Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erschienen
24.12.1976

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
24.12.1976

Wir leben vom Beispiel

Es scheint schwerer zu sein, 'einfache' Antworten auf besonders wichtige Fragen zu akzeptieren, als die Antworten zu finden; weil wir uns fürchten vor dem Eingeständnis, nicht einmal der 'einfachen' Antwort Folge leisten zu können. Wir akzeptieren eher Antworten, die wegen unzähliger 'wenns' und 'abers' bloß hypothetischen Charakter haben; die soweit über unsere konkreten Lebensmöglichkeiten hinausgehen, daß wir sie niemals erreichen oder verwirklichen können. Gerade deshalb haben aber Antworten dieses Typs große Bedeutung: sie ermöglichen Kritik an unseren eingeschränkten und eingefahrenen Lebensformen. In diesem Sinn leben wir immer nur von der Differenz zwischen den unser Handeln tatsächlich beherrschenden Normen und den Werten, denen wir Verbindlichkeiten zugestehen.

Wie hängen Werte und Normen zusammen? Normen sind Handlungsanweisungen, die durch Verweis auf Werte begründet werden. Wo liegt das Problem? Wohl kaum im Auffinden der Werte, sondern in der Frage, welche befolgten Handlungsanweisungen (Normengefüge) folgerichtig, ja zwangsläufig zur Erfüllung der Wertpostulate führen. Leider kann solche Folgerichtigkeit, geschweige denn Zwangsläufigkeit nicht und niemandem garantiert werden. Es gibt nur eine unmittelbare Beziehung von Handlungen auf Werte, wenn nämlich das Einhalten (oder bewußte Durchbrechen) von Normen selbst schon als Wert gilt. Zu dieser schwachen Lösung des Problems greifen wir alle, vor allem aber die strikt 'wertbezogenen' Politiken in Ost und West. Damit aber geben wir auf, was die Anerkennung verbindlicher Werte allein sinnvoll macht: Kritik an unseren Handlungen.

Über diese Lösung hinaus führen nur die so wenig akzeptierten 'einfachen' Antworten. Ich gebe die folgende: wir leben tatsächlich nur von der Fähigkeit, glauben zu können: d.h. uns auf die Welt einlassen zu können, ohne auch nur im entferntesten alle Gründe und Gesetzmäßigkeiten, Begründungen und Erklärungen für unser Handeln wie für den Bestand der Welt außer uns angeben zu können. Ohne solche Fähigkeit des Glaubens ist Leben nicht möglich, da nur ein kleiner Teil unserer Handlungen explizit ausdrücklich begründbar ist. Glaube sollte nicht als theologische, geschweige denn als kirchliche Kategorie mißverstanden werden; glauben zu können, ist eine Grundvoraussetzung unseres Lebens.
Warum ist die Glaubensfähigkeit bei uns so diskriminiert? - obwohl Glaubensbekenntnisse offensichtlich doch mehr gefragt sind als Wissensbekenntnisse? Die verweltlichten Kirchen, die Parteien und Wissenschaften, leben vom Glauben ihrer Mitglieder und behaupten doch, sich auf objektives Wissen allein zu stützen.

Warum die aggressive Abwehr des Glaubens, obwohl man allenthalben versucht, jemanden etwas glauben zu machen? Weil man in einer Konkurrenzgesellschaft kaum jemandem Vertrauen entgegenbringen kann, muß man Ansprüche mit angeblich objektivem Wissen legitimieren. Nicht vertrauen, also nicht glauben zu dürfen, aber beständig auf Glauben angewiesen zu sein, erzwingt dogmatische Wissenschaften, Parteien und Kirchen, in denen alle Werte als blanke Normen gelten. Wer die Zumutungen des Glaubens aushält, wer vertrauen kann, schafft einen Wert, indem er ein Beispiel gibt. Von solchen Beispielen für gelungene Bewältigungen der Lebensanstrengungen leben wir; oder, wie der Naturwissenschaftler Pascal sagte und immer mit sich herumtrug: wir leben nicht vom Gott der Kirchen und der Wissenschaften, sondern vom Glauben der Väter, von ihrem Beispiel des gelungenen Lebens. Das Beispiel ist der höchste Wert des Glaubens.

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