Buch Die Kunst der richtigen Distanz

Architekturkritik im Spiegel des Werkes der Architekten von Gerkan, Marg und Partner

Die Kunst der richtigen Distanz. Architekturkritik im Spiegel des Werkes der Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Bild: Zürich: niggli, 2017.
Die Kunst der richtigen Distanz. Architekturkritik im Spiegel des Werkes der Architekten von Gerkan, Marg und Partner, Bild: Zürich: niggli, 2017.

_ Vorwort von Michael Kuhn, Kommunikationsleiter der Architekten von Gerkan, Marg und Partner
_ Essay von Dirk Meyhöfer über Architekturkritik in Printmedien und Hörfunk ab 1966
_ Zwischenruf von Bazon Brock, warum Kritik sinnvoll ist
_ 50 Architekturkritiken aus 50 Jahren zu Bauten und Projekten von gmp
_ Architekturfotografien von Marcus Bredt als visuelle Architekturkritik

Die Baukultur der letzten Jahrzehnte spiegelt den rasanten Umbau der Industriegesellschaft – die Architektur dieser Zeit befindet sich in der Phase einer Moderne, die von Verwerfungen und Paradigmenwechseln geprägt ist. Die letzten 50 Jahre sind zu einem Schnelldurchgang der Architekturauffassungen und -theorien geworden, mit neuen Schlagwörtern wie Postmodernismus, Dekonstruktivismus oder Parametrismus, um nur einige zu nennen. Die Architekturkritik hatte die verschlungenen Wege der Spätmoderne mitzugehen.

Diese Publikation analysiert umfassend Mechanik und Akteure der deutschsprachigen Architekturkritik des letzten halben Jahrhunderts. Als durchgehendes Beispiel präsentiert sie dabei das Hamburger Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner (gmp). Es hat zunächst in Deutschland wesentliche Absätze der deutschen Architekturgeschichte im ausgehenden 20. Jahrhundert geschrieben, seit der Jahrtausendwende ist die ganze Welt zum Arbeitsfeld geworden.

Erschienen
01.01.2017

Herausgeber
Meyhöfer, Dirk | Kuhn, Michael

Verlag
niggli

Erscheinungsort
Zürich, Schweiz

ISBN
978-3-7212-0949-5

Umfang
280 Seiten, Illustrationen, 30 cm

Einband
Festeinband

Seite 273 im Original

Architektur sei die Metaphysik des Bauens

Seit des seligen Markus Brüderlin legendärer Ausstellung „ArchiSkulptur“ (2004 ff.) ist mit Gründen belegt, warum besonders in Zeiten baulicher Hochkonjunktur das Fehlen von Architektur sogar vom zurückhaltendsten Bürger beklagt wird. Brüderlin demonstrierte, dass Architekten ihren Herzenswunsch, als Künstler zu wirken, sich dadurch zu erfüllen hofften, dass sie mit schier grenzenlosem Ehrgeiz bewohnbare Großraumplastiken und Monumentaldenkmäler auf möglichst freiem Feld platzierten. Und gegen die willkürliche Behübschung des öffentlichen Raums mit Resultaten künstlerischer Individualkraft haben sich ja gerade diejenigen zu verwahren, die im öffentlichen Interesse auf Architektur statt Bauherrenwillkür bestehen müssen.

Die Vorlagen für ihre Wirkungsambitionen entnehmen die Architekten der Kunst der Moderne und den Grabungsfunden der Archäologen. Die Gestaltschemata von Pyramiden und Obelisken, griechisch-römischen Tempelanlagen, protokolumbianischen Zikkuratbauten oder minoischen resp. babylonischen Palästen werden dem Willen zu künstlerischer Wirkung unterworfen, um nicht zu sagen geplündert. Man will endlich statt Kunst am Bau den Bau als Kunstwerk etablieren und den Architekten als Künstler der Feierseligkeit zuführen. Dafür bietet man sogar ideologische Überhöhungen: Synkretismus und Eklektizismus und neuerdings Remix und Recycling heißen die Verfahren der legalen Ausbeutung. Die Verpflichtung auf zuschreibbare Originalität nehmen die Architekten als Wir-auch-Künstler nicht so genau mit der Begründung, es sei etwas völlig anderes, ob man ein bildhauerisches Konzept auf einer Grundfläche von 3 x 4 m und einer Maximalhöhe von unter 4,50 realisiere oder eben als bauliche Himmelsstürmerei – zumal man ja ohne weiteres auch die Synthese, das begehbare Monument, dem Publikum liefere. Allerdings bietet Brüderlins Demonstration, und das begründet ihren Rang, auch die gegenläufige Auffassung. Ihrzufolge ist der Mangel an Architektur nicht dem peinlichen Künstlergetue von Architekten anzulasten. Vielmehr scheinen die heutigen Architekten vergessen zu haben, dass im alten Paragone, dem Wettstreit um die Rangordnung gestalterischen Vermögens der Menschen, die stets an erster Stelle genannte Architektur nicht als Superkunst gemeint war, sondern als eigenständige Disziplin firmierte. Versuchen wir also, diese Trennung von Kunst und Architektur nachzuvollziehen.

Bei den intellektuell aufgeweckteren unter den Baumeistern, die Künstlerarchitekten sein wollen, setzt sich generell das Kriterium für Avantgardismus durch, das da lautet: Was künstlerisch neu zu sein behauptet, erweist sich daran, wie das radikal inhaltslose, leere Neue den Blick auf das Alte, die Traditionen zu verändern vermag. Frank Lloyd Wright plünderte nicht die japanische Bautradition, sondern erzwang deren völlig neue Bewertung, sodass plötzlich im Konzept der Moderne gerade auch das auffällig wurde, was nicht rein entstehungszeitlich zu ihr gehört. Auch die Gestaltungsintentionen von Adolf Loos erwiesen sich als tatsächlich avantgardistisch, weil sie das Konzept der nackten weißen Wand bereits bei Palladio und Brunelleschi wahrzunehmen nötigten.

Venturis Empfehlung, von Las Vegas zu lernen, das heißt, die Entertainment-Kulissen des modernen Westens als Architektur des Imaginären zu vergegenständlichen (das Imaginäre also gegen seinen Sinn in Dienst zu nehmen), eröffnete eine überraschend produktive neue Auffassung von der „sprechenden Architektur“ im antiken Rom. An der Aurelianischen Mauer erlebt man vor dem Grab des Großbäckers Eurysacer auch heute noch das Spannungsverhältnis zwischen dem Imaginären und dem Realen. Die Grabanlage ist als Backofen konzipiert, in den der Leichnam des Bäckers so eingeschoben wurde, wie er seine Teigbatzen zur Transformation des rohen Getreides in den Lebensenergie stiftenden Brotlaib all die Jahre eingeführt hatte.

Aus derartigen Beispielen kann man ein grundsätzliches Verständnis von Architektur begründen: Sie hat die Pflicht, das bloß gedanklich oder in der Imagination entwickelbare Bild einer Welt ins Verhältnis zur Faktizität von Maß und Zahl, von Material und Klima, von Alt und Neu oder von Funktion und Form, kurz, von physikalischer Welt und Geist zu setzen, weil Menschen selber nur als Einheit von Psyche und Soma existieren.

Man muss sich immer wieder daran erinnern, in wie hohem Maße Menschen aller Zeiten und Kulturen von der Fähigkeit zur Antizipation, also vom Bewusstsein der Kraft von Vorstellungen und Erinnerungen, von Gefühlen und Gedanken abhängig waren und sind, obwohl ihr Überleben im wesentlichen von der Aufrechterhaltung ihres bloßen physikalischen Stoffwechsels mit der Umwelt bedingt ist. Das heißt, menschliches Vermögen ist Befähigung zur Metaphysik. Und mit Blick auf unser Thema heißt das: Architektur ist die Metaphysik des Bauens.

Der Begriff der Metaphysik bezeichnet, schon vor seiner Verwissenschaftlichung durch Aristoteles, stets etwas nur jenseits der physikalischen Welt Gegebenes, für das heute etwa, jedermann gebräuchlich, die Begriffe Nachhaltigkeit oder Ganzheitlichkeit oder Gott oder Liebe oder Reinheit stehen.

Der Universalienstreit des Mittelalters begründete die Auffassung, dass solche allgemeinen Begriffe die Realität des geistigen und seelischen Lebens darstellen. Die Kritik an dieser Auffassung moniert, dass die allgemeinen abstrakten Begriffe nur durch einen formalen grammatikalischen Trick entstehen, nämlich Eigenschaftsworte zu Hauptworten werden zu lassen, Adjektive zu substantivieren. Aus der Eigenschaft des Rotseins entstehe so rein formal, und deswegen bedeutungslos, der Begriff der Röte. Ebenso bedeutungslos sei es, das Verhältnis eines Paares zueinander durch den Begriff der Liebe zu kennzeichnen, wo es doch um den liebenden Umgang des Paares miteinander gehe. Der Beweis für diese Verhexung des Denkvermögens durch die Grammatik liege in der Tatsache, dass immer mehr Liebesverhältnisse zwischen Menschen scheiterten, wenn sich die Betreffenden auf die phrasenhafte Anrufung der Liebe kaprizierten, statt sich zu einem liebenden Umgang miteinander verpflichtet zu fühlen.

Der heute grassierende Fundamentalismus im Gebrauch des Begriffs „Liebe“ oder „Gottesgebot“ oder „Demokratie als Einheit von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit“ zeigt, wohin die Verpflichtung auf absolute Geltung von universalen Begriffen als Realia führen kann, weil die Fundamentalisten keine hinreichende metaphysische Bildung erfahren haben. Leider gibt es auch unter den besagten Baufunktionären, die Künstler sein wollen, viele metaphysisch Ungebildete, sei es, dass sie den Neureichen Märchenschlösser ihrer sozialen Suprematie realisieren oder brutale Funktionsbauten hinklotzen oder im Namen der autogerechten Stadt ihre eigenen Architekturen als stadtraumbildende Ensembles zerstören. Die Architekturformen können durchaus den Funktionen folgen, wenn denn zur Funktion auch die Verpflichtung auf Schönheit, Gutheit und Wahrheit gehört. Dabei ist der einfachste Nenner für diese universalen Begriffe heute etwa folgender:

Schönheit heißt nach wie vor das sinnliche Scheinen der Ideen, die uns leiten, aber als ein Scheinen und nicht als eine dogmatische Versteinerung, also ein Verweis auf statt einer Verwirklichung von Ideen;
Gutheit meint den Einsatz der baulichen Mittel unter ökologischen, ökonomischen und humanen Gesichtspunkten, die universell und global verpflichtend sein sollen und Wahrheit bezöge sich auf die Offenlegung aller Planungen und Realisierungen in jedweder Hinsicht, vor allem der politisch getarnten, aber ökonomisch gemeinten Macht der Durchsetzung eines bauherrlichen Gestaltungswillens gegenüber den Interessen der Allgemeinheit.

Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich gerade unsere beispielgebenden Architekten der Moderne kritisieren: Adolf Loos war ungebildet genug, nur auf die Baukonzepte seiner bürgerlichen Epoche mit seinem Diktum „Ornament ist Verbrechen“ abzuzielen. Er hatte nicht verstanden, dass das Decorum gerade eine Grundordnung der Vermittlung von quantitativen und qualitativen, kulturellen und sozialen, sakralen und säkularen Formen der Weltaneignung repräsentiert, die älter ist als alle hochkulturellen Bauformen. Kurz, er hatte nicht gelernt, dass gerade die abstrakte, gegenstandslose, nicht figurative Malerei die vieltausendjährige Macht des Ornaments für die Leistungen der modernen Kunst produktiv werden lässt. Und dass sich gerade in den Formierungen des sozialen Körpers als Masse die strukturierende Kraft der ornamentalen Ordnung zur Geltung bringt.

Pars pro toto: Der späte Kandinsky ist für die sechshundertjährige Geschichte der Malerei bedeutungslos, aber für die vieltausendjährige Geschichte des Ornaments von außerordentlicher Beweiskraft. Denn im Decorumssystem gründen die Stile, die Epochen kennzeichnen. Jugendstil und Art déco (Neubewertung der protokolumbianischen Artefakte) sind tatsächlich Architekturstile geworden, wohingegen Loos- und Bauhausideen zum anti-architektonischen, also anti-metaphysischen Bauherrenfunktionalismus degenerierten. (Dies als Huldigung an Heinrich Klotz.) Loos und Bauhaus hätten in Wahrheit, Gutheit und Schönheit als Stifter eines modernen Decorums verstanden werden sollen, dann wäre Ornament nicht Verbrechen, sondern Manifestation von Metaphysik. Denn Abstraktion, Formalismus, Reduktion sind die probatesten Techniken metaphysischer Operationen, die, wie gesagt, darin bestehen, das unaufhebbare gap, den Spalt, den chorismos zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, zwischen Wille und Vorstellung, zwischen Körper und Seele, zwischen Gedanke und Kommunikation zu überbrücken und gerade nicht zuzuschütten oder zu leugnen wie bei Fundamentalistens. Ein Bau wird nicht unter die Fuchtel der Architektur gezwungen, nicht durch den Gestaltungswahn überformt, sondern hält im Bewusstsein seiner Nutzer und seines sozialen Bezugsfeldes die Sehnsucht nach der Vollendung in Form und Gestalt aufrecht. Heute müssen selbst Propagandisten der Konsumgesellschaft zur Aufrechterhaltung der Produktion von Waren darauf verweisen, dass die Macht des Wünschens nur so lange aufrecht erhalten wird, wie man die Wünsche nicht durch ihre Erfüllung tötet. Bestenfalls kann man sie für kurze Zeit stillstellen. Im natürlichen Triebhaushalt wird man nicht dazu angehalten zu fressen, bis man kotzt, sondern die Ausbeute der Nahrungsaufnahme stets zu optimieren, indem man durch das Genießen die Erwartung der Genüsse steigert. In diesem Sinne steigert gerade die Bauwut das Verlangen nach Architektur, denn der Mensch lebt nicht allein von Brot und einem Dach überm Kopfe, sondern von jeglichem Denken, Vorstellen, Fühlen, auf das er sich auszurichten vermag. Millionenstädte verlangen in dem Maße nach Architektur, wie ihre Bewohner durch Erfüllung des Bedürfnisses nach einer Behausung nicht ruhig gestellt werden. Die neuen chinesischen Großgründungen erschrecken doch gerade durch die gestalterische Machtgeste, die Kunstwerken zusteht, Architekturen aber auf das Niveau von bloßen Funktionsbauten zurückwirft. Selbst den anspruchsvollsten Architekten misstraut man in ihren chinesischen oder arabischen Gestaltungen: man empfindet sie als Allmachtsphantasien, die nicht auf genuinen Architekturideen beruhen, sondern auf ökonomischen Opportunitäten, denen die europäischen Künstlerprätendenten einfach nicht widerstehen können. Sie wollen endlich einmal klotzen, statt bloß zu kleckern, als würden ihre Vorstellungen weltmachtfähig, indem man sie entsprechend quantitativ aufbläht. Für die Architektur gilt die strikte Verpflichtung auf Maßstäblichkeit. Wer mit den heutigen Entwurfscomputern glaubt, eine attraktive Skulptur durch quantitative Entfaltung zur Architektur aufblasen zu können, lässt hinreichendes Verständnis für Skulptur wie für Architektur vermissen – obwohl viele dieser Koryphäen der Globalisierung davon schwärmen, wie gut, schön und wahr altchinesische Siedlungen oder Lehmbauten eines arabischen Stammesfürsten sind. Aber das sind metaphysische Krokodilstränen, die sie in Phiolen abgefüllt als Weihwasser für ihre Adepten verwenden. Was heißt schon Architektur, wenn’s doch um die Bestätigung des Künstler-Egos durch Markterfolge geht.