Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

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Erschienen
29.04.1995

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
29.04.1995

Echt

Wir sind nicht dabei gewesen. Berichtet wird jedenfalls, der israelische Botschafter Primor habe zum Auftakt der jüdischen Woche in Leipzig gesagt, die Menschen haßten das Unbekannte. Kultur könne wesentlich mehr zum Abbau von Haß und Mißtrauen beitragen als Politik und Wirtschaft. Die Leute müßten sich kennenlernen. Nur kultureller Austausch gewährleiste eine echte Zukunft; denn Bekanntes könne man nicht mehr hassen.

Das ungefähr bekennen wir gern alle, aber bloß, um postwendend Politik und Wirtschaft aufzufordern, mehr Geld für die völkerverständigende Kulturarbeit herauszurücken. Nun ja, wer wollte da schon wagen zu widersprechen. Denn das hieße ja, einen frommen Wunsch zu zerstören, oder gar - mit Wolfgang Neuss - jemandem die herzliche Naivität zu rauben, mit der er hofft, Gutes zu tun.

Aber die Begründung der Hoffnung, die Rechtfertigung der Naivität? Bekanntes könne man nicht hassen? Wer sollte miteinander bekannter werden, als es Serben, Kroaten und Bosnier waren, die mindestens über drei Generationen gewaltlos zusammenlebten, sich familiär und kulturell austauschten? Dennoch brach der Haß zwischen ihnen aus.

Ein großer Teil der deutschen Juden war nicht nur integriert, sondern assimiliert in die deutsche Kultur, die sie in vielen Bereichen trugen und weiterentwickelten. Und sie kannten aus engsten Kontakten, aus eigener Erfahrung die Kulturen der Russen, Polen, Franzosen, Engländer. Das hielt sie nicht davon ab, als begeisterte, hochdekorierte Soldaten des Kaisers gegen eben diese, ihnen bestens bekannte Russen, Franzosen und Engländer in den Krieg zu ziehen, um »die deutsche Kultur« zu verteidigen, wie sie meinten.

Bekanntes könne man nicht zerstören wollen? Die Nationalsozialisten glaubten nur allzu genau zu kennen, wer oder was »die Juden« seien; deshalb beschlossen sie deren systematische Ausrottung.

Menschen hassen das Unbekannte? Verehren sie es nicht vielmehr in ihren Kulten, weil man es sich gnädig, wohlgesonnen stimmen möchte, um gerade nicht in Angst vor dem Unbekannten gelahmt zu verharren, wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange?

Wie auch immer - wie auch immer das Gefühl überdrüssiger Bekanntheit in Mutwillen umschlagen mag, nicht erwiderte Verehrung in Haß, Nähe in Bedrängtheit - wie auch Hilfestellung als Bevormundung, Wohltat als Erpressung verstanden wird - die kulturelle Verständigung gehorcht wohl eher der Maxime: »Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein.«
Dagegen hilft nur die angeblich so versöhnungs- und kulturferne Politik der wohlverstandenen Interessen und des Kompromisses zu beiderseitigem Vorteil.

In Fragen der Wahrheit, des Glaubens gibt es keine Kompromisse – Kulturen können nicht alles und jedes und deren Gegenteil gelten lassen, solange sie noch funktionstüchtig sind. Daß jemandem nichts Menschliches fremd ist, heißt nicht, es für sich als geltend anzuerkennen. Leider. Eben deshalb sollten wir uns hüten, politischen und wirtschaftlichen Interessenabgleich zu diskreditieren zugunsten angeblicher völkerverständigender Kraft der kulturellen Bekenntnisse. Denn sonst haben wir nicht nur keine echte Zukunft, sondern gar keine.


Erstdruck in: Frankfurter Rundschau, 28.4.1995