Jeden westeuropäischen Kommentator der Aktivitäten von Literaten, Wissenschaftlern oder Künstlern aus nicht demokratisch verfassten Gesellschaften überfällt die prometheische Scham. Selbst in der abgeschwächten Form des Vorwurfs von Besserwisserei blockiert sie das Bemühen um Klarheit der Aussagen. Zum einen können schon Harmlosigkeiten des Kommentars den Kommentierten in Gefahr bringen. Andererseits werden gewichtige Einwendungen gegen die Aktivisten (beispielsweise Pussy Riot in der Erlöserkirche) sehr schnell von Zensoren als Verstärkung der Begründung der verhängten Verbote benutzt. Im „Falle“ Ai Weiweis ist es besonders heikel, Kritik an seiner Arbeit als einzig verbindliche Form der Anerkennung auszusprechen, denn diese Tradition der Kritik als Anerkennung gibt es offensichtlich in der chinesischen Kultur nicht. Dort versteht man immer noch Kritik als Widerstand, weshalb etwa Selbstkritik als Widerruf erzwungen wird. Vielleicht akzeptieren sogar die unangepassten Geister in der Volksrepublik China „Kritik als Anerkennung“ nicht, weil sie die Verpflichtung auf die marxistische Dialektik von Zensur und Liberalität nicht anerkennen, die ja unmittelbar mit der kritisierten Entfaltung des Kommunismus als Gesellschaftssystem verbunden ist. Wer etwas zensiert oder verfolgt, bestätigt damit die Bedeutsamkeit, ja die Macht des Zensierten.
Gibt es einen stärkeren Beweis für die Wirkung von Künsten und Wissenschaften als deren Verfolgung?
Autokraten, die Kunstwerke wegschließen, weil sie das öffentliche Wohl gefährdeten, demonstrieren eindeutig deren Wirksamkeit. Folgt daraus nicht, dass westliche Kommentatoren alles daran setzen müssten, Ai Weiwei der Verfolgung durch Politfunktionäre auszusetzen, weil auf diesem Wege die Bedeutsamkeit seiner Arbeit bestätigt würde? In der Tat konnte man den Eindruck gewinnen, dass viele im Westen die mehrmonatige Inhaftierung Ai Weiweis zum unüberbietbaren Beweis seiner künstlerischen Größe stilisieren wollten.
Bewertete man Ai Weiweis Arbeit wie die eines Kollegen aus den westlichen Demokratien, würde man gerade die spezifische Eigentümlichkeit seiner Arbeitsbedingungen vernachlässigen; beurteilte man ihn als Chinesen, dessen kulturelle Herkunft das Prinzip der Individuation nicht kennt und damit auch die Autorität des künstlerisch-wissenschaftlich sprechenden Individuums in seiner Kultur nicht zur Geltung bringen kann, dürfte man von ihm gar nicht als Künstler nach westlicher Definition sprechen.
Denn seit sechshundert Jahren gilt als ein Alleinstellungsmerkmal der europäischen Gesellschaftsentwicklung, dass Künstler und Wissenschaftler diejenigen Individuen sind, die ihre Aussagen ausschließlich auf eigene Verantwortung begründen und nicht als Angehörige einer Kultur/Religion und deren Autoritäten. Wer Chemie betreibt, kann seine Behauptungen nicht auf seine Kultur, seine Religion, seine Sprache stützen. Wissenschaftler und Künstler sind Sprecher, die sich für ihr Erkenntnisstreben vollständig von ihrer Kultur und Religion und deren Autoritäten abkoppeln müssen, obwohl sie nur durch Einpassung in eine Kultur- und Religions- und Sprachgemeinschaft lebensfähig wurden.
Wie kommen wir in dem Dilemma weiter? Mein Vorschlag heißt, zunächst immer wieder klarzumachen, wie in der westlichen Tradition stehende Künstler und Wissenschaftler sich unter totalitären Regimes verhalten haben, etwa in der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland und/oder unter heutigen Gegebenheiten. Ich sehe keine andere Möglichkeit, sich den Sachverhalten wirklich zu stellen, denn eine unmittelbar heutige Beschreibung und Wertung der Vorgehensweise von Ai Weiwei vorzugeben, lässt ungute Reaktionen befürchten.
Es dürfte den an Ai Weiwei Interessierten nicht schwer fallen, auf die nachfolgenden historischen Reminiszenzen die Erzählungen über die Werke und Tage, über das Handeln und Leiden Ai Weiweis zu projizieren.
Ein Beispiel: Ai Weiwei reiste in doch wohl geläufiger Sicherheit an jenen griechischen Strand, an den im vorigen Jahr ein Flüchtlingskind angeschwemmt worden war. Er positionierte sich vor laufenden Kameras als dieses ertrunkene Kind, ließ sich die am Strand auffindbaren Rettungswesten, Kleidungsstücke etc. aushändigen und kaufte noch ein paar Tausend Westen dazu, um nach ebenso gefahrloser Rückkehr nach Berlin aus dem Sammelgut seiner Expedition eine vorab schon spektakulär genannte Kunstaktion durchzuführen. Er ummantelte die Portikus-Säulen des Schinkelschen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt in Berlin mit den Rettungswesten. In den Medien wird mitgeteilt, der Künstler Ai Weiwei mache „mit diesem Kunstwerk auf das Elend der Flüchtlinge aufmerksam – und viele Touristen nachdenklich“. Donnerwetter!
Ich will das nicht weiter kommentieren, aber auf Parallelen bestehen, die unter demokratischen Verhältnissen aufgewachsene deutsche Künstler boten. Vor dem Bochumer Stadttheater luden sie das unternehmungslustige Publikum ein, sich für wenige Minuten in einem Lastwagenaufbau einschließen zu lassen, um einmal „nachzuempfinden“, wie es Flüchtlingen ergangen ist, die auf der Balkanroute in einem Transporter erstickt waren. Andere Künstler boten Bundestagsabgeordneten die „Chance“, sich in Booten auf der Spree am Reichstag in das empathische Mitleiden mit Flüchtlingen auf offenem Meer einzuüben.
Jeder ausdrücklich kritische, also auf Anerkennung basierende Vergleich solcher Bedenklichkeiten mit Aktionen von Ai Weiwei würde Reaktionen des deutschen Publikums nach sich ziehen, die ich vermeiden will.
Bleiben wir auf der historischen Vergleichsebene. Schon zu Beginn des Dritten Reiches wollte sogar ein Nobelpreisträger für Physik, für experimentelle Physik, die Deutschen aufrütteln aus ihrer vermeintlichen Gleichgültigkeit gegen die ebenso vermeintliche Dominanz jüdischer Physiker, indem er den spektakulären Begriff der „verjudeten Physik“ einführte. Er verstieß sogar gegen das Grundgebot seines Berufs als Wissenschaftler, kulturelle/religiöse/sprachliche Prägungen nicht über seine fachlichen Aussagen bestimmen zu lassen. „Aufrütteln gegen das Elend“ reicht offensichtlich nicht hin, um logisch sinnvolle Aussagen zustande zu bringen.
Besonders aufschlussreich für heutige Fragen nach politischen Haltungen von Künstlern ist die Kontroverse zwischen denen, die 1933ff. aus der Diktatur emigrierten, und den in Deutschland Gebliebenen. Der Vorwurf der einen Gruppe gegen die andere lautete, sie habe sich durch das Bleiben zum Büttel des totalitären Regimes gemacht; der Gegenvorwurf zielte darauf ab, die Geflüchteten hätten ja gar nicht selber den Totalitarismus erlebt und dürften deswegen auch nicht über das Verhalten in der Diktatur urteilen. Das bekannteste Beispiel für solche Auseinandersetzungen lieferten Klaus Mann mit seinem Brief aus dem Exil an Gottfried Benn im Sommer 1933 und Benns Verteidigung in der Schrift „Lebenswege eines Intellektualisten“ von 1934. Dem Einwand, die Streitenden hätten in ihren damaligen Befindlichkeiten nur situativ reagiert, begegnet man am besten, indem man deren Positionen nach dem Ende des totalitären Regimes bedenkt.
„Zunächst bin ich, wie wir alle, Prothesenträger. Wir bewegen uns in gewissen Gelenken – Antike, Humanismus, Religion, Kollektivismus, Nationalismus –, aber die Gelenke wackeln. Es sind, orthopädisch gesprochen, Schlottergelenke! Was ist da zu machen? Wo also ist Halt zu bekommen?“ Diese Frage stellte Gottfried Benn sich und seiner Generation nicht nur rhetorisch. Das Verlangen nach dem letzten, tiefsten, unzerstörbaren Fundament ist eine Grundfrage für jeden im Bewusstsein seiner Sterblichkeit Existierenden.
Wörtlich und anschaulich heißt Existieren das Herausragen über eine Standfläche, das Überragen eines Standpunkts. Poetisch gesprochen, meint das ein Hinübertragen des Sinns aus einer Ebene in eine andere, also zu metaphorisieren. Das ist eine bekannte Methode, Aussagen durch einen anderen Bezugspunkt zu verdecken und damit der Zensur zu entziehen. Je überragender etwas ist, desto wichtiger ist die Verankerung im Boden. Tiefer Schwerpunkt gibt Sicherheit, vermindert allerdings auch den Überblick. Volkstümlich entspricht dem die großväterliche Erfahrung, dass kleine geduckte Büsche Orkane besser überstehen als die hoch aufragenden Solitäre. Anpassung ist erfolgreicher als Widerstand.
Benn hatte sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, er habe sich aus latentem Faschismus zwischen 1933 und 1936 den Nazis angedient und keinen Widerstand geleistet. Die Projektion heutiger Problemlagen lässt diesen Vorwurf höchst zweideutig erscheinen, denn man kann sich ja, wie die gegenwärtige Lage zeigt, dem Gebot politischer Korrektheit gerade deshalb unterwerfen, weil man nicht den Verdacht totalitär-faschistischer Gesinnung auf sich ziehen will.
Wenn ich richtig informiert bin, hat Ai Weiwei einem großen dänischen Museum untersagt, weiterhin seine Werke zu zeigen, denn er wolle nicht in den Geruch faschistoider Tendenzen geraten. Anlass für seine überraschend rigide Intervention bot ihm das dänische Parlament, das die bisher als so liberal geltenden Asylregeln verschärft hatte. Dänemark wie die skandinavischen Länder wurden bisher weltweit als mustergültige Demokratien geschätzt. Jetzt plötzlich bezichtigt ein Kämpfer gegen die Unterdrückung von demokratischer Willensbildung gerade diese demokratische Willensbildung in Dänemark, undemokratisch zu sein. Ist dieser offensichtliche Widersinn tatsächlich bloß eine Frage der Opportunität, der Ideologie? Rechtfertigen vermeintlich höchste Ziele jedes Mittel, auch das der Auflösung jeder Logik als Basis vernünftiger Begründung des Verhältnisses von Mitteln und Zwecken?
Benn entlastet sich damit, dass alle Rechtfertigungen „schlottern“, sowohl die humanistischen wie die religiösen, die nationalistischen wie die universalistischen. Das ist ein bisschen sehr platt, so wie etwa die Behauptung, generell sei ja kein Mensch ohne Sünde, will sagen, ohne vorhaltbares Versagen. Es komme auf die Haltung an. Der Künstler habe nicht nur ausdrucksfähig zu sein, sondern Haltung zu zeigen: „Sich irren und dennoch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen – das ist der Mensch. Und jenseits von Sieg und Niederlage beginnt sein Ruhm.“ Eine bemerkenswerte Variante von Luthers „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Aber gerade mit dieser Entlastungsformel haben sich karrierebewusste Nazi-Günstlinge nach dem Zweiten Weltkrieg salviert, allen voran Albert Speer, der in schönster Nürnberger Prosa bewies, dass der bekennende Nazi ein guter Nazi gewesen sei, also kein Nazi, sondern ein Irrender, der gerade aus Anstand seinen inneren Überzeugungen weiter Glauben schenken musste.
Benn nannte solche Verquerungen das „Dilemma der Geschichte“. Als Militärarzt erlebte er es etwa in der offensichtlichen Tatsache, dass er nach 1937 den rachsüchtigen „Stürmern“ der Nazi-Partei hinter dem Schutzschirm des Militärs entgangen war, aber andererseits nicht erkannt hatte, wie sehr der Schutzschirm des Militärs den Tötungskolonnen im Hinterland der Front erst ihr mörderisches Geschäft ermöglichte.
Woran sich unmittelbar ein nächstes „Dilemma der Geschichte“ anschließt. Die systematische Ermordung von Millionen Juden wird eine weltgeschichtliche Einmaligkeit, ein nie dagewesener Zivilisationsbruch genannt. Nur mit dieser Kennzeichnung kann man der Ungeheuerlichkeit des Sachverhalts entsprechen. Wenn aber etwas als einmalig in der Geschichte gekennzeichnet wird, lässt sich daraus nichts lernen. Lernen will man gerade, um die Wiederholung von Desastern zu vermeiden. Mit dem Eingeständnis aber einer möglichen Wiederholung des als einmalig Bewerteten würde man dem Holocaust seine Einmaligkeit nehmen und damit die Ungeheuerlichkeit der historischen Taten unerträglich abschwächen.
Also das Dilemma der Geschichte … Wie kann man sich heute legitimieren, gegen die Politik von Regierungen anzutreten, wenn doch diese Regierungen demokratisch gewählt sind und die Regierten jederzeit die Möglichkeit hätten, ihre Vertreter abzuwählen? Wenn das nicht möglich wäre, gäbe es eben keine demokratische Legitimation der Regierung. Dann wäre es geboten, in den Widerstand zu gehen in der bestätigten Überzeugung, gegen Usurpatoren, Allmachtswahnsinnige, Ideologen oder Mörder in Amt und Würden mit allen Mitteln vorgehen zu dürfen. Ganz offensichtlich rechnet Ai Weiwei nicht jene zum dänischen Volk, die die Abgeordneten wählten, welche nun das Asylrecht und Einwanderungsgesetz veränderten. Er vollzieht damit nach, wogegen er sich in der Volksrepublik gerade gewehrt hatte, nämlich, dass Machthaber nach eigenem Gutdünken alle jene als Nicht-Patrioten ausgrenzen, die, wie Ai Weiwei, Freiheitsrechte in Anspruch nehmen. Auch mit dem Verbot von Ausstellungen durch autokratische Willkür hat Ai Weiwei hinreichend Erfahrung gemacht. Was veranlasst ihn nun, dem für seine programmatisch internationale Ausstellungspolitik bekannten Museum die Präsentation seiner Werke zu verbieten, nachdem die Aufnahme in die Künstlerliste dieses Museums als höchstgradige Anerkennung seiner Leistungen verstanden wurde? Das Verbot der Ausstellung jener Werke, die dort als Akte der Aufklärung und des Widerstands gefeiert wurden, sollte nun seinerseits Widerstand demonstrieren? Also Widerstand gegen Widerstand?
Ai Weiwei ist ja ebenso wenig wie Benn in den Untergrund gegangen, um dort mit allen denkbaren Mitteln die autoritären Chefs beseitigen zu helfen. Das erst wäre Widerstand unter eigener Lebensgefahr und in aller Ernsthaftigkeit ohne Anflug von Eitelkeit der Selbstvergrößerung. Wir glaubten, dass sich Ai Weiwei im Westen auf den Disput anstelle des Kampfes ums Ganze verpflichtet hätte. Denn in seinem Herkunftsland beklagte er das Fehlen dieser Bereitschaft zum Streit der Meinungen. Auch extremste Aktionen verstanden wir nur als Beitrag zu einem noch so radikalen, aber einem Disput. Mit dem Ausstellungsverbot kündigt Ai Weiwei seine Bereitschaft auf, sich den Prinzipien der rechtsstaatlichen Demokratien zu verpflichten – mit Gründen, die heute als selbstverständlich gelten: Man müsse der Gefahr von totalitären Entwicklungen durch Ideologisierung der Öffentlichkeit, sprich des „Volkes“, entgegentreten; man müsse den Anfängen wehren, weil das Volk eben totalitär verführbar sei. Die es nicht sind, gehören damit nicht zum Volk.
Aber Achtung: Regelmäßig erklären Machthaber, dass das Volk sich ihrer großen Vision als unwürdig erwiesen habe, Beweis: diese Visionen sind gescheitert. In neuester Version haben wir es mit dieser Selbstverklärung zu tun, wenn wir hören, dass eine demokratisch gewählte Amtsperson nicht gewillt ist, ihre Alleinentscheidung zu rechtfertigen.
„Wenn ich mich für meine in bester humaner Absicht getroffene Entscheidung rechtfertigen muss, ist dies nicht mehr mein Land“ und das heißt, nicht mehr mein Volk.
Im Namen des Volkes aber urteilen die Gerichte und legitimieren sich Systemveränderer. Das Dilemma der Geschichte? Volk kann nicht der demos der Demokratie sein. Demokratie heißt also Legitimation von Herrschaft nicht durch das Volk, sondern durch die Verpflichtung auf allgemeine Menschenrechte, also gerade auf das universelle Prinzip. Aber es gilt, wie für alle menschlichen Gegebenheiten, dass niemand und keine Gruppe verpflichtet ist, mehr zu leisten, als sie kann. Also steht der Bezug auf universelle Menschenrechte unter dem Gesetz „nemo ultra posse obligatur“. Darauf aber beziehen sich die chinesischen Machthaber in ihrer Fürsorge für die Zukunft der chinesischen Kultur.
Kündigt demzufolge Ai Weiwei seine Zugehörigkeit zur chinesischen Kultur auf, wenn er gegen die Machthaber argumentiert? Ai Weiwei benutzt ganz ostentativ in vielen seiner Arbeiten Zeugnisse der chinesischen Kultur, seien es Keramiken oder Möbel, Architektur- oder Naturrelikte, wobei er in anfechtbarer Weise Phänomene wie Korruption, Vetternwirtschaft und Schlamperei in besonderer Weise auf chinesische Verhältnisse bezieht. In der monumentalen Arbeit für das Haus der Kunst in München zielt er ganz direkt auf das „Was geht es mich an?“ jener Autoritäten ab, in deren schlampigen Schulbauten Tausende von Kindern einem Erdbeben zum Opfer fielen. Damals in München war die Fassade des nationalsozialistischen Kunstbekenntnisbaus mit unzähligen Schulranzen überhangen, deren farbliche Komposition als Schriftzeichen gelesen werden sollte. Solche Besetzung von öffentlichen Bauten wie dem Haus der Kunst oder dem Schinkelschen Schauspielhaus ist schon seit langem der Werbewirtschaft geläufig. Mit Vorliebe werden Nationaldenkmäler, ja sogar Sakralbauten eingekleidet mit riesiger Produktpropaganda. Das Dilemma der Geschichte? Was Christo mit der Ganzkörperverkleidung sogar des Reichstags recht ist, behauptet die Warenpropaganda als billig. In der Tat gibt es ja kaum noch ein bemerkenswertes Kulturmonument auf der Welt, das nicht von touristischen Angeboten metaphorisiert wurde. Universale Bestimmungsgrößen unseres Daseins wie Liebe, Glück, Erfolg, Gesundheit, Anerkennung etc. wurden zuschanden in dem Augenblick, in dem sie in völliger politischer Korrektheit zu Ordensschnallen des Massenkonsums wurden. Millionenfach wurde das Bild des ertrunkenen Flüchtlingskindes in der Erlebnispresse und im Erlebnisfernsehen, ganz zu schweigen vom Internet, vereinnahmt. Wie kann ein Künstler darauf hoffen, mit der Wiederholung des Motivs tatsächlich politischen und nicht kommerziellen Zielen zu dienen, wo doch längst von allen, auch den demokratischen Parteien anerkannt ist, dass Werbung für Politik und Politiker sich in nichts von der Werbung für Produkte und Firmen unterscheiden darf, wenn sie wirksam sein will. Das Dilemma der Geschichte wird zum Dilemma der Kunst.
Kunstwelt und Marktgeschehen sind nicht mehr zu trennen, das entscheidende Kriterium der erfolgreichen Künstlerarbeit ist der erzielte Marktpreis, der seinerseits wieder vom Aufmerksamkeitsgewinn des Künstlers abhängt wie der Warenerfolg von der Werbung.
Ai Weiweis Leistung als Zeitgenosse der westlichen wie der nichtwestlichen Welt besteht gerade darin, sich vorbehaltlos auf dieses Dilemma einzulassen mit allen Konsequenzen, die das für die Selbstachtung des Akteurs, seine Glaubwürdigkeit, seine Beispielhaftigkeit hat. Er nimmt das auf sich, was wir ungern auf uns nehmen, nämlich uns als höchst bedenkliche Täter und Werker in Wirtschaft, Politik, Kultur, Kunst und Wissenschaft erkennen zu müssen und zu gelten.
Als Bekenner akzeptieren wir den notwendig beschränkten Horizont; als Behaupter von Kenntnissen der Natur- und Geschichtsbewegung folgen wir zu häufig der bloßen Gerüchteverbreitung, weil uns spezifische Fähigkeiten fehlen; als Wirtschaftssubjekte verpflichten wir uns auf das eigene Interesse vor den anerkannten Notwendigkeiten des Allgemeinwohls; als Künstler und Wissenschaftler sind wir offenbar vorbehaltlos willens, uns dem Urteil von Financiers auszusetzen, die mit der Bewilligungen der Produktionsmittel über unsere Arbeit bestimmen, obwohl sie, ganz gegen den Sinn von Wissenschaft und Kunst, definierte Gegenleistungen erwarten; als Bürger blähen wir uns immer noch zu Repräsentanten unserer Kultur auf, obwohl Bürger nur sein kann, wer gerade mehr als seine kulturelle Identität vertritt; als Rädchen im großen Räderwerk bemühen wir die Logik von Lufthansa, Bundesbahn und öffentlichem Busverkehr, die amtlich verkünden, im Durchschnitt sei mit „Verspätungen von 30 Minuten zu rechnen“, ohne auf die Idee zu kommen, anhand dieser Feststellung die Fahr- und Flugpläne zu ändern. Man kann jenem Busfahrer die Ängste um seinen Arbeitsplatz nachempfinden, der auf die Beschwerde, er habe nicht an angesagten Stationen gehalten, antwortet, das sei ihm nicht möglich gewesen, da er sonst den Fahrplan nicht hätte einhalten können; als Politiker nutzen wir immer noch unsere Macht, uns gerade über jene Probleme hinwegzusetzen, zu deren Bemeisterung wir berufen sind und sei es auch nur, dass wir in Blaulichtkohorten oder im Hubschrauber den Staus entgehen, an deren Auswirkungen verfehlte Verkehrspolitik gemessen wird. Ist es ein Trost, dass der daraus resultierende Allmachtswahn ausnahmslos zum Ende der Karriere führt? Wohl kaum, denn mit diesem Ende der Omnipotenzphantasten ist nicht das Ende der Leiden jener verbunden, die diese Herrschaften einst an die Macht gelangen ließen.
In heutiger wie in historischer Perspektive ist Ai Weiweis Wirken in jedem dieser leichtfertig Paradoxie genannten Dilemmata zu werten. Seit langem wissen wir, dass erzwungene Unmittelbarkeit nur im Kitsch möglich ist, dass aber gerade der Kitsch unüberbietbar deutlich macht, worum es geht. Kitsch oder Pornographien der Politik, des Kapitals, der Gottsucherbanden, der selbstgewissen Aufgeklärtheiten sind die Marker der Zeitgenossenschaft. Einer der unübersehbaren Marker, ein Leuchtturm der Lüge zur Rettung der Wahrheit und der Fälschung als Erkenntnismittel ist eben Ai Weiwei. Alles, was an ihm diese Zeitgenossenschaft ausdrückt, macht ihn groß. Eine herausragende Erscheinung, eine überragende Größe unser aller Ohnmacht und der Hoffnung auf ein immer sinnvolleres Scheitern. Ai Weiwei, ein Bergprediger. Und wir hören ihm zu gerade in dem Maße unseres Zweifels. Das lässt hoffentlich erkennbar werden, wie sehr Kritik heute die einzige Form unverdächtiger Anerkennung ist.