Radiobeitrag Deutschlandradio Kultur

Erschienen
19.03.2014

Station
Deutschlandradio Kultur

Sendung
Thema

Length
11 min

MH370 „Wird keine Folgen haben“

Ein verschwundenes Flugzeug und das Entstehen des Unheimlichen, Bazon Brock im Gespräch mit Ulrike Timm

Der verschwundene Flieger MH370 führt uns vor Augen, wie wenig Kontrolle wir über das Leben haben, meint Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik in Wuppertal. Gleichzeitig fasziniert uns so eine Tragödie - aus Langeweile.

Ulrike Timm: Ein Flugzeug ist weg, 239 Menschen sind weg, spurlos verschwunden, und das Suchgebiet reicht mittlerweile von Asien bis Australien. Kein Mensch weiß, was mit MH370 passiert ist, ob es sich um Sabotage, eine Selbstmordflug des Piloten, um Terror oder Entführung handelt. Millionen Internetnutzer inspizieren den Ozean mit Digital Globe, aber das Flugzeug ist weg. Für die Angehörigen ist das grausam. Es gibt kaum noch Hoffnung, Menschen lebend zu finden, und wenn das Flugzeug tatsächlich ins Meer gestürzt ist, gibt es wohl nicht einmal mehr die Möglichkeit, sie wenigstens zu bestatten, die Opfer.

Aber die Beunruhigung, das Ohnmachtsgefühl darüber, das reicht ja noch in die ganze Welt hinaus. Da haben wir eine volldigitalisierte Welt, reden ständig über Überwachung, die uns doch viel zu weit geht, und dann gibt es sie wohl doch, die schwarzen Löcher, das gänzlich Ungewisse, den totalen Kontrollverlust. Und darüber spreche ich jetzt mit Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik in Wuppertal und Fachmann für ungewöhnliche Fragestellungen, als Denker vom Dienst, wie er sich selber nennt – herzlich willkommen, Bazon Brock!

Bazon Brock: Ja, hallo!

Timm: Ja – Sendepause – niemand weiß wirklich, was passiert ist, alle stochern herum. Was macht das mit uns in einer Welt, die doch voller Daten steckt?

Brock: Es macht mit uns einen Aufklärungsprozess, nämlich zu erkennen, dass es ja eine Illusion ist, wenn wir annehmen, alles sei kontrolliert, alles liefe nach Plan, alles ließe sich vor- und zurückbewegen bis an die Ursprünge und bis in die geplante Zukunft. Wo sind eigentlich diese 15,2 Billionen Hilfsmittel geblieben, die wir seit 2008 in die Wirtschaft gepumpt haben? Ja, die sind jetzt bei der Staatspleite beziehungsweise bei den Staatsschulden – was heißt das? Wo ist das? Das heißt, alle diese Fragestellungen des Alltagslebens werden plötzlich in einer anderen Weise beleuchtbar.

Timm: Also es gibt schwarze Löcher, überall.
Spektakel aus Langeweile

Brock: Ja, nein, das heißt wohl, wir machen ein Spektakel aus so einer Affäre, um zu kaschieren, dass unser gesamter Alltag ja aus solchen Löchern besteht. Es ist eigentlich, wo Sie hingucken, immer das Gleiche: Sie können sich eigentlich gar nicht mehr retten, und da, wo es langweilig wird, stellt man Zauberer ein, die ganze chinesische Mauern wegzaubern, wie man sich aus dem Fernsehen als Zuschauer noch erinnern kann. Flugzeuge sind kleine Dinger für so einen Zauberer, ja, Elefanten, das ist doch schon ein bisschen interessanter. Da schauen wir zu und staunen, das eigentliche Spektakel heißt: Wir möchten gerne, dass es diese Art von Kontrolle gibt, weil wir so schlecht es ertragen, dass der liebe Gott uns doch nicht sieht, dass er doch nicht alles sieht, dass er vielleicht doch nicht allmächtig ist. Vor allem, dass alle anderen Instanzen, die an seine Stelle treten wie die NSA oder so, eben doch nicht das tun und leisten, was sie versprechen.

Timm: Wir suchen ja eine Mikrobe, oder noch kleiner. Ich weiß nicht, wie klein der Vergleich sein müsste. Ein 60-Meter-Flugzeug, wahrscheinlich irgendwo im Ozean zwischen Asien und Australien – irgendwo. Das ist das Wahrscheinlichste. Nun sprachen Sie nicht nur den Kontrollverlust, sondern auch die NSA an. So grausam das für die Angehörigen ist, gesamtgesellschaftlich kann man ja auch fragen, ein bisschen hilflos-böse, wo ist die NSA, wenn man sie wirklich mal braucht.

Brock: Das wären so kabarettistische Varianten. Nein, die Sache ist schon ernster, als man sich das so zutraut. Wir müssen uns schon klar sein, dass das Entscheidende unseres Wissens über die Welt auf Hypothesen und Vermutungen besteht, und dass wir gar nicht mit Fakten arbeiten, weil jedem Faktum das Gegenteil gegenübersteht. Gegenüber dem Faktum oder den Fakten stehen die Kontrafakten, also das, was gerade nicht wahr ist. Und wenn man auf Fakten besteht, muss man ständig auf das orientiert sein, was nicht faktisch ist. Also führt die Faktenhuberei dazu, dass wir in immer höherem Maße auf das Kontrafaktische orientiert sind. Also den Wahnsinn, die Unberechenbarkeiten, die Willkür, die Panik, das Mysterium, die Spiritualität et cetera. Es ist ein grundsätzlicher Irrtum, anzunehmen, dass wir heute rational kontrolliert seien. Im Gegenteil. Die Rationalität fehlt in einem hohen Maßen. Die Berechenbarkeit fehlt in einem hohen Maße. Der Ausdruck der Empörung über so ein Geschehen ist ja nur das Eingeständnis eines Defizits.

Timm: Jetzt haben Sie uns die Lage beschrieben, aber zu Anfang auch gesagt, wir müssten uns was zutrauen. Was genau könnten wir denn jetzt aktiv uns zutrauen in so einer Situation, im schwarzen Loch, so ein Flug ist weg, schreckliche Begebenheit, und letztlich, letztlich weiß es niemand, was überhaupt ist. Niemand weiß, ob es Terror ist, Entführung, Sabotage, Selbstmord – niemand weiß irgendwas. Alle tun, als ob. Auch ein Teil des Spiels.
Aufrauung ihres Alltagslebens

Brock: Das würde ich auch anders sehen wollen. Die Leute strömen ja in Scharen in Kinoveranstaltungen, bei denen sie dieses Unheimliche, the uncanny heißt das im Fachwort, ja, das unheimliche Strömen von Spiritualleibern, von merkwürdigen Wesen, die sich aus Antimaterie bilden, was auch immer, und führen sich das im Kino zu Gemüte – die sind doch also alle trainiert. Was reden wir eigentlich? Das empfinden die sogar als Unterhaltung, als Kitzel, als wunderbare Aufrauung ihres Alltagslebens. Wieso soll jetzt plötzlich das Verschwinden eines Flugzeugs so ein außerordentliches Ereignis sein. Das ist tatsächlich das Eingeständnis, dass man sich da nicht zutraut, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, nämlich voller Löcher. Die Welt ist eben ein Käse, bei dem man – also jetzt kosmologisch gesprochen, weil diese Wurmfraßvorstellungen der Kosmologen ja dazu führen, den ganzen Kosmos als eine Art von Schweizer Käse mit Zufahrtslöchern zu sehen.

Es ist auch im Hinblick auf die Ableitung von Ereignissen – wenn man wirklich sich überlegt, wie unwahrscheinlich es ist, dass ich eine Handlung etwa im Straßenverkehr so ausführen kann, wie ich sie wünsche, was für unglaubliche Zufälligkeiten da gesteuert werden können beziehungsweise müssen, dann merkt man, dass unsere Weltgewissheit auf sehr tönernen Füßen steht. Wir müssen einfach mehr lernen, in Hypothesen, wie jeder Wissenschaftler. Ein Wissenschaftler kann nie mit Sicherheiten arbeiten, sondern mit einander gegenübergestellten Hypothesen. Wir müssen eine Vermutung begründen, und zwar möglichst gut begründen, so dass sie andere Vermutungen nicht ausschließt, und das ganze Welterfahren ist ein Wechselspiel zwischen diesen verschiedensten Annahmen. Und da gilt eine spirituelle Annahme, eine Glaubensannahme oder eine philosophische oder wissenschaftliche Annahme so gut wie jede andere auch. Das Wechselspiel dieser Annahmen macht das Entscheidende.

Wir müssen also wirklich lernen, realistisch die Welt einzuschätzen. Und wie es schon immer hieß: Es ist kein Realist, wer nicht an das Wunder glaubt. Und hier haben wir die Demonstration eines Wunders im eigentlichen Sinne. Etwas fehlt vor aller Augen, es ist gesichert in Datenströmen, und plötzlich verschwindet es aus unserem Bewusstsein. Aber das passiert jeden Tag. Wer denkt noch an die Opfer von vorgestern beim Absturz? Wer denkt noch an die Leute im indischen Ozean oder wo auch immer sie abgestürzt sind. Morgen ist das Opfer von heute völlig vergessen. Das ist ja genau das, was wir jetzt feststellen.

Timm: Ich möchte noch mal zurück zum kleinen, einsamen Menschen, der so ein schwarzes Loch dann aushalten muss für sich selbst, und habe mich mal gefragt, ob es etwas in etwa Vergleichbares gibt. Ich dachte, vielleicht die Vermissten im letzten Weltkrieg. Also, mein Vater bekam irgendwann Ende der 70er die Nachricht, dass nach seinem Bruder nun nicht mehr gesucht würde, nach Jahrzehnten. Nur auch dieser Vergleich hinkt natürlich, denn da gab es noch keine volldigitalisierte Welt, die meint, im Guten und im Schlechten aus dem Gedanken heraus zu leben, wir finden dich immer. Das war noch eine andere Welt, da konnte man sich vielleicht auch leichter mit abfinden. Heute kann man sich ja auch schwer damit abfinden, weil es, Sie haben die Unberechenbarkeit anschaulich beschrieben, aber es gibt sie nun mal, diese vielen, vielen Daten, diese anscheinend berechenbare Welt, auf die man sich doch in 90 Prozent aller Fälle so wunderbar zu stützen meint.
"Das ist ja eine Perversion"

Brock: Also ich kann Ihnen zusichern, hinreichend begründen zu können durch Studien, dass gerade die sogenannten kleinen, einsamen Menschen nicht ein Weltbild haben, wie wir das hier produzieren, alles ist stabil, alles ist sicher, alles kann berechnet werden. Wir haben eine Zukunft, wir können planen. Diese Einzelmenschen haben gerade keine Zukunft der Planbarkeit. Die leben ständig in so einer Situation, die wir jetzt spektakulär hier empfinden. Ich gehöre zur Kriegskindergeneration. Für mich ist die Suchmeldung nach Kindern, unter anderem auch aus meiner Familie, heute noch akut im Ohr. Das Suchverhalten ist das Grundverhalten der Menschen.

Die Vergewisserung, wir brauchen nur in einen Laden zu gehen, da steht alles, wir brauchen nur in die Zeitung zu gucken, da steht alles. Wir brauchen nur ins Radio zu hören, ist ja eine Perversion, die gerade nicht dem realen Empfinden der Menschen entspricht. Wir müssen uns halt wirklich auf die Realitäten einlassen, und das heißt, die Welt beugt sich nicht unserem Willen, unserem Mutwillen. Wir können der Welt nicht unsere Wünsche aufzwingen, wirklich ist nur das, worauf wir gerade keinen Einfluss haben. Denn wenn alles das wirklich wäre, was wir mit unseren Gedankenvorstellungen formen, dann wären wir in der Psychiatrie. Dann könnte ja jeder alles Mögliche für wirklich halten. Diese Ereignisse sind so ungeheuer wichtig, weil sie zeigen, dass sich die Welt unserem Mutwillen entzieht. Und das ist eine grandiose Lehre, die wir hier erteilt bekommen.

Timm: Ganz unabhängig davon, ob man dieses Flugzeug noch findet, das man Tage, Wochen, Monate lang in der Luft hängt, ein schwarzes Loch erlebt und das nicht für möglich hielt – was meinen Sie, wird das Folgen haben für die Gesellschaft? Wird dieses Flugzeug, das verschwunden ist, wird das ein prägender Einschnitt bleiben?

Brock: Nein. Das wird überhaupt keine Folgen haben, denn diese Erfahrung machen alle aufgeweckten Menschen sowieso pausenlos. Was haben wir davon, wenn uns jemand erklärt, der Pilot oder Kopilot oder Leute an Bord waren wahnsinnig? Was ist das für eine Erklärung? Die sagt ja auch nicht mehr als das, was wir jetzt annehmen. Ist die Erklärung, sie waren tottraurig, sie waren selbstmörderisch veranlagt – ist das eine Erklärung? Nein, das sind keine Erklärungen. Das sind nur Verweise darauf, dass da etwas ungeklärt ist und bleiben muss. Das ist ja das, was die psychische Energie ausmacht. Wenn ich ausrechnen könnte, wie Sie ticken, würde ich sehr schnell das Interesse an Ihnen verlieren. Aber so, wo ich jederzeit damit rechnen müsste, dass Sie völlig abweichend reagieren, dass ich gar nicht verstehen kann, was Sie sagen, wird mein Bemühen um Sie angeregt. Das heißt, wir verständigen uns ja gerade im Hinblick darauf, was wir nicht verstehen können, nicht eindeutig festlegen können, nicht eindeutig bestimmen können. Lernt endlich, dass nur wirklich ist, worauf wir mit unserem Mutwillen keinen Einfluss haben, dann seid ihr realistisch trainiert.

Timm: Herr Brock, ich bedanke mich und reagiere jetzt ganz berechenbar, wenn ich mich bei Ihnen bedanke – bei Bazon Brock, dem, ich sag mal, Fachmann für ungewöhnliche Fragestellungen. Und ich sprach mit ihm über das Unberechenbare, über die schwarzen Löcher im Leben. Herzlichen Dank für den Besuch im Studio!

Brock: Danke!