Buch Die Re-Dekade

Kunst und Kultur der 80er Jahre

Die Re-Dekade – Kunst und Kultur der 80er Jahre, Bild: Titel.
Die Re-Dekade – Kunst und Kultur der 80er Jahre, Bild: Titel.

Die Reihe »Zeit Zeuge Kunst« beschäftigt sich mit den Entstehungsbedingungen und der Rezeptionsgeschichte von Kunstwerken. An ausgewählten Beispielen der historischen und zeitgenössischen Kunst werden verschiedene Interpretationsmodelle vorgestellt, um zu einem besseren Kunstverständnis beizutragen.

Bazon Brock, einer der führenden Ästhetiker, Kulturtheoretiker und Diagnostiker des Zeitgeistes, wertet in dem Band »Die Re-Dekade« die wichtigsten Ereignisse aus Kunst und Kultur der 80er Jahre unter der Perspektive unserer Zukunftserwartungen für das letzte Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Die 80er Jahre sind nach Meinung des Autors durch Wiederholungen, Wiedergewinnung von Gewesenem, von Vergangenern, durch Rückbezüge und Rückkehr bestimmt. Wenn er auch dieser Haupttendenz nicht jegliche Qualität und Legitimation absprechen will, bleibt er doch in einer überwiegend kritischen Haltung. Zwar haben die bildende Kunst und die künstlerisch engagierte Architektur in diesem Zeitraum einen enormen Zuwachs an gesellschaftlicher Bedeutung erfahren, Bazon Brock sieht jedoch den Preis dieses Erfolgs im Zerfall des künstlerischen Anspruchs, der zugunsten einer leichten Konsumierbarkeit und eines schnellen Verschleißes aufgegeben werde. Zwischen diesen Polen bewegt sich die vorliegende Untersuchung.

Illustration: Wassermann, Simon

Erschienen
1989

Autor
Brock, Bazon

Verlag
Klinkhardt und Biermann

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3-7814-0288-6

Umfang
298 S. : Ill. ; 23 cm

Einband
Pp. : DM 48.00 (freier Pr.)

Seite 31 im Original

1.4 Einer für alle: Selbsterregung der Täter – eine rhetorische Oper zur Erzwingung der Gefühle

Zur Ohnmacht der Macht

(Akteur im Triumph- und Segnungsgestus)

Gegen die Diktatur des Witzfleisches im Theater und gegen die Überwältigung durch Erschöpfung.
Als er noch Ich war, unternahm er drei Versuche, sich endlich zu entscheiden.

Wie Hitler zum Schauspiellehrer Devrient, ging er zum Schauspiellehrer Hungerbühler, damit der ihm beibringe, über Großes endlich wieder groß zu reden. Er ist gescheitert.

Wie Rilke den Psychologen C. G. Jung, suchte er den Professor Ringel in Wien auf, damit er ihm beibringe, den schönen Frauen nicht mehr nur auf Biedermeiertischchen Tintenflecke zu opfern, sondern sich mit ihnen gemein zu machen, hingegeben den Wonnen der Gewöhnlichkeit, sie platt zu drücken auf dem Rasen mit einem fiesen Lächeln. Was C. G. Jung dem Rilke antwortete, ist bekannt: „Mensch, Rilke, kopulieren können schließlich Millionen, dichten Sie um Himmelswillen weiter.“ Was Ringel ihm sagte, ist andeutungsweise durchgesickert. Es möge ein Gerücht bleiben, daß er die Pistole zog. Wie Axel Cäsar Springer und mit ihm die gesamte Führungsmannschaft der deutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zum Unternehmensberater Wulff, der ein Astrologe war, nach Hamburg pilgerte, damit der ihnen sage, wann der Sternenlauf mit ihren unternehmerischen Entscheidungen konveniere und wie man Macht über Menschen gewinnen könne und noch deren Dankbarkeit gewiß sei, so zog er zum Unternehmensberater Mattenklott nach Düsseldorf. Mattenklott war ihm gegenüber nicht halb so erfolgreich wie Wulff gegenüber Springer und den Seinen.

So sieht er sich denn gezwungen, einen erneuten Anlauf zu nehmen, um endlich Schluß zu machen.
(Akteur trägt tarnfarbene Kampfhose, Nyltesthemd, schwarzen Sacco eines Konfirmandenanzugs, breite großknotige Edelkrawatte der fünfziger Jahre). Er hat sich vor Ihnen heute hübsch artig in seinen Konfirmationsanzug gesteckt, um zu bekunden, daß er einer von Ihnen sein möchte. Confirmare: Gemeinsamkeit bekennen, obwohl die moderne Version der Konfirmation wohl eher in der Aufnahme in den Klatschmarsch zu bestehen scheint und als willentliche Einstimmung in die Aufforderung des Leadsingers: „Und nun alle!“ Vielleicht aber sollte das protestantische Ehrenkleid nur darauf hinweisen, daß er schon getauft sei; wichtig in Zeiten, da unter den Intellektuellen, vor allen denen seines Alters, geradezu ein Wettbewerb im Geheimtaufen ausgebrochen ist; geheim wohl deshalb, damit die Betreffenden auch nur im Geheimen zu lieben, zu glauben und zu hoffen brauchen. Möglicherweise dienen die Geheimnisse aber nur der Steigerung ihrer Medienwirksamkeit: ein Ereignis als geschehen zu behaupten, ohne dafür den geringsten Beweis antreten zu müssen.

Aber nehmen wir die Sache gut. Folgen wir den vielen Vorstellungen, wieder Gralsgesellschaften zu etablieren, Geheimgesellschaften als soziale Agenturen, in denen das zum Ereignis wird, was nicht geschieht. Ein schon gegenwärtig, aber erst recht für die Zukunft folgenreicher und wichtiger Typus des Handelns, alles daran zu setzen, daß nichts geschieht. Deshalb wollte er unbedingt sein Leben und alles, was mit ihm vorging, als Nichtereignis verstehen, als einen Versuch, sich selbst zu verhindern, als Selbstfesselungsversuch – wo alle Welt glaubt, es käme darauf an, die Spontaneität zu kitzeln und endlich das Tier rauszulassen, das da in uns heult.

Nach seiner letzten Raserei in der Schweiz hatte er es sich endlich merken wollen. Er hatte es aufgeschrieben und memorierte es täglich nach dem Kaffeetrinken: Faszination der Macht im unersättlichen Sehen der Massen, das war die Faszination vor dem Guten, Wahren, Schönen.
Faszination der Macht im unersättlichen Sehen der Massen: von der Schönheit blieb nur die Kosmetik; sie aber immerhin formt uns, nutzt unsere Plastizität, um uns dem Bild einer Idee zu unterwerfen, jener Vorstellung, die wir von uns haben wollen. Faszination, die wir von uns haben wollen.

Faszination der Macht im unersättlichen Sehen der Massen: das war die Faszination vor dem Guten, von dem leider schon Aristoteles sagen mußte, daß es nur verschwistert mit der Politik wirksam werden kann. Von dem Guten blieb nur die Karriere, aber immerhin noch eine Vorstellung davon, was es einst hieß, sich einem großen Ziel zu unterwerfen. Sie läßt uns ahnen, was vormals Sieg bedeutete.

Faszination der Macht im unersättlichen Sehen der Massen vor dem, was wahr, unsterblich ist und Dauer hat; davon blieb der Paarlauf, die Faszination der Harmonie und Symmetrie, die uns aber doch noch zu zeigen vermögen, was einst Heil hieß. Faszination der Macht im unersättlichen Sehen der Massen: Uns, Sieg, Heil – doch wohl eine bedeutsame historische Variante.

Aber der Paarlauf zwischen uns und unserem Willen wird nicht gelingen, wenn wir wie bisher nur glauben, uns mit den Opfern identifizieren zu müssen, anstatt mit den Tätern. Das unersättliche Sehen muß zum unerbittlichen werden, das Sehen zum Gesehenwerden, das Opfer selbst zum Täter und zwar nicht nur, weil es ein grausamer Psychomechanismus zwingt, sich mit dem Täter zu identifizieren, um überhaupt überleben zu können.

Er hatte es sich aufgeschrieben und alle Vorstellungskraft und allen Verstand darauf verwendet, es sich endlich zu merken; war dann aber sehr überrascht, als er feststellen mußte, daß alle anderen offensichtlich längst wußten, worum es ging. Als er zum Beispiel absichtslos durch Kaufhäuser schlenderte, vorbei an den Grabschtischen, entdeckte er dort Textilien wie diese (Akteur holt aus einer Plastikeinkaufstasche ein Bündel Unterwäsche), mit merkwürdigen Inschriften: „Freitag“, „Montag“, „Mittwoch“ und mit Emblemen wie einem Telefon und drei angespitzten Bleistiften. Wem galten diese Mitteilungen? Waren sie das Eingeständnis, daß das Sehen sich längst zum Gesehenwerden entwickelt hatte; daß die Opfer sich längst als Täter verstanden und die Täter als Opfer? Galten sie der Trägerin dieses Textils, die sich selbst bereits so weit entfremdet war, daß sie sich ihre Wünsche vom Höschen ablesen mußte? Galten sie dem, der so weit vorangekommen war, die Mitteilungen überhaupt wahrnehmen zu können, damit der sich seiner Täterrolle erinnerte und nachher, mit einem Telefonanruf wenigstens, die Frage klärte: „Und mit wem, bitte, hatte ich die Ehre?“

Als er nach Amerika reiste, hörte er, daß dort Menschen wahllos in die Menge schießen. Wenn dann Zeitungen die Namen und Adressen der Opfer veröffentlichten, begannen die Täter sogleich, das Leben der zufällig Getöteten zu rekonstruieren mit einer Hingabe, mit aller Inbrunst und Gefaßtheit, zu der selbst Archäologen und Liebhaber nur selten fähig sind; und das alles mit dem Ziel, die Ermordeten in ihren Gemeinschaften als Märtyrer zu verehren.

(Akteur bewegt sich durch eine verwüstete Chefzimmerlandschaft, dabei umwickelt er seine linke Hand mit einem weißen Handtuch und hängt sich eine Tragetasche in Gestalt eines grauen, quaderförmig behauenen Pflastersteins über die Schulter; Akteur verweist auf das Durcheinander auf dem Boden des Zimmers.) Nach dem spektakulären Ende ist die Polizei dagewesen; so sieht es überall aus, wo die Polizei nach Letztbegründungen sucht. In seinem Chefzimmer, das ist ja bekannt geworden, baute er sich einen Hochaltar des bürgerlichen Ichs, eine Art Labor zur Erzwingung der Gefühle, von denen er glaubte, daß alle anderen Menschen sie besäßen, weil sie litten und lachten und dennoch merkten und wußten, was in der Welt vor sich geht.

Für seine Versuchsanlage hatte er mit einer gewissen peinlichen Akribie Zeichen all dessen zusammengetragen, worauf es ihm offensichtlich ankam (Akteur verneigt sich, verbeugt sich, grüßt etc. in verschiedene Richtungen des Raumes): Die Haine Griechenlands; die Künste und Wissenschaften; die Herrschaft; die Macht und ihre Opfer; die bürgerlichen Sitten und die großen Männer. (Akteur zieht aus den Trümmern die Büste einer antiken Heldenstatue und plaziert sie auf der linken Seite des Raumes auf einem Sockel; Akteur verweist auf die Büste.)

So hatte man ihm beigebracht, sich zu sehen: erhöht, enthoben, erhaben und so (Akteur zeigt Personalausweisfoto) war er gezwungen, sich täglich auszuweisen.

Bei dem Versuch zu rechtfertigen, was ohnehin unabdingbar ist, aber menschlich tröstlich, weil es für alle gilt, fand er es möglicherweise bedeutsamer, wie alle anderen zu sein, anstatt sich von ihnen so zu unterscheiden wie antike Helden und Götter. (Akteur spricht mit der Büste.) Auch bemerkte er bald, als er sich zu ihnen hinaufarbeiten wollte, daß sie in gewisser Hinsicht fiese Figuren waren, klägliche Charaktere, Lügner, kleinlich, geizig, dämlich, zwar getrieben vom Geist und von ihm besessen, aber genau das verdankten sie nicht sich selbst. (Akteur rahmt Personalausweis und plaziert ihn in Höhe der Büste auf der rechten Wand des Raumes.)

Andererseits, wenn er sich einreihte und genau zu wissen schien, was an anderen ihm glich, dann beschlich ihn das Gefühl, nicht vorhanden zu sein; eine bloße Vervielfältigung dessen, was da ohnehin unzählig wimmelt.

(Akteur richtet aus dem Trümmerhaufen eine Reihe von Lorbeerbäumen und Zypressen auf und arrangiert sie zu einem Hain auf der linken Seite des Raumes schräg vor der Heldenbüste.)

In solchen Augenblicken fühlte er sich berechtigt, durchaus im Bewußtsein, selber nur aus Dreck und Mangel zu bestehen, in Tempeln, in ausgegrenzten Bezirken und heiligen Hainen den Göttern zu begegnen, der Erhabenheit in der Stille, der Furchtlosigkeit, dem Tod. Aber die großen Worte wurden ihm schnell leer. Er kannte sich zu gut und wußte, daß er mit den Göttern eigentlich nur ein Geschäft arrangieren wollte.

(Akteur kramt kleinbürgerliches Nelkenensemble mit entsprechender Vase, Tischdeckchen, Beistelltischchen aus dem Gerümpel und beginnt, das Ensemble auf der rechten Seite des Raumes in Höhe der Lorbeerbäumchen aufzubauen.) Da erschien ihm das, was er von seinem Vater gehört hatte, als die viel tiefere Art, sich auf die Wirklichkeit einzulassen. Der Vater hatte gesagt: „Junge, merk's Dir, wirklich ist nur das, worauf wir keinen Einfluß haben.“ Es rührte ihn, daß es Menschen gab, die sich vor den großen allgemeinen Verständigungsfloskeln auf das Kleinste zurückzogen, auf eine einsichtsvolle Dummheit. Aber war das nicht eigentlich würdelos, nur ein Akt kleinbürgerlicher Selbstbescheidung, stillos, ekelhaft? Er wollte über diese banale Form des Glücks hinaus, wie jene ewig Unzufriedenen, die von sich behaupteten, ohnehin niemals glücklich werden zu wollen. (Akteur putzt mit Staublappen das Tischensemble.) Das hatte er bisher nicht verstanden. Jetzt wandte er sich an diese anderen und bot ihnen an, sich mit ihnen gemeinsam für ein Drittes, ein großes Ziel ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben einzusetzen. (Akteur wechselt auf die linke Seite des Zimmers, hebt einen Heldengedenkkranz aus dem Plunder und hängt ihn an die rechte Zimmerwand, schräg vor die Hainbäumchen.) Als er aber zu denen kam, die täglich bereit waren, ihr Leben zu opfern – zu den Müttern, den weißen Krankenschwestern, den Hilfsdienstleistenden – wurde ihm klar, daß diese Art, sein Leben dranzugeben, nur eine besonders perfide oder raffinierte Form der Erpressung darstellt. Er hatte es oft gehört, von seiner eigenen Mutter: „Du wirst noch einmal bittere Tränen vergießen, wenn ich nicht mehr da bin, weil ich mich für dich geopfert habe!“ Sich daran erinnernd, beschloß er, auf eine andere Weise sich nützlich zu machen, durchaus für andere Menschen, aber nur mit Angeboten, die es ihnen ermöglichten, sich selbst zu helfen. Wie jeder, der etwas Tiefes denkt, dachte auch er in Gestaltanalogien. Er konnte die Gestalt deuten und sie im Konkreten fassen. (Akteur wühlt einen weißroten gestreiften Rettungsring hervor, hält ihn neben den Heldengedenkkranz und wechselt auf die rechte Seite, um den Rettungsring dort in Höhe des Heldenkranzes auf der Wand zu plazieren.) Man sah ihn an den Ufern seiner Stadt 180 Lebensrettungsringe anbringen. So richtete er sein Leben darauf aus, was ihm das Wichtigste war: sich wechselseitig zu garantieren, daß man nicht allein ist. Als er eines Tages im Frühling an seinen Ufern spazieren ging, um das Dasein der anderen Menschen zu genießen, hörte er in einiger Entfernung vom Ufer einen Menschen im Wasser laut um Hilfe schreien. Die Spaziergänger schien die Situation einigermaßen zu amüsieren. Als er sie mit Empörung wegen der Unangemessenheit der Reaktion zur Rede stellte, lernte er, daß man niemals um Hilfe rufen soll, wenn es wirklich ernst ist. Die anderen könnten das für einen Spaß halten.

Also versuchte er herauszufinden, wie man sich denn in prekären Situationen sinnvoll verhalten kann, und er wandte sich den Künsten und Wissenschaften zu, für die er durchaus glaubte, Verständnis zu besitzen, seit ihm einmal in Schulzeiten ein Lehrer, der zugleich Physik und Kunst unterrichtete, sagte: „Schauen Sie einmal durch dieses Mikroskop. Entspricht das Bild nicht genau jenen Tröpfelmalereien unserer 50er Jahre?“ Seither war er bereit, Vernunft und vor allem Abstraktion für die bedeutendsten Geisteskräfte zu halten (Akteur plaziert neben Heldenkranz auf der linken Seite das Gemälde „Reine Vernunft“ von B. J. Blume), und er beteiligte sich auch daran, für sie einen Ausdruck zu finden. Als er ihn allerdings gefunden hatte, wußte er nicht mehr, Ausdruck wofür. Da erinnerte er sich daran, bei seinen Eltern einen ganz anderen Gebrauch dieser Bildkräfte erlebt zu haben, in wunderbaren Darstellungen dessen, was diese Menschen vom Künstler erwarten. (Akteur demonstriert an einem zweiten Gemälde von B. J. Blume, das in auratischem Strahlenkranz einen Suppenteller und den Schriftzug Gott zeigt; er hängt das Bild in Höhe der „Reinen Vernunft“ auf die rechte Wand des Zimmers.) Zwar auch ein auratisches Strahlen, aber nur als Zeichen der Verehrung und des Dankes. Ein guter Umgang mit Bildern, sie einzusetzen, um selbst nicht verantwortlich sein zu müssen, sich selbst zurücknehmen zu können ins Gefühl, glücklich zu leben im Zustand der Gnade, daß einem jemand zuhört und offensichtlich auch noch antwortet, indem er etwas Lebenswichtiges gibt. Wenn er aber dann im Wohnzimmer, die Hände lebensfromm vor den Bildern gefaltet, saß, und die Nachbarn mit den Eltern ein wüstes Gezänk über den Preis des täglichen Brotes, die Qualität des Brotes, die Gestalt des Brotes begannen, verließ ihn fluchtartig die Gewißheit der Gnade, daß ihm gegeben werde. Er wollte sich alles selbst verdanken. Das, hatte er gehört, sei der Geist der Moderne.

(Akteur wechselt auf die linke Seite, arrangiert dort einen Stahlschwinger-Sessel von Eames unter dem Bild der „Reinen Vernunft“.) Zu den Modernen ging er, zu den Ingenieuren, den Konstrukteuren und den Designern, in die Kathedralen der Arbeit, des Verkehrs und in die Kathedralen des Wohnens. Sitzen ist eben nicht bloß eine Tätigkeit, sondern eine geistige Leistung. Bei ihnen fand er die Instruktionen und Richtlinien, denen sie offenbar ihren Erfolg verdankten. (Akteur zieht Sartres „Kindheit eines Chefs“ hervor, setzt sich auf den Eames-Schwinger und liest.) Und er las und las, aber er konnte kein Buch von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Er durchsetzte das Gelesene mit brutalen Anmerkungen, strich es zusammen und wenn er an Stellen kam, die er nicht verstand, machte er dem Autor heftige Vorwürfe, sich nicht klar ausgedrückt zu haben. Er las: „Zum ersten Mal fühlte sich Lucien voller Selbstachtung. In seinen eigenen Augen war er respektabel. Er hatte nach bestem Wissen und Gewissen die gründliche Bestandsaufnahme all dessen gemacht, was er war. Sollte ich aber nur sein, was ich bin, wäre ich auch nicht mehr als dieser kleine miese Jude. Erster Grundsatz, sagte Lucien, nicht versuchen, in sich hineinzusehen. Es gibt keinen gefährlicheren Fehler. Den wahren Lucien, das wußte er jetzt, mußte man in den Augen der anderen suchen, im furchtsamen Gehorsam und der hoffnungsvollen Erwartung all dieser Wesen, die für ihn heranwuchsen und reiften. Dieser jungen Lehrlinge, die seine Arbeiter werden würden. Die Einwohner von Ferol groß und klein, deren Bürgermeister er eines Tages sein würde. Lucien hatte beinahe Angst, er fühlte sich fast zu groß für sich selbst. So viele Menschen erwarteten ihn, die Waffe in der Hand, und er war, er würde immer diese ungeheure Erwartung der anderen sein. Das ist ein Chef, dachte er.

Und er sah wieder einen muskulösen und höckrigen Rücken auftauchen und dann gleich danach eine Kathedrale. Er war drin, ging unter dem gedämpften Licht, das durch die Kirchenfenster fiel, auf Zehenspitzen darin umher. Nur diesmal bin ich die Kathedrale.

Eine Uhr schlug zwölf. Lucien stand auf, die Metamorphose war beendet. In dieses Café war eine Stunde zuvor ein anmutiger, aber unsicherer Jüngling eingetreten. Es war ein Mann, der es verließ. Ein Chef unter den Franzosen. Lucien ging ein paar Schritte im glorreichen Licht eines französischen Morgens. An der Ecke Rue des Écoles, Boulevard St. Michel trat er an eine Papierhandlung und betrachtete sich in der Fensterscheibe. Er hätte auf seinem Gesicht gern den undurchdringlichen Ausdruck gefunden, den er auf Lemordins Gesicht bewunderte. Aber die Scheibe warf ihm nur ein eigensinniges, hübsches kleines Gesicht zurück, das noch nicht schrecklich genug war. Ich werde mir einen Schnurrbart wachsen lassen müssen, beschloß er.“

Nach solchen Exerzitien sehnte er sich regelmäßig in die Wohnung seiner Eltern zurück. Sie hatten ganz anders dagesessen, sich einer anderen Aufgabe des Sitzens unterworfen. (Akteur arrangiert unter dem Gottbild kleinbürgerliche Sitzgruppe auf der rechten Seite des Zimmers und läßt sich in einen der Sessel fallen.) Sie saßen, als sei das Sitzen endgültig. Verharrend zwar in Erwartung, aber in tiefer Ruhe und ohne den Zwang, auf etwas anderes denken zu müssen, als daß dies Sitzen andauern würde für alle Zeit. Sich selbst so hinzusetzen, gelang ihm nur, wenn er an Thomas Mann oder Richard Strauss dachte; die hatten zwischendrin auch mal die Füße unter den Tisch gestreckt oder Skat gedroschen, um dann aber am nächsten Morgen sofort wieder eisern Bedeutung zu stechen.

Er folgte seinem Vater auch in der Lektüre. Morgens nach dem Aufstehen ging der Vater Brötchen holen und die Zeitung. Dann trank er mit seiner Frau Kaffee und las die Zeitung und wenn er an Worte kam, die er nicht verstand, las er nach. (Akteur liest aus Kaisers Fremdwörterbuch) „Fasces, Rutenbündel, Zeichen der Macht; Faszination, Verblendung, Bezauberung; Fatalismus, Glaube, der Wille sei ohnmächtig, da Schicksal vorherbestimmt ist; Fata morgana, Erscheinung, Luftspiegelung; Fatuität, Blödsinn; Fauteuil, Arm- und Lehnsessel; Fauxpas, falscher Schritt, Verstoß gegen die guten Sitten.“

Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Welt überhaupt weitergehen würde, wenn alle so dasäßen. Wird das Leben nicht doch durch die bewegt, die etwas wollen? Zu denen ging er, zu denen, die die Macht wollen.

(Akteur wechselt auf die linke Seite, entdeckt ein Kofferradio, das sich auf Knopfdruck in eine Maschinenpistole verwandelt.) Seiner Zeit gemäß, glaubte er nicht mehr so recht an die guten alten Folterinstrumente der Macht, die er in seinen Kinderbüchern kennengelernt hatte. Man sagte ihm, die modernen Medien der Macht sind andere, und er probierte sie aus und fand heraus, daß das stimmt. (Akteur stellt das Radio-Maschinenpistolen-Objekt wie eine Skulptur an der linken Zimmerwand schräg vor dem Eames-Sessel auf.)

Die aber die Macht hatten, redeten untereinander von nichts anderem als von ihrer eigenen Ohnmacht, und das ließ sie im Geheimen bleiben; und sie sagten, sie hätten die Macht eigentlich nur haben wollen, um ihrer eigenen Ohnmacht begegnen zu können. Sie erzählten von einem amerikanischen Präsidenten, der ein mächtiger General gewesen war und sich nun, nachdem er Präsident geworden, bitter darüber beklagte, nicht einmal mehr die Macht zu haben, sich eine Tasse Kaffee bringen zu lassen, wenn er das wünsche.

(Akteur wechselt auf die rechte Seite, findet eine Krücke und versucht sie zu benutzen.) Er lernte von den Mächtigen vor allem eins, wie man denn Beweise für Macht erbringen könne. Es müssen Opfer der Macht her. Es muß das, was ohnehin geschieht, als etwas Gewolltes dargestellt werden, als etwas Zielausgerichtetes, als innerer Zwang, als unaufhebbare Gesetzmäßigkeit des Handelns, der man sich nicht ungestraft entzieht. Also arrangierte er eine Reihe von Opfern, deren Zustand es ihm erlaubte, daran zu glauben, selber etwas außerordentlich Bedeutsames bewirkt zu haben. In öffentlichen Feiern dankten sie ihm dafür, in diesem Zustand nun viel intensiver das Leben zu spüren: Gerade Krücken ließen sich freudig schwingen.

Schon bei den Menschen, mit denen er täglich eng zusammenlebte, kam er mit seinen Vorstellungen von Wirkung, von Präsenz und Größe nicht weiter. (Akteur wechselt auf die linke Seite, bemächtigt sich einer Hundepeitsche, um sie schließlich neben dem Radioobjekt dekorativ an der linken Zimmerwand zu befestigen.) Mit dieser Macht war nichts getan, wenn sie nicht auch zur Herrschaft werden würde. Man sagt, seine eigene Frau habe ihm durch Äußerung entsprechender Wünsche zum ersten Mal den Unterschied zwischen Macht und Herrschaft beigebracht. Er hatte von seinen Eltern die Angewohnheit übernommen, seine Frau Mammi und sich selbst Papi zu nennen. Jetzt kaufte er sich einen Hund, um dessen Herr zu werden. Der Hund sprang vor Schreck unter ein fahrendes Auto.

Es gibt Andeutungen, daß er das traurige Ereignis zu vergessen suchte, indem er sich auf das bewußtlose Spiel der Kinder zurückzog, in deren Absichtslosigkeit und Selbstvergessenheit. (Akteur hantiert entsprechend mit einem ledernen Medizinball; er spielt ihn auf einen am Boden stehenden Globus zu; er setzt sich auf den Medizinball hinter den Globus.) Aber auch diese Erfahrung trieb ihn nur zu einer Konsequenz, der er gerade hatte entgehen wollen. Man sah ihn jetzt immer häufiger mit einem Reisegepäck behangen.

(Akteur streift die Steintasche von der Schulter, öffnet sie und läßt aus ihr einen zweiten Stein derselben Art zu Boden krachen.) Als man die Tasche öffnete, bemerkte man, daß er auf sehr eindeutige und drastische Weise seinen Zustand zu kennzeichnen versuchte: als bloßes Produzieren von Tautologien. Durch dieses Ereignis aufmerksam geworden, las man nun einige frühere Episoden seiner Biographie mit völlig neuen Augen. In seiner Jugend war er labil gewesen, nun gut, was heißt das schon. Eines Tages, im Frühherbst, wenn die Bauern mit dreischarigen Pflügen die Erde brechen, war er mit einer drei Meter langen Nadel und mit tausenden Metern Garn hinter einem Traktor hergegangen, um die Erdfurchen wieder zuzunähen. Der Bauer holte die Polizei, die Polizei einen Psychiater; der Vorfall scheint für ihn bestimmend geworden zu sein. Denn der Psychiater hatte gesagt, man könne sein Verhalten durchaus einsichtsvoll nennen.

(Akteur wickelt das Tuch von seiner Hand.) Als man ihn fand, hatte er in seiner Hand eine Niveadose. Sie zeigt auf dem Deckel unsere Erdkugel, das Bild unserer Welt und trägt am Rande mehrfach wiederholt die Umschrift „Pflege ohne Grenzen“. In Einsicht, Erfahrung und Zweifel über das, was ihm zu tun bleibe, da ohnehin alles geschehe, und er seine Anstrengungen nur darauf richten konnte, das Geschehende zu verhindern, hatte er wohl dasitzen wollen, um dieser Aufforderung „Pflege ohne Grenzen“ zu entsprechen. Heilung der Erde, tautologisch zwar, aber schließlich blieb ihm nichts anderes zu tun.
(Akteur öffnet die Niveadose und beginnt, den Globus pfleglich mild mit der Creme zu bestreichen und schließlich völlig einzustreichen.)

Nordirland und England – die Deutschen Ost, die Deutschen West – die Serben, Kroaten, Albaner – die Litauer, Letten und Russen – die Aserbeidschaner und Armenier – die Perser und Iraker – Israel, der Libanon – Nordjemen, Südjemen – die Pakistani und Inder – die Kambodschaner und Vietnamesen – die Tibeter und Chinesen – die Siberiaken – die Wale und Delphine in den Ozeanen – die Eskimos in Kanada – die Indianer und Schwarzen in USA – die Salvadorianer – Nicaragua – Panama – Kolumbien – Chile – Argentinien – Brasilien – das Ozonloch am Südpol – der Plankton im Atlantik – Mauretanien – Libyen – Äthiopien – Südafrika und Namibia – die Pygmäen und Tapire – die Elefanten …
So sitzend müssen wir ihn uns vorstellen, wenn wir zu glauben vermöchten, daß auch er glücklich war. (Akteur salbt die niveabeschmierten Hände, daß es nur so matscht und blubbt.)

siehe auch: