edith Sitwell nicht eine zu große Nase dafür?

BB Aber was denn – die Physiognomie spielt dabei keine Rolle. Das war schon lange aufgegeben, bereits im 15. Jahrhundert war man darüber hinweg. Schauen Sie sich nur die Porträts der italienischen Renaissance-Fürsten an, mit Nasenwarze und allem.

MM Exzentrik, also auf die Spitze getriebene Individualität, ist demnach nicht ein Zeichen von Dekadenz ...

BB ... sondern eine Potenz. Das genaue Gegenteil von Dekadenz. Ich meine, man schaue sich nur einen Typen an wie Fürst Pückler, den hervorragenden Repräsentanten der Eccentrics in Deutschland. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Personen, die nicht so bekannt sind wie Pückler und die später eine große Rolle spielen. Auch Frauen. Nehmen Sie nur Malwida von Meysenbug, die Nietzsches Überlegungen an die damalige Universitätswissenschaft vermittelt hat. Solche Damen sind im 19. Jahrhundert entscheidend für die Entfaltung von gesellschaftlicher Dynamik. Sie verkehren in Künstlerkreisen, ohne selbst Profikünstler zu sein, sie reisen viel und verkörpern das Prinzip »individuelle Autonomie«. Also Offenheit und Unabhängigkeit, auch gegenüber der eigenen Kultur. Eine bis ins Künstlerische gehende Ausprägung der Persönlichkeit. Die so wirkt, dass alle anderen versuchen, sich auf die gleiche Weise als Individuen zu entfalten. Man kann sagen: Eine Dame ist der Typ der Frau, die das gesamte Potenzial, das in Frauen steckt – psychisch, physisch, sozial – voll ausgebildet hat. Sie kann nicht mehr instrumentalisiert werden, denn sie selber gibt den Maßstab vor. Also: Die Dame verkörpert die Einheit von Person und Projekt. Lebensentwurf und Biografie werden bei ihr eins mit der gesellschaftlichen Rolle, und vor allem mit der Mission.

MM Klingt nach einem superharten Job.

BB Na, ein »Job« ist das schon gar nicht! Bei der Dame spricht man von Beruf. Wobei Sie recht haben: Viele der historischen Damen empfanden ihre Aufgabe als extreme Pflicht. Wenn sie ein Abendessen gaben, mussten sie ja durch Blickkontakt, durch Haltung und Verhalten ständig regulierend auf diese Horde von Flaschen einwirken, die da als Gäste kamen.

MM Und wer ist der größte Feind der Dame? Anders gefragt: Gibt es in Ihrer Sozialsystematik auch einen Typus, der der Dame dringend an den Kragen will?

BB Der größte Feind der Dame ist natürlich der Funktions-Macho. Jemand, der sich aus der Funktionsrolle heraus gegen solche Leute wendet. Sie vor Gericht zerrt, Skandale produziert, Gerüchte streut. Weil diese Frauen ja allen Männern weit überlegen sind. Allein schon aus dem Grund, dass Frauen im Unterschied zu ihnen die göttergleiche Fähigkeit besitzen, Leben zu geben, also ein Kind zu gebären. Die Männer hinken immer hinterher. Natürlich sind sie deswegen neidisch, werden bockig und versuchen alles Mögliche, um diese Frauen zu sabotieren. Erinnern Sie sich an den Herrn Trump, wie er während des TV-Duells immer hinter Hillary Clinton hin und her lief? Das war die typische Szene. Man wartete darauf, dass er sie gleich eigenhändig von hinten erwürgt. Oder dass er tut, womit er sich ja anderweitig gebrüstet hat: Er muss ihr nur in den Schritt fassen und schon wird sie weich ... Dieses TV-Duell war dramatisch, bis an die Grenze des Erträglichen. Man wollte als Zuschauer hinspringen und rufen: Halten Sie diesen Idioten auf!

MM Michelle Obama hätte sich umgedreht und Kontra gegeben.

BB Noch besser wäre Oprah Winfrey gewesen. Die übrigens sehr weit gekommen ist in allem, was eine Dame ausmacht. Gut, also, wir stellen fest: Der größte Feind der Dame sind schwache Männer, die diese Konkurrenz nicht ertragen können.

MM Und wer ist ihr bester Freund?

BB Man würde eigentlich meinen: Gott selbst. Weil die Dame ein menschliches Ideal darstellt. Aber fragen wir mal so: Wer ist der beste Adressat für die Idee »Dame«? Antwort: Jeder, der versucht, das alte europäische Zentralmotiv – also Individualität – in den Mittelpunkt zu stellen. Also alle Menschen, die nicht kraft ihres Amtes, sondern kraft ihrer Persönlichkeit und Bildung einen Anspruch auf Geltung erheben. Das muss heute gestärkt werden. Denn wenn wir diese Menschen nicht mehr hervorbringen, ist mit einer Gesellschaft nicht mehr viel anzufangen. Dann wird das eine Herde, die hinter irgendwelchen Führern hertrottet und von einem Gatter ins nächste geschoben wird. Bei den Männern sind Verschiebungen in der sozialen Dynamik viel einfacher zu korrigieren. Bei den Frauen hingegen riskiert man alles, das gesamte gesellschaftliche Verbindungssystem. The glue, wie der Brite sagt. Den sozialen Kitt.

MM Was wären die anderen Frauentypen in dem idealen Reigen, zu dem die Dame gehört?

BB Ein anderer wichtiger Typus ist die italienische mamma, die russische Matka, die jüdische Mamme. Also die Übermutter. Und, als ein Gegenmodell, die Hure. Oder sagen wir lieber: die Venus-Beauftragte.

MM Vielleicht noch die Haushälterin im weitesten Sinn? Also jemand, der den Laden am Laufen hält, wie eine Chefsekretärin?

BB Das ist ein notorisch unterschätzter Typus, die exzellente Garantin der Normalität. Beweglich, fleißig, unermüdlich. Sitzt sechs Stunden am Computer, kocht wie eine Göttin und kann alles managen, was auch immer sie anpackt. Wobei dieser Typus mit dem Wort »Sekretärin« eigentlich unterbestimmt ist. Man müsste noch einen Schritt weitergehen: Es ist eigentlich die vom König gewählte Frau linker Hand, mit großem Einfluss. Wie bei Ludwig XIV. oder Ludwig XV. sind das Frauen, die aus dynastischen Gründen nicht geheiratet werden, die aber das ganze System aufrechterhalten. Die fünfte unserer sozialen Ankerrollen könnte dann »die große Tragödin« sein. Oder »die TV-Kommissarin«, die ja gerade in Deutschland eine spannende Geschichte hat. Denn Frau mit Waffe, das ist ja eine Pornografie. Aber Frau als Polizeikommissarin kann die Waffe benutzen, weil sie als Agentin des Kampfes gegen das Böse in Erscheinung tritt. Im Unterhaltungsfernsehen ist die Kommissarin heute die dominante Figur. Wer hätte das vor 30 Jahren gedacht?

MM Bei Ihrer Typologie fallen mir die antiken Göttinnen ein. Welche davon entspricht denn am ehesten der Dame?

BB Es ist im Wesentlichen, und das ist das Erstaunliche, die Figur der Pallas Athene. Es ist nicht Artemis ...

MM ... zu unreif ...

BB ... und es ist nicht die Göttermutter Hera. Die ist mehr der Mamma-Typ, die immer die Seitensprünge ihres Mannes beklagt. Nein, es ist Pallas Athene. Warum? Weil Athene eben nicht als Trägerin sekundärer Geschlechtsmerkmale auftritt, die sie einsetzt, um sich interessant zu machen. Vielmehr gibt sie die Kraft zum Beenden eines Vorhabens. Auch Frau Thomas Mann, Katia Pringsheim, war eine solche Dame. Die ihn quasi gezwungen hat, Karriere zu machen und viele seiner Figuren inspiriert hat. Sie sorgte dafür, dass dieses Schreiben jeden Tag von 8 Uhr bis 12:30 Uhr gemacht wurde, dann gegessen, dann geschlafen und dann die Post erledigt wurde, dann Spaziergang, dann Abendessen, dann Platten gehört. Athena ist zwar eine Frau, hat aber eine ganz andere Bedeutung, als sie Frauen normalerweise zugeschrieben wird. Nämlich deutlich über sexuelle Attraktivität und Fortpflanzung hinausgehend.

MM Wobei Athene schon Sex hatte. Ich sage nur: Hephaistos.

BB Richtig. Pallas Athene hatte die Beine entblößt, das Ejakulat des Hephaistos fiel auf ihren Schenkel, sie hat das mit ihrem Wolltuch abgewischt und es auf den Boden geworfen. Und daraus entstand der ganze Mythos der Stadt Athen. Deswegen gibt es auf der Akropolis das Erechtheion, auf dessen Grund auch noch ein Ölbaum steht, mit dem Athene sich im Wettstreit gegen Poseidon durchgesetzt hat. Das wurde in der Kunst bis Emil Nolde so dargestellt: Nolde ist jeden Tag mit erigiertem Glied auf den Acker gegangen und hat die Erde begattet.

MM (verdreht die Augen)

BB Gut, also: Pallas Athene ist das mythologische Urbild für das Wirksamwerden einer Frau im Sinne einer Dame. Dabei geht es darum, ein Zentrum zu bilden, aus dem heraus diejenigen, die sich auf diese Frau orientieren, die Kraft gewinnen, etwas fertigzumachen. Eine Mission zu erfüllen, Neuland zu entdecken, ein Kunstwerk zu schaffen. Das viktorianische Zeitalter wurde durch nichts mehr bestimmt als durch diese Tradition: Queen Victoria war da sozusagen die Erfüllerin der Damen-Rolle. Und der Funktion nach ist das von Victoria über Elizabeth Il. bis zur heutigen Premierministerin May durchgängig zu beobachten. Wäre schön, wenn Theresa May sich so entwickeln würde.

MM Und was machen die Männer?

BB Als Mann ist man Delegierter einer Frau, die diese Kraft hat ... oder man ist gar nix. Wobei es natürlich viele gibt, die Delegierte ihrer Mütter bleiben, also von Hera. Und es nicht schaffen, Delegierte von Pallas Athene zu werden.

MM Zum Schluss noch eine Frage aus purer weiblicher Neugier: Wer ist für Sie die wichtigste Dame des 20. Jahrhunderts? Die eingangs erwähnte Garbo, die Queen, Hannah Arendt, eine Wissenschaftlerin oder doch eine Künstlerin?

BB Lassen Sie mich kurz überlegen (nimmt ein Buch und blättert darin). Im letzten Jahrhundert müsste die herausragende Eigenschaft eine gewisse Widerständigkeit sein. Denn der Weg zur Dame geht nur auf diese Art, nicht als Konsumentin, die zugreift ... Es sind Frauen wie die russische Dichterin Anna Achmatowa. Sie wurde von den wunderbarsten Künstlern verehrt und gemalt, Leuten wie Modigliani, und musste viele Jahre hindurch den Terror des Stalin-Regimes ertragen. Achmatowas erster Mann wurde erschossen, ihr Sohn und ihre Freunde kamen ins Lager. Ihr Leben war eine Aneinanderreihung von Tragödien, aber sie schrieb immer weiter. Im 20. Jahrhundert war vielleicht das die höchste Ausprägung der Dame: jene Frauen, die in Lagern und unter den sonstigen Extrembedingungen totalitärer Verfolgungsstaaten den Anspruch aufrechterhielten, den man mit dem schöpferischen Menschsein verbindet. Ja, das sind die wahren Damen.