"Einheit durch gesicherte Verschiedenheit"

Bazon Brock im Interview mit Jörg Scheller

Ein Gespräch mit dem Denker im Dienst, Künstler ohne Werk, Professor em. für Ästhetik und Kulturvermittlung, Action Teacher, Denkerei-Gründer und Wundergreis Bazon Brock über die Renaissancen des Reaktionären, den pornographischen Kapitalismus und die Kulturalisierung von Kunst und Wissenschaft

Jörg Scheller: Wir erleben derzeit das Erstarken rechtskonservativer, nationalistischer und reaktionärer Bewegungen in Europa – PiS in Polen, AfD in Deutschland, Front National in Frankreich, Viktor Orbán in Ungarn, Putin in Russland, und so weiter. Was ist aus Deiner Sicht der Grund, besser gesagt: Was sind die Gründe dafür? Vordergründig geht es Europa besser als jemals zuvor, der westliche Teil lebt seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Phase der Stabilität, der Sicherheit und des Wohlstands, die historisch ihresgleichen sucht. Ist es so, dass der von der AfD beschworene "Thymos" unterdrückt worden ist, dass Europa zu sehr vernünftelt hat, sich gar effeminiert hat, wie die Rechtskonservativen meinen? Oder ist der Rechtsruck die Folge einer Verkrustung und Selbstgenügsamkeit des Establishments?

Bazon Brock: Kann man im Ernst behaupten, Europa lebe in einer historisch einmaligen Phase der Stabilität, der Sicherheit und des Wohlstands? Oder spaßt da nur jemand herum, weil er historisch kenntnislos und von Goodwill-Phrasen blind ist? Gibt es politisch/militärische Stabilität heute etwa in der Ukraine oder in Libyen, im Irak oder Iran, Afghanistan oder Syrien? Und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrschten permanent schwerste Konflikte in den Ost-West-Beziehungen, die in erheblichen Teilen militärisch ausgefochten wurden: Korea-Krieg, Ungarn-Aufstand, Kuba-Krise, Vietnam-Krieg, Einmarsch der Ostblock-Armeen in die Tschechoslowakei, Afghanistan (schon seit Anfang der 1980er Jahre), Kriegsrecht in Polen gegen Solidarność, Deutschland war offiziell erklärtes Schlachtfeld für den erwarteten Ost-West-Krieg. Dann Irak-Iran-Krieg, dann Krieg zur Liquidierung Saddam Husseins, permanente Drohung mit der Auslöschung Israels und entsprechende Reaktionen der Israelis. Dann Triumphalismus über das Ende der Sowjetunion, sicherheitsbedrohlicher Zerfall des Ostblocks, dann NATO-Vorrücken gegen Russland und seine Glacis-Zone gegen alle Verträge. Dann konsumeristische Großpropaganda für den Arabischen Frühling mit entsprechenden Destabilisierungen Ägyptens, Libyens, Syriens. Während der gesamten angeblichen Wohlstands- und Stabilitätszeiten ohnegleichen Erziehung der Terrorbanden für Stellvertreterkriege der Ausrüster und Finanzierer. Dann radikale Zuspitzung der innermoslemischen Konflikte zur vermeintlich wechselseitigen Schwächung der sunnitischen und der schiitischen Seiten... Wie kann dann irgendjemand von Stabilität und Sicherheit faseln?

Jörg Scheller: Moment! Die Rede ist von Europa und vor allem von Staaten wie Deutschland, Frankreich, Österreich, Schweiz – eine derart lange Friedensphase wie jene seit dem Zweiten Weltkrieg ist doch in der Tat rar! Und was den Wohlstand betrifft, so ist die absolute – nicht die relative – Armut in Europa weitestgehend überwunden.

Bazon Brock: Dieses Argument bestätigt gerade die Blindheit oder Verlogenheit derjenigen, die ihre nabelbeschaulichen Wunschphantasien für die Wirklichkeit ausgeben. Zumal es mit der systematisch erzwungenen Globalisierung durch die westlichen Regimes gar keine regionalen Inseln der Sicherheit und Unbeteiligtheit mehr gibt. Dass die Armut im Westen überwunden sei, können nur renditegesicherte Herrschaften in wohltemperierten Banker- und Parlamentslobbys behaupten. Lest ihr keine Statistiken, die Jahr für Jahr einen immer höheren Anteil von Kindern auflisten, die bei uns in Armut aufwachsen? In den Südländern Europas herrscht seit zehn Jahren exorbitante Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Leuten, die für sich keine Chance sehen, jemals ein halbwegs auskömmliches Leben entfalten zu dürfen. Die Allianz von Pseudokapitalisten des Westens mit den Pseudomoslems des Südens und Ostens hat mit ihrer Null-Zins-Politik die von ihnen deklarierte Alterssicherung unmöglich gemacht. Allenthalben herrschen Arbeitsverhältnisse mit befristeten Teilzeitverträgen im Niedriglohnsektor, mit Leiharbeiterausbeutung und einer allgemeinen Entwürdigung von Arbeit als Jobben in prekären Verhältnissen – das alles sollen Anzeichen des stabilen Wohlstands sein? Die Stabilität des Westregimes wurde bis auf weiteres durch 15,2 Billionen $ (europäische Zählweise) den Steuerzahlern abgepresst (so viel hat die weltweite „Bankenrettung“ die Steuerzahler gekostet, ohne dass mit dem Geld auch nur die allergröbsten Infrastrukturdefizite bei Brücken- und Straßenbauten, Schulen, Universitäten, medizinischen Einrichtungen in den Systemländern geschweige denn in Entwicklungsländern vorangebracht worden wären – denn dann ließen sich die Ausgaben als Investitionen in die Zukunft vertreten.). Nach Auffassung aller Kundigen machen die geretteten Banken mit ihren asozialen Praktiken heute genau so weiter wie vor der „Rettung“ – obwohl die Herren der Rettungspolitik den Wählern hoch und heilig versprochen hatten, dergleichen Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten durch Unternehmen und Banken nie wieder zuzulassen. Es ist bezeichnend, dass diese Lügen gerade bei den Leuten ankommen, die sich durch Hingabe an die Behauptung selbst erhöhen, wir lebten in der besten aller denkbaren Zeiten. Bitte öfter mal lesen, zum Beispiel Brecht: „Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten! Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen.“ Ist dem Zynismus des Lehman-Chefs, dokumentiert in authentischen Lehrvideos in Manier des Stürmer und des Schwarzen Korps, irgendetwas auch nur Ähnliches von Frau Le Pen und anderen an die Seite zu stellen? Haben die Gegner Le Pens nicht ganze Städte in Syrien, im Irak, in Afghanistan und Libyen mutwillig in brennende Wohnheime verwandelt, wirtschaftsfördernd und regierungsoffiziell?

Jörg Scheller: Nun ja, Frau Le Pen gibt sich derzeit gemäßigt – es wird sich zeigen, ob der Wolf nur Kreide gefressen hat oder tatsächlich mit dem Vegetarismus liebäugelt. Sicherlich wird auf Seiten der alten Volksparteien ähnlich viel Unsinn verzapft wie bei den Neokonservativen – Politik ist kein Habermas-Seminar. Aber die neuen Bewegungen zeichnen sich doch durch einen ganz anderen Willen zur Radikalität, zu einem Willen zum "Ernstfall" und damit zur Gewalt aus, wenn man diese nicht erst mit der eigentlichen Tat beginnen lässt. So toleriert etwa die AfD stillschweigend brennende Flüchtlingsheime, während sie jeden syrischen Taschendieb als Bedrohung fürs Abendland darstellt.

Bazon Brock: Jedenfalls haben die diversen Neokonservativen in Europa, also auch die AfDler, nicht so bedenkenlos Gesetze gebrochen, Verfassungen missachtet, wie die etablierten Parteien in der BRD es taten mit mutwilligem Bruch des Maastricht-Vertrages, des Verbots von Staatsfinanzierung durch die EZB oder mit der unüberbietbaren Aufkündigung des rechtsstaatlichen Grundsatzes, Gesetze dürften nicht nachträglich zugunsten der einen oder zulasten der anderen Seite geändert werden: das nämlich hat der Bundestag im Sommer 2012 beschlossen, ohne dass das der deutschen Presse mehr als ein paar Beiläufigkeiten wert gewesen wäre. A propos Presse: Selten wurde so unverschämt gelogen wie bei der Verbreitung der frohen Botschaft, die Chefs der Demokratien hätten den Protestzug der Bürger gegen die Charlie-Hebdo-Morde in Paris angeführt.

Jörg Scheller: Das hat einen einfachen Grund – die "Altparteien" sind schon ein Weilchen an der Macht und hatten entsprechend reichlich Zeit, sich der üblichen Politvergehen schuldig zu machen. Es sollte mich doch sehr wundern, wenn nun mit der AfD oder PiS Politiker edleren Geblüts nach der Macht griffen – was die PiS in Polen betrifft, so steht sie in Sachen Rechtsbruch den von ihnen als linke Gutmenschen diffamierten Politikern in nichts nach, ja sie übt sich fleißig in der Überbietung aller Vergehen der Vorgängerpartei PO. Aber lass uns über die von Dir genannte Presse sprechen – sprichst Du da aus persönlicher Erfahrung?

Bazon Brock: Mein persönlicher Erfahrungshöhepunkt mit heutiger Presse? Bitteschön: Im Januar 2014 behauptete der Chef der Kunstzeitung, das Jahr beginne mit einer großen Lüge, da Peter Weibel eine Ausstellung über die Kooperation von Beuys, Brock und Vostell plane. Dergleichen Kooperation habe es, meinte der Medienrepräsentant, nie gegeben. Der Aufforderung, diese abstruse Feststellung an den Dokumenten der Ausstellung zu überprüfen, kam die Kunstzeitung nicht nach, obwohl die Ausstellung sechs Monate geöffnet blieb. Konsequenzen durch den Presserat? Keine. Im übrigen folgten nur zwei Lokalzeitungen in und um Karlsruhe der Verpflichtung zu eigenem Augenschein. Die übrige deutsche Presse solidarisierte sich mit dem Verstoß gegen journalistische Sorgfaltspflicht durch den Chef der Kunstzeitung, indem sie weder den Vorgang noch die Ausstellung einer Mitteilung für würdig hielt. In summa: Die Rede von der heute stabilsten und sichersten und sozialsten Welt…

Jörg Scheller: ... wie gesagt, es ging explizit um Europa im historischen Vergleich und damit um das, was Dan Diner den "über 40-jährigen Frieden des nuklearen Patts" nennt, an anderer Stelle spricht er ihm die "Bedeutung eines historischen Meteoriten [zu] – so, als wäre [die Friedenszeit] nicht von dieser Welt"...

Bazon Brock: ... ist nichts anderes als die Renaissance des Reaktionären! Nicht einmal literarisch könnte man dem Diktum irgendetwas abgewinnen, denn, wie schon Gottfried Benn formulierte, diejenigen, die alles zum Besten nennen, verlieren den Zugang zu ihrer Epoche. So wie Hitlers Aufstieg nur zum Spiegelbild des Machtstrebens der rivalisierenden Katholiken, Deutschnationalen, Kommunisten, Unabhängigen Sozialdemokraten und dergleichen wurde, ist heute die AfD das Spiegelbild der allmachtwahnsinnigen Parteien, Verbände, Unternehmen. Es sieht nur so aus, als ob die AfD etwas Anderes, gar Neues zu bieten hätte. Ihr bisschen Reform-Tamtam produziert der Bundestag spielend mit jedem Versprechen, durch Untersuchungsausschüsse der Durchstecherei, dem hemmungslosen Opportunismus, dem schrankenlosen Lobbyismus nun endlich Einhalt zu gebieten. Der Wahlerfolg der AfD ist nur deshalb bedeutsam, weil er signalisiert, dass die Bevölkerung in immer größeren Teilen sich nicht mehr von den Schönrednern zum Affen machen lassen will.

Jörg Scheller: Das sind sehr allgemeine Beschuldigungen, ein bisschen konkreter, bitte! Worin konkretisiert sich denn der "Allmachtwahnsinn" der Parteien?

Bazon Brock: Waren Dir meine Hinweise auf das Friedens-, Stabilitäts- und Wohlstandgeplapper, mit dem man jegliche Problematisierung zu verhindern sucht, nicht konkret genug? Die Bundeskanzlerin hat mit ihren autokratischen Alleingängen so gut wie alle anderen EU-Partner deutsches Nationalbewusstsein wieder fürchten gelehrt. Dagegen ist die AfD ja geradezu harmlos, wenn sie den EU-Partnern die gleiche Art Suprematie des Nationalbewusstseins zugesteht. Und was die Phrasendrescherei als angebliche politische Argumentation angeht, so ist die regierungs- und partei- und intellektuellenamtlich stündlich abgesonderte Begriffsblase der „Weltoffenheit“ dem ebenso undefinierten Begriff „Volk“ bei der AfD ebenbürtig. Denn Dummheit ist von Dummheit nicht anders zu unterscheiden als durch die Herrscherideologie: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht das Gleiche. Dummheit an der Macht hält sich in jedem Fall für der Dummheit in der Ohnmacht haushoch überlegen.

Jörg Scheller: Ich lehne diese Alleingänge der Kanzlerin ebenfalls ab und pflichte Dir bei, was den hilflos-ideologischen Charakter von Phrasen wie "Weltoffenheit" oder "Kein Mensch ist illegal" betrifft. Eine rechte Dummheit macht eine – vermeintlich – linke Dummheit nicht weniger dumm. Es stellt sich jedoch die Frage, wie denn unter den 28 reichlich idiosynkratischen EU-Mitgliedsstaaten überhaupt ein Konsens hergestellt werden kann. Und Alleingänge pflegte auch Kanzler Schröder, ich nenne nur die Northstream-Pipeline unter Umgehung Polens und weiterer Anrainerstaaten. Würdest Du aber zustimmen, dass AfD, die Linke & Co. im Sinne Eric Voegelins als Formen moderner Gnosis bezeichnet werden können? Und dass es wiederum Merkel & Co. mit ihren postdemokratischen, postpolitischen Schlingerkursen gleichsam an gnostischer Verve gebricht? Voegelin erkannte in den neuen politischen Strömungen der Moderne – von der Französischen Revolution über den Kommunismus bis hin zum Nationalsozialismus – Wiedergänger der mittelalterlichen Häretiker. Ihre Gemeinsamkeiten beruhten auf der Isolierung und Verabsolutierung eines Teilbereichs der Realität (etwa "Nation" oder "Rasse"), die Benennung des "Guten" und der Versuch, dieses unmittelbar zu verwirklichen ("Immanentisierung des Eschaton"). Dabei gilt: Im Namen des Guten darf man auch Schlechtes tun, es dient schließlich einem edlen Zweck. Man denke etwa an Marxens "Expropriation der Expropriateure". In diesem Sinne glaubt auch die AfD, schriller Populismus und Spiel mit dem völkischen Feuer sei legitim, weil das dem Wohle des Vaterlandes diene...

Bazon Brock: Der Kanzlerin gebricht es nicht an mystischer Gemütskraft, sondern an historischen Kenntnissen, Charakterfestigkeit und Reflexionskraft. Die Frau hat tatsächlich behauptet, wenn die Deutschen sie zwängen, sich für ihre Entscheidungen zu rechtfertigen, dann sei Deutschland nicht mehr ihr Land. Dieser Autokratismus aus Dummheit = Machtarroganz kann es spielend mit entsprechenden Haltungen des Operettenkaisers Wilhelm Zwo aufnehmen; auch in allem Übrigen ähnelt sie der schnurrbärtigen Walküre, die unbedingt mal eine Wagner-Oper in Eisen und Blut ausgeführt sehen wollte. Voegelin in allen Ehren, aber was er als einmalig behauptet haben soll, bleibt unerfindlich. Selbst wenn man Nietzsche und Carl Bry (Die verkappten Religionen, 1927) nicht allzu hoch ansetzte, wäre deren Positionen gerade rechtsstaats- und demokratietheoretisch mehr zu trauen als Voegelins Zielsetzungen. Er zeigte sich nicht einmal dem wagnerischen Religionsstiftererfolg durch Bühnengetue gewachsen geschweige denn den anderthalb Jahrtausenden christlicher Theologie, die ja mit aller Macht den Begriffshokuspokus der Gnostiker dem Prinzip unterwarf, dass der Glaube erst durch Zweifel produktiv würde und das Denken als Kritik. Das aber heißt, nur die Mittel rechtfertigen die Zwecke und nicht umgekehrt wie bei Gnostikerns.

Jörg Scheller: Man wirft Dir mitunter vor, Dich in der "Festung Europa" zu verschanzen, einen konservativen Begriff der Aufklärung zu vertreten und jüngeren emanzipatorischen Bewegungen wie Postkolonialismus, Gender, Queer, usw., indifferent oder ablehnend gegenüber zu stehen. Wenn ich Dich aber recht verstehe, geht es Dir gerade auch um die Kritik der Selbstgerechtigkeit Europas – allerdings aus einer genuin europäischen Perspektive.

Bazon Brock: In der Tat steht das „Programm Europa“ für die Verteidigung des Rechtsstaats, der Demokratie (Gewaltenteilung), des Sozialstaats und der Freiheit von Künsten und Wissenschaften. Diese Prinzipien wurden mit größten Opfern über Jahrhunderte von Europäern gegen Europäer erfochten. Was kann da überhaupt noch der Vorwurf des Eurozentrismus bedeuten? Zum Teil glaubten Europäer, ihren Prinzipien nur durch Auswanderung aus Europa folgen zu können. Weltweit haben die europäischen Errungenschaften kaum Geltung für die Lebenspraxis der Gesellschaften, nicht zuletzt deswegen, weil sich entsprechend Interessierte berechtigt fühlen, diese Prinzipien als eurozentristisch ablehnen zu dürfen. Da freuen sich die Diktatoren, auch nach fünfzig Jahren Freiheit vom Kolonialismus, Stammesgesetzen oder der Scharia zum Zeichen ihres Antikolonialismus folgen zu müssen. Südafrika oder seit fünfzig Jahren die Kongo-Staaten demonstrieren ja einen tollen Postkolonialismus. In Deinem Sinne wahre Muster der emanzipatorischen Bewegung. Und was Gender oder Queer anbetrifft: man sollte weniger auf die Genitalien als auf die Genialien achten? Was nützt der Geschlechterwechsel ohne entsprechenden Änderung der Hirntätigkeit?

Jörg Scheller: Lieber Bazon, hier war nicht die Rede von "meinem Sinn" und "meinen Mustern der emanizpatorischen Bewegung." Ich bezog mich auf diejenigen, die gerne – und gerne vorschnell – die Eurozentrismus- und sonstige Keulen zücken. Könntest Du in diesem Zusammenhang noch Deine Islam-Kritik etwas genauer umreißen? Sie folgt ja nicht den üblichen Mustern. Speist sie sich auch aus dem Wissen, dass gerade in islamischen Regionen der Antisemitismus weit verbreitet ist und dass dieser durch die Migrationsströme nach Europa, zumindest in mittel- und langfristiger Sicht, auch hierzulande wieder Fuß fassen könnte?

Bazon Brock: Ich habe Moslems bisher immer nur zu ihrer Glaubensstärke, ihrem Machtbewusstsein und ihrer Orientierung auf Handeln in langer Dauer gratuliert. Die einzige Form meiner Kritik lautete, man möge den Sieg über den Westen nach dreizehnhundert Jahren sogar kriegerischer Auseinandersetzung nicht allzu hoch ansetzen, denn die Westler hätten alles historische Bewusstsein von auch blutigsten Konflikten zwischen Christen und Moslems verloren. Theologisches Denken, das ein gewisses Niveau der Auseinandersetzung zu würdigen wusste, wurde systematisch als reaktionär, als unmodern diskriminiert. Jetzt herrscht die allgemeine unbedarfte Kenntnislosigkeit, die man für den Beweis der Auffassung stolz vor sich her trägt, in modernen und erst recht zukünftigen Gesellschaften spielten Religionen und schon gar Theologien keine Rolle mehr. Ich kann jederzeit den Beweis führen, dass kaum ein europäischer Politiker auch nur drei Jahreszahlen, drei Ereignisorte, drei Themenstellungen oder die Namen dreier beteiligter Personen aus den Jahrhunderten der Konflikte nennen könnte und das Geschehen historisch wie theologisch einzuordnen wüsste.
Kaum jemand würdigt den Koran, etwa 2. – 9. Sure, eines Studiums, da man jede Debatte mit kenntnislosen Toleranzforderungen und allgemeinem Humanitätsgerede bestehen könne, denn substantielle Debatten weiß man ja zu verhindern, wie die täglichen amtlichen und journalistischen Verlautbarungen beweisen. Ich hingegen ehre Moslems in höchstem Maße, zolle ihnen größten Respekt, da sie Gegner der historischen Firmierung Europas sind, und jemand als seinen Gegner anzuerkennen, heißt, ihn außerordentlich ernst zu nehmen und damit zu würdigen. Ich nehme den Koran ernst und lasse mir von Fachleuten immer wieder Lesarten besagter Suren eröffnen. Gerade in Stammeskulturen weiß man erklärte Gegner höher zu schätzen als vermeintliche Freunde, die jederzeit opportunistischen Einfällen nachgeben können.
Aber sind es nur schale Triumphe des Islam, wenn von höchster Staatsgerichtsbarkeit in Indonesien für rechtens befunden wird, dass nur Moslems der Begriff Allah = Gott zugestanden werden dürfe, da der Koran eben deutlich zwischen gläubigen Moslems und der Welt der Ungläubigen unterscheide? Den Ungläubigen stehe, was sie durch ihren Unglauben belegen, per se nicht zu, den Namen Allah oder Gott zu gebrauchen. Den Hinweis aus dem Westen, der Begriff Allah sei lange vor der Stiftung des Islam gebräuchlich gewesen, entkräften die höchsten Richter der Scharia-Gerechtsamkeit mit der Feststellung, man müsse eben deutlich zwischen expliziter Fixierung des heiligen Koran und einer von Anfang der Welt geltenden Intention Gottes, den Islam zu stiften, unterscheiden. Und solcher wunderwirkenden Logik glauben westliche Machtrollendarsteller mit Pornographie und Kapitalismus gewachsen zu sein? Niemals.

Jörg Scheller: Als Anhänger der Mythos-Theorie Leszek Kołakowskis hat mich das kurzsichtige "Religion-ist-überwunden"-Gejubel stets amüsiert. Ich stimme auch zu, dass der Westen nicht zuletzt durch die stete Missachtung oder willkürlichen Auslegung seiner litaneihaft beschworenen "Werte" nebst der Pornographisierung wie auch Ökonomisierung des Alltags die "Rückkehr der Religion" und das, was Du als Versuchung der "wunderwirkenden Logik" bezeichnest, geradezu heraufbeschworen hat. Aber immerhin gibt es progressive Werte, an denen man den Westen oder besser gesagt den "ehemaligen Westen" messen, auf die man ihn verpflichten kann. Und die Gegnerschaft zum Westen besagt ja noch nichts über die Qualität, über die Legitimität dieser Gegnerschaft. Der Feind des Feindes ist nicht zwingend der Freund. Was wären denn, gerade auch aus historischer Perspektive, überzeugende Versuche, die unseligen Kulturkämpfe zwischen West und Ost, Gläubig und Ungläubig, Islam und Christentum zu neutralisieren?

Bazon Brock: Da bot Atatürk die bisher einzige, gut begründete Strategie. Am 24. November 1934 erließ er ein Dekret, das die Hagia Sophia in Istanbul durch Verwandlung in ein Museum der Verfügungsgewalt sowohl der Christen wie der Moslems entzog. Von Kaiser Justinian war dieser Zentralbau der oströmischen Orthodoxie Mitte des 6. Jahrhunderts seiner Bestimmung übergeben und neunhundert Jahre später von Moslems in eine Moschee umgewidmet worden. Von 1452 bis 1934 triumphierten also die Moslems nach der bekannten Logik: je höherrangig der eroberte Kultbau der Gegner, desto größer der eigene Sieg. Diesen Sieg schien Atatürk zunichte machen zu wollen, um die Türkei zu modernisieren, das heißt, auf das Niveau der Autonomie der Wissenschaft, Technik, Medizin zu bringen und entsprechende bürgerliche Haltungen der Türken einzuüben.
2015 wetteiferten Christen und Moslems um die Rückeroberung der Macht über das Weltzivilisationserbe Hagia Sophia, das sich nur außerhalb von Kulturkämpfen behaupten kann. Die Orthodoxen wollen Rückverwandlung des Baues in eine Kirche, die Moslems Rückverwandlung in eine Moschee. Im türkischen Parlament radikalisieren sich die Gegner auf allen Ebenen, so dass es nicht Wunder nehmen würde, wenn sie sich eher auf eine gemeinsame Zerstörung als auf die weitere Nutzung der Kathedrale/Moschee als Museum der Universalität einigen könnten.

Jörg Scheller: Universalität und Universalismus sind Begriffe, die insbesondere in der postmodernen Philosophie stark kritisiert und dekonstruiert worden sind. Könntest Du Deine Sicht auf den Universalismus erläutern? Waren die großen Erzählungen zu groß oder nicht groß genug?

Bazon Brock: Der Grundgedanke des Universalismus, der die jeweilige Einmaligkeit der Kulturen/Religionen/Sprachen gerade dadurch garantieren soll, dass sie alle einer transkulturellen Ordnung verpflichtet sind, ist erst mit dem römischen Begriff des Imperiums entwickelt worden. Der Versuch der Han-Chinesen zur Orientierung auf Einheit meinte immer nur deren Suprematie über alle anderen Stämme und ihre Kulturen. Der westliche Universalismus richtete sich auf Einheit durch gesicherte Verschiedenheit – ganz im Unterschied zum heute propagierten Globalismus, der hymnisch die ganze Welt mit dem Einheitsbrei des Marktdiktates überzieht. Dagegen sich zu wehren, heißt eben, Binnenstrukturen auszuprägen durch Begrenzung und andere Formen der Dynamisierung durch Niveau- oder Spannungsdifferenzen. Das gilt auf biologisch-evolutionärer Ebene wie für den Aufbau von Artefakten (Kaskadendynamik, Fließgleichgewichte oder Variationen der Reibungswiderstände etwa für barocke Gartenarchitekturen). Die naive Auffassung von Grenzen hat die europäische Aufklärung korrigiert. Wer Diesseits sagt, muss Jenseits mitdenken; Rationalität kann nur behaupten, wer das Irrationale ins Kalkül stellt und die Normativität des Kontrafaktischen als stärkste Kraft der Wirklichkeit anzuerkennen vermag.
Als universell haben etwa die Menschenrechte zu gelten, obwohl sie faktisch nur hie und da auf dem Globus anerkannt und auch nur eingeschränkt praktiziert werden. Als universell gelten die Naturgesetze, obwohl global viele Kulturen ihr Diktat gegen Wissenschaftler durchzusetzen versuchen, als könne es „verjudete Physik“ oder „moslemische Chemie“ oder „christliche Medizin“ geben. Prof. Lenard, Nobelpreisträger für Physik, glaubte, mit den Gegebenheiten „Rasse“ und „Blut“ eine „Deutsche Physik“ gegen verjudete Physik abgrenzen zu müssen. Nobelwürde schützt eben vor Dummheit nicht – andererseits ist Wissen häufiger Ohnmacht als Macht.
Männer wie Lenard und ihre Geschlechtspendants sind auf der Stufe einer Entwicklung stehengeblieben, die jedermann durchlaufen muss, nämlich als Kleinstlebewesen enkulturiert zu werden, also in eine Familie, Sprach- und Glaubensgemeinschaft, in ein Gefüge von Sitten und Gebräuchen, ein Regelwerk von Pflichten und Zukunftserwartungen aufgenommen zu werden, um überhaupt heranwachsen zu können. Auch jeder Wissenschaftler und Künstler, jeder Freigeist oder Nihilist ist auf diesem Wege kulturell geprägt worden. Wer aber als Wissenschaftler oder Künstler Freiheit behaupten muss, ist permanent aufgefordert, seine kulturalistische Prägung hintanzustellen. Das eben kann den Lenards nicht gelingen, weil sie die Errungenschaften ihrer Aussagenautorität gerne den Göttern ihrer Kultur opfern, um deren Anerkennung und Belohnung teilhaftig zu werden. Dass sie mit solchem Verdienstegoismus die angeblich höchsten Autoritäten zu ihresgleichen erniedrigen, kommt ihnen nicht in den Sinn, denn sie haben ein für allemal definiert: Nur die Ungläubigen können Gott lästern.
Ähnlich herabwürdigend geht man auch mit Charakter und Gemüt normaler Gläubiger um. Moslemische Flüchtlinge etwa aus Syrien, dem Iran, dem Irak behandelt man als schiere Gehirnwäscheobjekte. Ihr ganzes Leben lang haben Jugendliche in diesen Ländern die Parole „Tod den Juden“ als Verpflichtung auf ihre Befreiungstheologie nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch nachsprechen müssen. Hier meinen viele, die Flüchtlinge könnten ihre Überzeugungen beim Passieren der europäischen Grenzen hinter sich werfen. Man erniedrigt hierorts die jungen Moslems zu Phrasendreschern, wie es Europäer sind: Was können schon ernsteste religiöse und politische Bekenntnisse den Flüchtlingen bedeuten, selbst wenn diese Bekenntnisse über Jahre ihr Selbstverständnis prägten? Sind doch derartige Bekenntnisse für Westler auch bloße Ausprägungen von Warenpropaganda, also Lippenbekenntnis ohne Verbindlichkeit!
Wenn man den jungen Flüchtlingen aber ihre Überzeugungen zugesteht, sind diese in gar keinem Falle mit dem Bekenntnis vereinbar, die Existenz des Staates Israel sei deutsche Staatsraison – es sei denn, auch das ist ebenso beliebig wie jede Merkel-Suada: heute für Wehrpflicht, morgen dagegen, heute für Verlängerung der Atomkraftwerke, morgen dagegen, heute für Kopfpauschale, morgen dagegen, und das alles mit der Begründung, die Kanzlerin habe noch einmal nachgedacht – womit sie bewiesen hätte, dass sie dazu unfähig ist, sondern nur ihre machtsichernden Meinungen verbreitet. Praktischerweise führt die Chefin die AfD-Politik gleich selbst aus. Da hat sie schon Übung, muss sich gar nicht verstellen. Fragen Sie mal Herrn Gabriel!

Jörg Scheller: Werde ich beim nächsten Kaffeekränzchen tun. Kommen wir zu einem letzten Punkt. Du hast immer wieder betont, dass Künste und Wissenschaften in der Entwicklung Europas eine herausragende Rolle gespielt haben. Dabei kommt erneut dem Wert "Freiheit" eine große Bedeutung zu...

Bazon Brock: Nichts kennzeichnet die Position Europas in der Weltgeschichte der Gesellschaftsordnungen so eindeutig wie die Abkoppelung von Künsten und Wissenschaften aus jeglicher kulturell/religiöser Autorität oder genereller der Entgegensetzung von Kulturen und Zivilisationen. Obwohl etwa China bis zum Ende des 11. Jahrhunderts dem Westen technisch haushoch überlegen war, konnte es die Entwicklung von freien und angewandten Wissenschaften/Künsten auch nicht nur annähernd für die zurückliegenden siebenhundert Jahre derart bestimmen wie der Westen. In China war den Künstlern und Wissenschaftlern auf Grund anderer theologischer Voraussetzungen nicht jene Autonomie zugestanden worden, wie das im Westen der Fall war und noch bis heute etwa in Deutschland grundgesetzlich garantiert wird. Damit blieb In China die Hypothesenbildung für die Arbeit an der Natur auf wenige Autoritäten beschränkt (die des Vaters, die des Kaisers, die des Regierungshandelns, die des konfuzianischen Ethos und die der Traditionen und Sitten). Im Westen hingegen konnte sich jedes Individuum, gestützt auf die christliche Theologie der unmittelbaren Gotteskindschaft, als Aussagenautorität etablieren, eben als Autor. Und in Künsten und Wissenschaften darf zur Wahrung der Freiheit nur die Autorität von Autoren anerkannt werden, nicht die des Marktes, der Väter, der Kirchenchefs, der Fürsten oder Standesoberen.
Diese Freiheit musste ständig neu gewonnen werden. Jetzt scheint sie verloren, da in Künsten und Wissenschaften zum überwiegenden Teil der Markt, die Geldgeber der Wissenschaften oder die Gefälligkeitserwartungen der Medizin und des Rechts das Kommando führen. Scharenweise flüchten auch westliche Künstler und Wissenschaftler in den Schoß der Kirchen und Kulturinstitutionen...

Jörg Scheller: Auch die "künstlerische Forschung" böte in diesem Zusammenhang reichlich Diskussionsstoff!

Bazon Brock: …, eine ganze Gesellschaft hält in der Formulierung „Kunst und Kultur“ die Begriffe für Synonyme. Und diese Leute glauben sich auch noch dadurch adeln zu können, dass sie sich als Kulturschaffende behaupten, die sich über die tatsächlichen Träger jeder Kultur kraft ihrer Kreativität erheben wollen. Auch sie nur ein Spiegelbild der Kulturschaffenden mit der Kalaschnikow in der Hand.

Jörg Scheller: Lieber Bazon, vor allem hinsichtlich des letzten Punktes, der Gefügigmachung und Dienstbarmachung der Künste, teile ich Deine Skepsis und Kritik mit Nachdruck. Der embedded journalism ist gleichsam zum übergreifenden Paradigma geworden. Vor kurzem habe ich in der NZZ geschrieben, Du erlaubst mir das Selbstzitat: "Je tiefer der Graben zwischen Kunst und Kommerz, desto größer die wechselseitige Inspiration, im negativen wie positiven Sinne. Ein Spiegel, der auf dem zu spiegelnden Objekt liegt, spiegelt nicht. Embedded journalism sieht nur, was er sehen darf. Wie der Kapitalismus seine besten Tage hatte, als er sich noch vom Kommunismus abgrenzen musste, sind liberale Gesellschaften auf die unauflösbare Spannung zwischen Polen wie Kunst und Kreativwirtschaft angewiesen. Genau das hat die Kreativwirtschaft noch nicht verstanden. Kreativ-Adepten wollen Kunst für die Ökonomie produktiv machen und dabei vom Anderen profitieren, indem sie sie widersinnigerweise zum Eigenen erklären. Ein Kennzeichen kreativwirtschaftlicher Ausbildung ist es denn auch, zu lernen, wie man erfolgreich scheitert. Was kein Scheitern ist. Zu lernen, gegen den Strom zu schwimmen. Was ein Schwimmen mit dem Strom ist. Zu lernen, Überraschendes und Zufälliges einzuplanen. Was wenig überraschend und wenig zufällig ist. Zu lernen, Differenz zu kultivieren. Was indifferent ist."

Bazon Brock: Vielen Dank für diese partiellen Zustimmungen zu meinen jahrelangen Übungen in Vergeblichkeit. Für die Kreativwirtschaft gilt wie für die Auftragswissenschaft, dass man sie an ihren Früchten erkennt und das sind feine Früchtchen. Zum anderen wählen nur die dümmsten Kälber ihre Schlächter selber; aber das Kälber-Ethos, dass die Schlachter in dem von ihnen produzierten Blutstrom ersaufen werden, bewiesen nachdrücklich Himmlers oder Pol Pots Schlachtbetriebe. Auch die Bluttyrannis der Islamisten werden über kurz oder lang die Moslems selber als kontraproduktiv erkennen. Nicht zuletzt ihre Erfolge in Europa lehren sie bessere Methoden zum Erfolg, als es das Hinschlachten derer ist, denen gegenüber man eigentlich den Sieg feiern will.