Buch Stefan Rinck

Stefan Rinck (Katalog), Bild: Leipzig: Lubok, 2016.
Stefan Rinck (Katalog), Bild: Leipzig: Lubok, 2016.

Katalog mit 27 farbigen und 64 Duplex-Abbildungen im Offsetdruck, gestaltet von Andrej Loll
mit einem Text von Bazon Brock (dt./ engl.; Übersetzung: Nicholas Grindell)
Leineneinband, 120 Seiten, Auflage 500 Stück
Erschienen 05/2016

Die Sandsteinskulpturen des Bildhauers Stefan Rinck erinnern an Figuren aus einem mittelalterlichen Bestiarium oder Chimären, wie sie an Kathedralen von Dächern und aus Kapitellen lugen, um böse Geister und Dämonen zu vertreiben. Rinck, der auch Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studierte, findet seine Vorbilder in verschiedenen Kunstepochen, in Mythologien und Märchenwelten. Mit Humor und Fantasie vereint er sie mit zeitgenössischen comic-haften Bildzitaten.

Erschienen
01.05.2016

Autor
Brock, Bazon

Verlag
Lubok

Erscheinungsort
Leipzig, Deutschland

ISBN
978-3-945111-25-3

Umfang
120 ungezählte Seiten

Einband
Gebunden

Will Gott noch etwas mit Künstlern zu tun haben?

Zu den Steinmetzereien von Stefan Rinck

1. Texthalbzeit

Die Werkkonzeption von Rinck ist von höchster Aktualität! Wie das, wo doch den Künstler in so auffälliger Weise lauter Atavismen wie gotische Dachspeier, Volkstumsgespenster, Bomarzo-Ungeheuer oder Babyspielzeuge der Frühzeit zu interessieren scheinen??? Eben deswegen. Und das ist auch noch programmatisch gemeint? Kinderstubenmythologien hat vor fünfzehn Jahren Meese der Öffentlichkeit vorgeführt. Bomarzo / Viterbo wurde zur erstrangigen Touristenattraktion durch den Schaudereffekt, sich im Rachen der Phantasiemonster des „Gartenreichs des lustvollen Grauens“ betten zu können. Der Tourist imaginiert sich als „rasenden Roland“, den Europaretter, wie ihn Ariost entworfen hatte. In den oberen Etagen der gotischen Kathedrale rätseln Bildungswillige, wie denn die heiligmäßige Architektur des himmlischen Jerusalem mit den Fratzen der Regenspeier zusammenhängen könnte. Kinder, Touristen und Horrorgenießer murmeln allesamt das Mantra „Kunst und Kultur, Kunst und Kultur, Kunst und Kultur“, als hinge ihre geistige Gesundheit vom Gelingen der Beschwörung ab, Kunst und Kultur möchten doch endlich wieder eine Einheit bilden wie in den volkstumsgespenstischen, märchenhaften Zeiten. Kinderzimmer, Bomarzo und schaudererregende Gotik stehen als solche Märchen hoch im Kurs, das heißt, Tourismus beweist sich an ihnen als ernst zu nehmende Wirtschaftskraft.

Dieser Hinweis gilt vor allem auch für alle ebenso ernst zu nehmenden Modernitätsansprüche von Künstlern aller Sparten, in verstärktem Maße seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als Picasso und Braque im Pariser Musée de l’Homme ihren westlichen Künstlerprofessionalismus auf die Zeugnisse afrikanischer Kulturen treffen ließen mit der damals ganz aktuellen Schlussfolgerung, dass ausschließlich ein Programm „Zurück zur Kultur“ die überdrehte West-Kunst elitärer Geschmäcklerei noch retten könne. Malertrupps der Impressionistengemeinschaft zogen aus dem städtischen Glanz in die dörfliche Primitivität einsamer Landschaften. Gauguin und Nolde wollten sich unter Südseemenschen das Glück der Naturkindschaft erschließen. Lebensreformer bildeten Spiritistenzirkel unter Beschwörung der Aura germanischer Moorleichen. Hexentanz im Zwielicht beseelte Worpsweder Künstlerinnen wie in den „Frühlingsfruchtbarkeitsriten“ Strawinskys! Und das alles vor dem Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die „mit Blut und Boden“, „Edelstahl und Ekstase“, „stählerner Romantik“ und allgemeiner Nacktkulturemphase die spannungsreiche Beziehung zwischen Kunst/Wissenschaft einerseits und Kultur/Religion andererseits zum Zeitgeist verdichtete.

Deutschland, Russland, selbst das junge Israel, Frankreich, Italien, Spanien programmierten demiurgenhaft den „neuen Menschen“ als eben jene Spukgestalt oder Machtphantasie, die ihre atavistische Kulturfrömmigkeit mit den Errungenschaften einer wissenschaftlich gegründeten Technik zur Wirkung bringt: eben Ethno-Ekstase und höllische Macht von Kruppstahl.

Nachdem die Spukgestalten des Himmlerschen Ahnenkults, der Zieglerschen Schamhaarmalerei, des Brekerschen Künstlertitanismus und des Sowjetrealismus gebannt zu sein schienen, folgten Künstler und Wissenschaftler vorübergehend wieder dem Programm ihrer historischen Herausbildung als Tätertypen der Moderne. Die abstrakten Expressionisten, die Informellen schworen erneut der Autorität der Väter, der Kardinäle, der Bosse, der Kulturträger, der Marktschreier ab, um nur noch eine einzige Autorität anzuerkennen, die Autorität durch Autorschaft. Höhepunkt dieser Erholung des Postulats „Autonomie von Kunst und Wissenschaft“ ist nach wie vor Artikel 5,3 Grundgesetz, demzufolge Kunst und Wissenschaft frei sind, nicht aber Zahnärzte, Unternehmer, Rechtsanwälte oder Ingenieure.

Seit dem Ende des Ost-West-Stabilitätspakts 1991 und der Erfüllung des Programms „Wandel durch Annäherung“, der die westlichen Gesellschaften den ehemals östlichen gleich machte, verbreiten die Großmächte Kultur, Religion, Ethnie wieder die Gewissheit, die Moderne sei nur als ihre Magd gerechtfertigt, das weltgeschichtliche Spiel der Mächte beginne noch einmal im 8. nachchristlichen Jahrhundert, also ohne Verfassung, ohne Nationalstaat, ohne Rechtsstaat, ohne internationales Recht wie Kriegsrecht, Seerecht etc., ohne Autonomie der Individuen als Künstler und Wissenschaftler. An die Stelle der Freudschen Analyse des „Unbehagens in der Kultur“ ist jüngst das säuische Behagen in ihr getreten. Und da suhlen sie sich wieder kulturalistisch selbstgefällig im gutmeinenden Kollektivisten, der bis in alle Einzelheiten politisch korrekte, also blank opportune Machtsprache reguliert, belohnt vom Zuspruch des Marktes. Das gilt auf allen Seiten, wie ja der Begriff „Globalisierung“ beweisen soll: im gesamten Erdenraum der gleiche Triumph kulturalistisch-religiös-ökonomischer Gewissheit gegenüber belangloser, weil ohnmächtiger Kritik von Seiten universalistischer Programmatiken.

Warum ist diese intentionale Rekulturalisierung, die alle Zivilisationsstandards mit absichtsvoller Rebarbarisierung unterläuft, so mächtig, weil so attraktiv? Die Antwort lautet: Die Moderne ist von Anfang an der Kampfplatz zwischen regionaler Kulturalität und universaler Zivilisation, zwischen Ideologien der Volkskraft in Erwähltheitsdünkel und Gottesgewissheit einerseits und der wissenschaftlich-technologisch-künstlerischen Produktivität von Kritik bis hin zu Zweifelsucht und Widerspenstigkeitsrausch andererseits.

Modern heißt nicht „Sieg von Rationalität, Faktizität und Kalkül“, sondern meint den unvermeidlichen Kampf gegen die normative Kraft des Irrationalen, des Kontrafaktischen und des Absurden. Das geschieht nach zwingenden Denkmustern: Rational heißt, die Grenzen einer Aussage zu behaupten. Mit der Setzung von Grenzen ist aber zwingend das Jenseits der Grenze zum Thema geworden. Deshalb konstatierte die Aufklärung als Frühmoderne, rational operiere nur, wer mit der Macht des Irrationalen zu rechnen wisse. Aus diesen Denknotwendigkeiten führt keine analytische Philosophie hinaus. Denn das würde bedeuten, die Evolution unseres „Weltorgans Gehirn“ völlig neu auszurichten. Es bleibt also dabei: Modern ist nur, wer in Person und Werk den unaufhebbaren Konflikt mit kulturalistischem Sozialverhalten und Gottesdienst aushält.

Und die Pointe? Muss man denn modern sein, wenn doch jahrtausendelang staunenswerte Hochkulturen ohne Autonomie von Wissenschaft und Kunst, ohne die Freiheit für jedermann auskamen? Wer sagt, dass man modern sein muss, wenn Abermillionen, inzwischen Milliarden meinen, „dumm sein und Arbeit haben“ sei das Glück im Schoße des Glaubens an die Legitimität von Herrschaft und ihrer Macht? Wer sagt es? Rimbaud? Und wenn schon. Der Sinnspruch ist inzwischen zum Markenzeichen von Unterwäsche geworden. Und selbst Avantgardisten bestehen auf dem „Widerruf des 20. Jahrhunderts“ oder auf einem Tribunal gegen das Dogma der Modernität. Aber, wie gesagt, diese Initiativen wollen ja ins Bewusstsein zurückrufen, dass die Moderne Kennzeichen der permanenten Konflikte mit den atavistischen Kulturen ist und nicht den endgültigen Sieg über sie behauptet.

Warum? Weil jedes Individuum, das für sich Urteilsautonomie beansprucht, ja als Kleinstkind nur durch Einpassung in eine Kultur das Leben gewinnt. Kulturelle Prägung kann also niemand vermeiden. Er kann nur lernen, mit ihr produktiv umzugehen, anstatt sich zum Erfüllungsgehilfen ihrer ehernen Gebote machen zu lassen.

2. Texthalbzeit

Ein höchst eigensinniges, aber umso beeindruckenderes Beispiel für diese Leistung bietet der Steinmetz Stefan Rinck, der seine Arbeitsstätte in einer Künstlerkollektivwerkstatt in Berlin eingerichtet hat. Scheinbar kunstgeschichtlich unbefangen, übernimmt er die figurativen Ausdrucksformen kulturell kollektiver Phantasien; er unterwirft sich aber nicht den tradierten Sinngebärden wie „Der Tod und das Mädchen“, „Der Puppenspieler“, „Die Eule der Weisheit“ oder der „äffischen Imitation“. Vielmehr prägt er die topoi durch die raue Gewalt der Formgebung in Stein um. So kann der Stein seine Eigenständigkeit oder Widerständigkeit behaupten gegen den Versuch, gestalterisch beherrscht zu werden. Die Sprache der Steine bleibt starck, ja protestantisch stur. Hätte Luther bei Tische gemeißelt statt zu sprechen, wären ungefähr die rinckschen Tafelaufsätze entstanden.

Im Literarischen ist die lutherische Kraft zur neuen Beseelung aus dem Munde des Volkes statt aus dem göttlichen von Thomas Mann in seinem „Doktor Faustus“ ins Wort geprägt. Im XII. Kapitel gibt der hallensische Professor Kumpf seine theologischen Erzählungen in dem Starckdeutsch wieder, das vor vierzig Jahren unter dem Dirigat von Matthias Koeppel die Berliner Hymnentafeln inspirierte.

Ähnlich gelingt der rinckschen Starckschlagbildnerei manch abenteuerliche Abspreizung, Hohlform und extremistische Asymmetrie, als hätte er einen Vertrag mit dem Stein geschlossen, mal eben für ein Experiment stillzuhalten. Man kann es den Steinen nachfühlen, dass sie sich gerne jungfräulich brüsten mit hochgereckten Armen, die das anklagende Aktivistinnenbanner „Und du bist schuld an meiner Verkümmerung“ tragen. Was für eine Anklage, die alle Steine Bildhauern entgegenschleudern! Selbst Michelangelo konnte nur zu gewissen Teilen dem Potential gerecht werden, das in den Natursteinformationen schlummert. Jedenfalls ist es Rincks Verdienst durch Können, dass man dem Stein den Stolz ansieht, mit dem er ein ordentlich erigiertes Glied in Opposition zum eigenen Totsein der Materie bringt. „Eros und Thanatos“, ein Meisterwerk der Gestaltbegriffe Rincks. Formkraft belebt den toten Stein.

Im Objekt „Head Banger“, als Relief ohnehin höchst anspruchsvoll, werden diverse Bedeutungen verarbeitet. Die Bratwurst, der Geköpfte, der Knallkörper und das Logo einer Starckrockband treibt der Sturm der Zeit wie in der herkömmlichen Darstellung der Fortuna, des Glücks, das man beim Schopfe packen muss, bevor man sehen kann, was überhaupt an dem Schopfe hängt. Es gelingt Meister Stefan, Haarstrom und Grillrost, Bartstoppeln und Zahnhälse, Wangenkoteletten und Sudoku-Schema ineinanderzublenden, so dass Form als Synthese von Bedeutungen überzeugt.

Seit La Fontaines Fabeln und Lavaters Physiognomielehre ist uns geläufig, durch Extremismus des Gestaltens zu karikieren, das heißt, Sinn in der Entstellung, Ordnung im Chaos und Form im Informellen zu sehen. Insbesondere sind die Gestalt-Passepartouts von Affen für dieses Verfahren beliebt, da die Grundlage aller Wirkung von Gesten, Mimesis und anderen Ausdrucksweisen die Empathie, die Parallelaktion der Nachahmung ist. Der Affe ist Wappentier der Malerzunft, seit man annahm, dass die Maler die Natur so nachahmen wie Affen die Menschen. In den 1990er Jahren hat der jüngst dahingeraffte Immendorff eine Affensozietät in Bronze gebildet, in der die betrachtenden Menschen sich als Empathiker der Tiere erleben. Immer schon wusste man, dass sich die Herren ihren Hunden anverwandeln. Mit Immendorffs Panorama der Kulturgesten von Schimpansen/Bonobos (Zeigen als Deuten, Lesen als Lehren, Schenken als Bedrohung, Smalltalken als Nichtssagen etc.) erfüllen wir das „Erkenne dich selbst“ antiker Tempelweisheit: Wir erkennen uns in Tieren besser als in anderen Exemplaren unseresgleichen. Stefan Rinck erweitert diese Bestimmtheit des Späteren durch das Frühere, die Selbstkennzeichnung der Menschen durch ihre tierische Herkunft, mit dem nötigen Sarkasmus und der Gedankenradikalität der in der Evolution Steckengebliebenen, also der Menschen. Das kann man durchaus als Todesvision verstehen: Tod als Ende des Anspruchs auf Höherentwicklung. „Death Vision“, Totenschädel mit aus den Augenhöhlen springenden Sehstrahlpyramiden, demonstriert diesen Selbstwiderruf der Menschen, über ihren Tod hinaus in Abstraktion zu überleben. In Koeppels Starckdeutsch hieß das einst:

Arr, di Arr; di Arrckitucktn –
jarr, di sünd tautul pfarrucktn.
Pauhn onz euburoll Quaduren,
vo se gurrnücht henngehuren.
Vn demm Hurz büsz ze denn Ullpn
snd di Häusur steitz di sullpn.
Duch di Arrckitucktn tschumpfn:
Onzre Pauhörrn snd di Tumpfn!
Olle zullte mon kastruren,
düßße auff ze pauhin huren;
odur stott ünn rachtn Winkuln
se dönn pauhin, wi se pinkuln.

Heute schämt sich kaum noch ein Künstler, selbst wenn der Kunstmarkt ihn adelt, auf sein Werk den Glanz der kulturell-religiösen Gewissheiten herabzubitten. Richter, Rauch, Lüpertz, Knoebel und viele geringere Kaliber beschwören für ihr Werk die Weihen der Kathedralen. Genügt ihnen die Weihe des Marktes nicht mehr? Trauen sie sich selbst nicht mehr in ihrem Autonomieanspruch als Konkurrenten Gottes übern Weg? Sind Bischöfe und Patres doch glaubwürdiger als Feuilletonschreiber und Kuratoren? Nur wer souverän genug ist, sich selbst in diesem Verlangen nach kulturell-religiöser Gewissheit zu karikieren, ist glaubwürdig. Polke glaube ich keinen Strich seiner Zürcher Glasmalerei als Kirchenfenster. Richters Fenster im Dom zu Köln wäre nur als Spott und Hohn auf seine Anmaßung akzeptabel. Der hohe Ton theologischer Weihe blamiert die zeitgeistgeile Kirche ebenso wie die meisterschaftsgewisse Dummheit des teuersten zeitgenössischen Künstlers der Welt. Wenn es nur Dummheit wäre! Aber es ist ganz offensichtlich die Kapitulation der Künstlerautonomie vor der Göttlichkeitsemphase der Gemeinschaft der Gläubigen. Mit solchen Künstlern will Gott hoffentlich nichts mehr zu tun haben. Aber sie plärren ihm wieder die Ohren voll als Heroen der verlorenen Sohnschaft, als Titanen des Leidens, die endlich Heil erbitten. Und Gott wird Gnade walten lassen. Ein Hohn für alle, die wirklich seiner bedürftig sind.

Da lobe ich mir den Meister Stefan Rinck, der den anonymen und kollektiven Kräften der kulturell-religiösen Bestimmtheit seine ohnmächtige Kritik und seinen beißenden Witz tapfer entgegenhält. Anstatt sich zur Selbstbeweihräucherung alter kultureller und religiöser Ausdrucksmuster zu bedienen, geht er auf eine anthropologische Ebene zurück. Das ist eine bewährte Strategie der Selbstkontrolle. Man fragt sich etwa, wie weit man selber als Individuum der Gegenwart der Erfindungskraft früherer Menschen entsprechen könnte. Wäre man beispielsweise in der Lage, den Übergang von schiefer Ebene zum rollenden Rad zu leisten? Könnte man heute noch einmal den Kalender, die bäuerische Wettervorhersage oder die Himmelskunde erfinden, böse Geister bannen oder die Dampfmaschine konstruieren – ganz abgesehen davon, dass wir selbst die heutigen Erfindungen als einzelne ohne Spezialisierung nicht mehr nachvollziehen können. Analog dazu fragt sich Stefan Rinck, ob ein modernes Individuum in der Lage wäre, die historischen Ausdrucksformen des Seelischen und Geistigen zu aktivieren. Er macht das auf eigenes Risiko, ohne wie die oben genannten Künstler, sich im Schutz religiöser und institutioneller Akzeptanz zu bewegen. Man sieht seinen Skulpturen an, dass sie nicht auf den Zuspruch des Herrn Pfarrer oder des Feuilletonisten warten. Sie wirken wie die souveräne Abwehr des Budenzaubers heutiger Lob- und Preiszeremonien. Dem liegt die immer wieder tabuisierte Einsicht zugrunde, dass sich auch im heutigen Menschen die gesamte Geschichte der Evolution unserer Spezies aktiv erhält. Nicht nur bei Gewalttaten und Marktkonkurrenzen werden die atavistischen Verhaltensweisen wirksam. Selbst im Liebestaumel und Künstlerrausch, das haben zum Beispiel die deutschen Expressionisten gezeigt und durch Reisen in die menschliche Vergangenheit zu den sogenannten Primitiven bestätigt, schlagen die Urformen des Ausdrucksverhaltens durch. Jede Phylogenese ist eine verkürzte Ontogenese, stellten die Kenner der Evolution fest – und Rinck sagt: In jedem Schaffen eines heutigen Künstlers sind auch die Formationen der seelisch-geistigen Entfaltung präsent, die sich in den Höhlen von Lascaux oder auf den Osterinseln manifestiert haben. Das heißt, jedes Werkschaffen durchläuft die Geschichte der Ausdrucksarbeit von tausend Generationen. Meister Stefans Arbeiten belegen, dass es einen spezifischen Atavismus der Moderne, eine Barbarei des Fortschritts genauso wie eine Primitivität des wissenschaftlichen Ausdrucks gibt. Gerade als der Moderne verschworen zeigt sich in unserem Verhalten genau das, was wir glauben hinter uns gelassen zu haben oder um des Fortschritts willen aufgeben mussten.

Die Art Brut-Theorie von Dubuffet, der seit den 1950er Jahren Beispiele des Unmittelbarkeitsausdrucks von Kindern, Kranken, Kriminellen wie auch Könnern gesammelt hat, nötigt uns den Respekt vor unserer eigenen Sehnsucht nach Unmittelbarkeit auf – und wenn wir dann loslegen, wie es heißt, ohne Kontrolle durch Modernitätsansprüche, durch Vernunftdiktat oder Marktgängigkeit, stellen wir ein hohes Maß an Übereinstimmung aller Menschen fest, vor dem wir erschrecken, weil es unseren Individualitätsanspruch ruiniert. Meister Stefan demonstriert uns diese grundlegende Einheit im Ausdruck des Seelischen und Geistigen aller Menschen, denn seine Figuren sind Ausdruck dieses anthropologischen Kollektivismus.

Nur einen Einwand erhebe ich: Die Seelenwaage, die das Karnickel der ewigen Fruchtbarkeit in Händen hält, darf ihm nicht mit Draht an die Pfoten gebunden werden! Bitte korrigieren, denn Gestaltung befähigt gerade den Stein zur Wägung der Kraft der Künstler- und Betrachterseelen.

Stefan Rinck: EROS UND THANATOS, Bild: 2014, Marble, 56,5 x 23,5 x 27 cm, Courtesy by the Artist.
Stefan Rinck: EROS UND THANATOS, Bild: 2014, Marble, 56,5 x 23,5 x 27 cm, Courtesy by the Artist.
Stefan Rinck: HEADBANGER, Bild: 2008, Sandstone, 70 x 118 x 23 cm, Courtesy by the Artist.
Stefan Rinck: HEADBANGER, Bild: 2008, Sandstone, 70 x 118 x 23 cm, Courtesy by the Artist.
Stefan Rinck: DEATH VISION, Bild: 2013, Sandstone, 50 x 15 x 13 cm, Private Collection, Germany.
Stefan Rinck: DEATH VISION, Bild: 2013, Sandstone, 50 x 15 x 13 cm, Private Collection, Germany.
Stefan Rinck: RABBIT WITH SOULSCALE, Bild: 2012, Sandstone, 60 x 38 x 26 cm, Courtesy by the Artist.
Stefan Rinck: RABBIT WITH SOULSCALE, Bild: 2012, Sandstone, 60 x 38 x 26 cm, Courtesy by the Artist.