Ausstellungskatalog Persönlichkeit werden… zum höchsten Glück auf Erden. Wagt es!

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18. Ausstellung im Haus Dt. Ring, Hamburg, 17. Oktober - 3. Dezember 1978 / [Hrsg.: Dt. Ring, Lebensversicherungs-Aktienges., Hamburg]. Nach e. Konzept von Bazon Brock

Brock inszenierte 1978 die Ausstellung ›Persönlichkeit werden… zum höchsten Glück auf Erden. Wagt es!‹ im Haus Deutscher Ring, Hamburg, mit Environments, Fotodokumentationen und Action-teaching. Zur Ausstellung erschien eine Katalogbroschüre gleichen Titels, Hamburg 1978, aus der die folgenden Texte - teilweise überarbeitet - entnommen sind.

Erschienen
01.10.1978

Autor
Brock, Bazon

Verlag
Haus Deutscher Ring

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Umfang
NULL

Seite 81 im Original

Sich exponieren in Bildern und Texten, ohne leibhaftig anwesend zu sein

Mode als Mittel der Exponierung

Wenn wir auf die Bedeutung der Moden für die Exponierung hinweisen, so soll damit nicht nur gemeint sein, daß jedermann die Kleidung benutzt, um sich anderen zur Wahrnehmung anzubieten; um also zu sagen: »Seht her, hier ist jemand, der von euch bemerkt werden will, um mit euch in dieser gegebenen Situation in Beziehung zu treten.« Jede Bekleidung ist >aufreizend<, nämlich die Wahrnehmungen anderer reizen - ganz gleich, ob es sich um ein dekolletiertes Abendkleid mit Flitterglanz oder um eine asketische, schlichte Mönchskutte handelt.

In welchem Sinne aber der Reiz verstanden wird, hängt davon ab, ob (um in unserem Beispiel zu bleiben) in einer Gesellschaft der Anblick des nackten Busens etwas Alltägliches ist oder nicht. Und nur dort, wo man reichornamentierte, vielfältig geschnittene und kostbare Kleidung schätzt, wird die Kutte als auffällig schlicht verstanden.

Mode: Gesellschaftlich bedingte, veränderbare Interpretationsmuster

Alle von einer jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe vorgegebenen Kriterien der Interpretation von Reizen, die in einer Exponierung ausgesandt werden, sollen im Begriff »Mode« erfaßt werden. Sich der Moden zu bedienen, um sich zur Erscheinung zu bringen, soll also heißen, daß man sich mehr oder weniger bewußt jener Interpretationsmuster von Reizen bedient, die gesellschaftlich und kulturgeschichtlich bedingt sind und die sich deshalb im Laufe der Zeit verändern.

Körpersprache als Mittel der Exponierung

Es gibt aber viele Interpretationsmuster, die sich in geschichtlicher Zeit kaum verändert haben, weil sie aus der Stammesgeschichte der Menschheit herrühren; das Lächeln eines Menschen wird immer und überall als Zeichen der Freundlichkeit verstanden; die geballte Faust wird immer und überall als Zeichen der Drohung interpretiert.

Körpersprache: Stammesgeschichtlich bedingte, unveränderbare Interpretationsmuster

Solche uns zwingend vorgegebenen Interpretationsmuster von Reizen, die beim Exponieren ausgesandt werden, sollen im Begriff »Körpersprache« zusammengefaßt werden. Körpersprache war immer schon Gegenstand des Interesses von Künstlern (zum Beispiel für die Maskenformer des griechischen Theaters) oder von Wissenschaftlern (zum Beispiel für Lavater, der versuchte, eine Wissenschaft vom Ausdruck des menschlichen Gesichts zu entwickeln). Erst in jüngster Zeit gelang es, anhand weltweit geführter vergleichender Studien die Körpersprachen der vielen Menschen als die Körpersprache des Menschen herauszuarbeiten .

In der Exponierung sich durch Körpersprache und Mode zur Erscheinung zu bringen muß also heißen, sich der menschheitsgeschichtlich und gesellschaftsgeschichtlich entstandenen Interpretationsmuster zu bedienen - oder ihnen auch bloß ausgeliefert zu sein.

Sich exponieren, ohne leibhaftig anwesend zu sein

Das gilt für alle Akte der Exponierung, in denen jemand leibhaftig in Erscheinung tritt, also persönlich anwesend ist. Für jene Akte der Exponierung, in denen jemand nicht leibhaftig anwesend ist, sondern durch Bilder, Zeichen, Bücher, ein Schriftstück oder durch die Erinnerung der leibhaftig Beteiligten vergegenwärtigt wird, kommen noch weitere, entscheidende Interpretationsmuster hinzu: nämlich diejenigen Muster, nach denen wir Persönlichkeitsausdruck darzustellen und die Darstellung zu lesen gelernt haben.

Repräsentation durch Bilder

Auch beim Malen und Beschauen des Porträts eines Menschen sind wir natürlich an jene Interpretationsmuster gebunden, die wir als Körpersprache und Mode bezeichnet haben. Da aber Bilder und Texte herzustellen und zu gebrauchen keine selbstverständliche und auf gleiche Weise für alle Menschen aller Kulturen und Zeiten gegebene Fähigkeit ist, kommt den jeweils in den einzelnen Kulturen zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich entwickelten Herstellungs- und Gebrauchsformen von Bildern und Texten eine ausgezeichnete Bedeutung zu.

Laufen als Knien

Man muß zum Beispiel erst lernen, daß die archaischen Griechen das Laufen als Bewegungszustand eines Menschen etwa so darstellten, wie wir das Aufstehen eines Knienden darstellen würden.

Christus als Verkehrspolizist

Man muß erst lernen, daß der angewinkelte, mit der Handfläche nach vorn und bis in Ohrhöhe erhobene rechte Arm Christi auf einem Wandbild des 14. Jahrhunderts nicht als »Halt« zu verstehen ist, wie wenn ein Verkehrspolizist uns in gleicher Haltung entgegentritt, sondern als Verweis auf die Kreuzigung und deren Bedeutung für das Weltverständnis des Christen gelesen werden soll.

Erfindung der Darstellungsformen, die heute noch wirksam sind

Wie entstehen solche bildlichen und textlichen Formen der Darstellung und ihres Gebrauchs? Für die meisten der heute bei uns gebräuchlichen läßt sich nachweisen, daß sie (zugleich mit vielen heute nicht mehr gebräuchlichen) von Künstlern und Wissenschaftlern zwischen 1400 und 1600 n. Chr. entwickelt worden sind. Unter den vielen Erfindungen sind nur einige über lange Zeit, bis heute, beibehalten worden; die anderen können wir heute, obwohl sie erst einige hundert Jahre alt sind, kaum noch verstehen; eben weil sie tatsächlich Erfindungen einzelner Künstler und Werkstätten waren.

Beschränken wir uns auf wenige Beispiele der bildlichen Darstellung von Persönlichkeitsausdruck, ohne dabei zu vergessen, daß auch für Texte Darstellungsprobleme wichtig sind (Stil, Aufbau, Verständlichkeit des Textes etc.). Vor allem darf nicht vergessen werden, daß Bilder selten oder nie ohne begleitende Texte gebraucht werden und daß Bilder und Texte nie außerhalb eines situativen Zusammenhangs gebraucht werden.

Formale Konzepte des Porträts

Vor allem: Es mußte erst einmal von Künstlern die Möglichkeit erfunden und erprobt werden, einen Menschen so zu porträtieren, daß aus dem Gemälde und nicht erst aus einem beigefügten Namen oder anderen Angaben der Porträtierte als eine konkrete Person gekennzeichnet ist. Natürlich konnten die europäischen Künstler zwischen 1400 und 1600 gelegentlich auf Darstellungstraditionen der Etrusker, Griechen und Römer zurückgreifen (von denen man allerdings damals wenig wußte); aber die künstlerischen Mittel, das Selbstverständnis der Künstler wie das der Porträtierten hatten sich seit der Antike erheblich verändert; die Lebensformen waren andere geworden wie auch die Lebensumgebungen, die Gebrauchsgegenstände, Moden etc. Das zwang die Künstler meistens zu völlig neuen Vorgehensweisen, Auffassungen und Mitteln. Sie mußten erst wieder herausfinden, wie und warum man Personen im Brustbild, als Halb- oder Ganzfigur darstellt: sitzend, stehend, kniend, liegend - und in welcher Haltung, welchem Gestus, welcher Mimik, welchem Lebensraum.

Werkstätten machen Schule

Erst allmählich spielten sich in einzelnen Werkstätten, Regionen und Ländern feststehende bildliche Darstellungs- und Aussageformen ein: die formalen und konzeptuellen ikonographischen Topoi. So dominierte zum Beispiel kurz nach 1400 in den Niederlanden die Auffassung, man solle einen Porträtierten so mit allen seinen Runzeln, Warzen und Narben darstellen, daß seine Unverwechselbarkeit und besondere Einmaligkeit hervortrete. Dagegen stand zur gleichen Zeit in den oberitalienischen Städten die Auffassung im Vordergrund, den Porträtierten in erster Linie als einen Repräsentanten seiner Bezugsgruppen, seiner Gesellschaft und deren Selbstverständnis zu kennzeichnen; erst in zweiter Linie galt es, seine individuelle Besonderheit zur Geltung zu bringen.

Idealisierendes und individualisierendes Porträt

So entwickelte sich die Unterscheidung zwischen repräsentativem und privatem Porträt, die Unterscheidung zwischen idealisierendem und individualisierendem Porträt. Diese Unterscheidungen sind heute noch wirksam, wie man aus einem Vergleich des offiziösen Fotos eines Staatsoberhauptes für die Amtsstuben und eines Fotos des gleichen Mannes für sein Familienalbum auf den ersten Blick entnehmen kann.

Der Präsident bohrt in der Nase

Interpretationsmuster für den Alltag

Wie ist das zu verstehen, zumal ja inzwischen Porträts kaum noch von Malern hergestellt werden, sondern von Fotografen. Wieso machen wir alle auch unbewußt diese Unterscheidung mit, wenn wir uns beim Fotografiertwerden zwangsläufig in Posen werfen? Das geschieht, weil eben auch die Interpretationsmuster der Alltagswahrnehmungen von Nichtkünstlern ganz entscheidend durch die beständige Konfrontation mit Bildern geprägt werden. Die Hersteller dieser Bilder, die Künstler, beziehen sich aber immer auf die Bilderzeugungen ihrer Vorgänger- auch dann, wenn sie sich deutlich von ihren Vorgängern unterscheiden wollen. So bilden sich Traditionsketten, an die unsere Wahrnehmungen gefesselt bleiben. Haben nicht aber die Bilderzeuger unserer Zeit Darstellungs- und Auffassungsformen hervorgebracht, die ihre Vorgänger nicht kannten: beispielsweise alle jene, die in den Medien Film und Fernsehen angewandt werden?

Ganz was Neues aus unserer Zeit?

Als diese Medien noch jung waren, sprach man vom Film als Folge von Bildern, die sich bewegen. Bilderabfolgen aber kannten auch die Künstler in Vorfilmzeiten (sogar in der Antike schon als Bildstreifen). Und Bewegung konnte man damals auch darstellen, allerdings in und durch die Bilder und nicht bloß durch die Abfolge von Bildern. Heute greifen gerade anspruchsvolle Filmmacher auf diese alten Darstellungsformen wieder zurück, weil sie bemerkt haben, daß es um Darstellungs- und Aussageformen geht und nicht bloß um die Mittel der Darstellung.
Die Mittel haben sich in der Tat wesentlich verändert; die Darstellungs- und Aussageformen, soweit sie für den Persönlichkeitsausdruck in Bildern in Frage kommen, werden hingegen durch Traditionsbildungen bestimmt, die sich nur sehr langsam ändern. Was das bedeutet, erfährt man jeden Tag in den Medien, in denen dem Publikum Bilder von Personen geliefert werden, die einen Aussageanspruch erheben. Mit den tagesüblichen Schnappschüssen läßt sich aber kein Persönlichkeitsausdruck vermitteln, sie sagen über die Personen gar nichts aus. Ein solches nichtssagendes Bild wird jedoch vom Publikum so gelesen, als ließen sich aus ihm Hinweise auf die Persönlichkeit des Abgebildeten entnehmen. Fazit: Das nichtssagende Bild - oder das nur zufällig bedeutsame Bild, da ja stets von einem Text begleitet wird - zerstört auch die Aussage des Textes; es bleibt nicht aus, daß sich beim Publikum das Gefühl totaler Beliebigkeit der Aussagen einstellt. Desorientierung anstelle von Information.

Da jeder heute durch Verfügung über einen Fotoapparat zu einem Bilderzeuger geworden ist, gilt es auch für den eigenen Gebrauch, die Darstellungsformen von Persönlichkeitsausdruck zu kennen, damit man nicht immer bloß zu den Hunderten ungenutzt herumliegenden und wahrscheinlich auch kaum nutzbaren Familien- und Ferienfotos die gleichen hinzufügt. Sehen Sie sich einmal Ihre Fotoalben an. Wie häufig, wenn überhaupt, ist aus diesen Fotos etwas über Ihren Persönlichkeitsausdruck zu entnehmen? Gibt es Fotos, die einen Hinweis auf Ihr Weltbild geben: auf den Zusammenhang, in dem Sie Ihre Arbeit und Ihr Leben sehen; die das Wesen Ihrer Arbeit vergegenwärtigen? Ist den Fotos zu entnehmen, welche Bezugsgruppen und Orientierungsgeber Sie haben? Kann man in den Fotos sehen, wie Sie auf andere wirken und was Sie für andere bedeuten? Welche Gegenstände, die Ihnen etwas bedeuten, sind dargestellt, und erfährt man etwas darüber, wieso Sie diese Gegenstände anderen vorziehen?
Nehmen Sie sich eine Reihe von Menschendarstellungen aus einer Epoche der Kunstgeschichte vor an Hand von Postkarten, die man in Buchhandlungen, Ausstellungen und Museen kaufen kann. Versuchen Sie, den Kunstpostkarten diejenigen Ihrer Fotos zuzuordnen, die Ähnlichkeit mit den Karten zu haben scheinen. Durch eine solche Analogiebildung Ihrer Fotos mit den jeweiligen Postkarten können Sie erkennen, in welcher Hinsicht sich Postkarten und Fotos unterscheiden - und darauf kommt es an. Wahrscheinlich wird es Ihnen wie mir ergehen: Sie werden erkennen, was ihren Fotos fehlt, um tatsächlich Ausdruck Ihrer Persönlichkeit zu sein. Vielleicht achten Sie dann bei nächsten Fotografiegelegenheiten darauf, die Darstellung so zu wählen, daß die Fotos über Sie selbst mehr aussagen als die üblichen Schnappschüsse.